Von Christian Künne

Der Blutregen perlte am Lichtstreifen, der an der Kreuzung zweier Gassen angeklebt war. Ich betrachtete die sich absetzenden Tropfen, die zögerlich über die Lichtfläche schlierten und so das Licht brachen. Nicht, dass der Lichtstreifen die Dunkelheit groß vertrieben hätte. Die Stadt war stets dunkel. Immernacht, sie trug den Namen nicht ohne Grund.

Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf den Regen. Die prasselnden Geräusche, sein Auftreffen auf meinem Körper. Ich spürte ihn nicht, diesen roten Regen, blutgeschwängert. Ich spürte ihn nicht, ich roch ihn nicht, ich schmeckte ihn nicht. Und ohne den Lichtstreifen hätte ich ihn nicht gesehen.

Die Augen wieder geöffnet, wanderte mein Blick weiter nach oben, entließ den Lichtstreifen aus meiner Aufmerksamkeit, und ich starrte in die Dunkelheit, die den Himmel bildete. Die nie ausregnende Wolke, tief, drohend, schwarz. Was sich darüber befinden mochte? Das wahre Licht, war es erloschen? Es war nur noch ein Gerücht, keiner kannte es mehr.

„Hey du!“ Für einen kurzen Moment dachte ich, die Wolke sprach zu mir, oder vielleicht der Regen. Aber das konnten sie nicht.

„Hey du!“ Die Stadt konnte sprechen, aber ihr Ton war ein anderer. Immernacht war ein pulsierender Kreislauf des Lebens, des dunklen Lebens, und ihre Stimme war meistens der Tod. Sie verschluckte zuerst alle Schatten und dann diejenigen, die sie warfen.

„Hey!“ Jemand packte mich am Arm und riss mich herum. Ich stürzte nicht, sah nur auf den Störenfried, sah das Messer in seiner Hand, die tumben Augen, das leichte Zittern.

„Deine Chips!“, forderte er und fuchtelte mit dem Messer.

Ich betrachtete ihn eingehender, den dürren Körper, die blasse Haut. Der Lichtstrafen brach ihn auf, sein schmaler Schatten wurde an die Wand geworfen. Der Schatten des Messers war nicht mehr als ein langes Stöckchen, schwarz und bedeutungslos.

„Du bist verzerrt“, sagte ich. „Dein Schatten ist verzerrt.“ Er war nicht schön, der Schatten, und nur mit Mühe unterdrückte ich meine Enttäuschung.

„Hey …“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, machte einen halben Schritt auf mich zu, um ihn wieder zurück zu gehen. „Deine … deine …“ Er deutete wahllos auf eine Stelle meines grauen Überhangs, rot verregnet.

Ich schüttelte leicht den Kopf. „Die Chips sind hier.“ Meine rechte Hand schlug leicht gegen die rechte Hosentasche. Die schwarzen, schattenlosen Pokerchips, die Währung Immernachts, neben dem roten Blut.

„Gut, dann …“ Er fuchtelte wieder mit dem Messer und ich schüttelte erneut den Kopf.

„Lässt sich dein Schatten entzerren? Dann gebe ich dir die Chips.“ Ich sah von seinem Gesicht wieder auf seinen Schatten. Er war noch dünner, in dem Winkel, in dem ich nun vor ihm stand. Verzerrt, kantig – da war nichts mehr zu entzerren.

Stumm schüttelte ich erneut den Kopf. Tränen traten mir in die Augen. Die Suche war so anstrengend, so aufreibend. Durch die schattenlose Dunkelheit der immer dunklen Stadt zu streifen, angezogen von jeder Lichtquelle, der graue Umhang rotnass am Körper klebend. Der Blutregen spülte alles hinfort, die guten wie die schlechten Dinge. Aber vor allem die guten Schatten.

Mein Gegenüber wusste offenbar nicht so recht, was er tun sollte. Er starrte mich an, hob das Messer, öffnete die andere Hand, schloss sie wieder. „Chips“, zischte er so leise, dass es im Regenprasseln fast unterging.

„Nein. Dein Schatten ist wertlos.“ Ich trat auf ihn zu und bevor er mit dem Messer einen Stich setzen konnte, schlug ich die Klinge beiseite, griff seinen Arm und brach ihn mit gezielten Schlägen an zwei Stellen.

Es dauerte einen Moment, bis sein Gehirn die Schmerzen registrierte und er den Mund zu einem Schrei öffnete. Bevor er hervordringen konnte, zertrümmerte ich ihm mit einem weiteren Schlag den Kehlkopf. Röchelnd fiel er zu Boden, zog seinen Schatten mit, sodass dieser verschwand, aufgesogen vom Regenfilm. Verschwunden im nassen Rot, sein Besitzer bald folgend.

Ich beachtete den Gestürzten nicht weiter, schritt an ihm vorbei und weiter die Gasse entlang. Ruhig bewegte ich mich, zwang meinen Blick nach vorn, weg von dem Lichtstreifen, hin zur nächsten dunklen Ecke, hinter der – irgendwo – eine weitere Lichtquelle sein musste. Darauf hoffte ich. Nur sie zeigten mir die Schatten, nur sie zeigten mir die wenigen guten Schatten, die es in der dunklen Stadt noch gab, die ich brauchte, ersehnte, eintauschte.

Die nächste Gasse kreuzte und ich ging in sie hinein. Auf mittlerer Höhe war ein Licht. Kein Lichtstreifen, sondern eine altmodische Lampe, dessen Birne ein warmes, aber schwaches Licht unter dem Schirm absonderte und auf einen kleinen Bereich vor einer Tür warf.

So lange streifte ich schon durch die Stadt und entdeckte diesen Ort erst jetzt. Kein verperlter Regen brach das Licht, nur leichte, rötliche Dampfschwaden umschwebten es. Ein Lichtkegel mit scharfem Rand, die Abgrenzung klar kontrastiert.

Ich ging einige Schritte weiter und blieb dann mit etwas Abstand stehen, betrachtete das Licht eingehender und den Kreis, den es bildete. Genau passend wurde die Tür geöffnet und eine Person trat in den Lichtkegel. Die Tür fiel zu und ihr Schatten bildete sich auf ihr.

Das war er! Meine Nummer Zwölf! Der zwölfte Schatten meiner Sammlung, die sie komplettierte, fürs erste. Ein wundervoller Schatten, weich gezeichnet, und doch so deutlich, konturreich, von tiefer Schwärze, wunderbar formgewandt, wunderschön vom Besitzer gespiegelt.

Der Besitzer hatte mich noch nicht ausgemacht, suchte etwas in seinen Taschen und war deshalb vor der Tür verharrt. Daher rief ich ihn an: „Mein Herr! Würdet Ihr mir erlauben, einen Handel vorzuschlagen?“

Ich überwand die letzten Schritte Distanz und blieb gut sichtbar vor der Person stehen. Ein junger Mann, die Schultern bedrückt, die frühen Falten besorgt, die Augen stechend.

„Wer sind Sie?“, fragte er und trat einen Schritt zur Seite.

Sein Schatten bewegte sich mit und ich geriet in Verzückung. Oh, das wird mein bestes Exemplar!

„Ein großer Bewunderer Ihres Schattens.“ Ich deutete eine leichte Verbeugung an. „Gern würde ich Ihren Schatten in Besitz nehmen. Natürlich gegen einen gleichwertigen Tausch.“

Der Mann lachte auf, aber das störte mich nicht. Ich griff in meinen Überhang.

„Sie sind verrückt, Mann.“ Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Oder können Sie mir meine Sorgen abnehmen?“, fügte er spöttisch hinzu.

Ein Lächeln legte sich auf mein Gesicht. „Ist das ein Tausch? Der Verlust Ihrer Sorgen für Ihren Schatten?“

Der junge Mann lachte und zuckte dann mit den Schultern. „Klar, warum nicht?“

„Dann ist es besiegelt. Vielen Dank“, sagte ich und verbeugte mich erneut.

Diesen Schatten konnte Immernacht nicht mehr verschlingen. Ich trat vor, mein Wesen löschte das Licht über uns, dann nahm ich ihm die Sorgen und den Schatten.

 

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