Von Karina Hentges

„Haben Sie Angst vor der Dunkelheit?“

„Wenn wir von Dunkelheit sprechen, von wie dunkel reden wir dann?“

„Stockfinster. Sie können nichts mit bloßem Auge erkennen.“

„Verstehe. Dann nicht.“ Veras Blicke bohrten sich in das Klemmbrett von Frau Hauptner. Sie notierte etwas.

 

„Was notieren Sie da?“

„Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen darf.“

„Was schreiben Sie denn die ganze Zeit auf, ich sage doch gar nichts Wichtiges, ich…“

„Bitte.“ Frau Hauptners Stimme und ihr Blick beendeten Veras Satz, noch bevor Vera ihn in Gedanken beenden konnte. Augenrollend schlug sie das rechte über das linke Bein und überkreuzte ihre Arme vor dem Bauch. Das kurze Top war ein Fehler gewesen, die Speckfalte wölbte sich über den Jeansbund und grinste frech unter dem Saum des Tops hervor.

 

„Möchten Sie vielleicht einen Tee? Ich habe verschiedene, Grünen, Apfel-Minze-, Beruhigungstee…“

„Nein.“

„Sind Sie sicher? Die sind wirklich…“

„Ich habe eindeutig verneint, also lassen Sie mich in Ruhe.“ Veras Finger bohrten sich in die nackte Haut, die langen, blau lackierten Fingernägel hinterließen kleine Kratzer.

 

„Gut. Haben Sie in letzter Zeit Angst, alleine zu sein?“

„Ich bin alleine.“

„Ich meine, ob Sie Angst davor haben, dass Sie niemanden finden werden und deswegen alleine bleiben?“

„Ich bin alleine.“

„Werden Sie alleine bleiben?“

„Was meinen Sie wohl dazu?“
„Ich weiß es nicht, deswegen frage ich Sie…“

„Na also.“

Ein leiser Seufzer entwischte Frau Hauptners Mund. Vera funkelte sie an. Bald hatte sie sie soweit und sie würde die Sitzung abbrechen. Was hatte das denn für einen Sinn, selbst für eine hoch qualifizierte Psychotherapeutin? Wenn die Patientin nicht kooperierte. Pech gehabt.

 

Frau Hauptner warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir haben noch über 30 Minuten Zeit und ihre Eltern zahlen jede Sekunde davon. Was ist das für ein Gefühl, wenn die eignen Eltern wegen ihrem 20-jährigen Kind so viel Geld ausgeben müssen?“

Die Klinge in Frau Hauptners Stimme ließ Vera zusammenzucken. Taktikänderung. Bloß eine Taktikänderung. Nichts, auf das sie antworten müsste. Nichts, von dem sie sich provozieren lassen sollte.

„Wenn meine Eltern das gegen meinen Willen veranlassen, dann müssen sie auch dafür blechen.“

Frau Hauptner notierte etwas auf ihrem Klemmbrett. Wolken zogen sich vor dem Fenster zusammen und nur wenige Minuten später ließ der April dicke Tränen auf die Erde fallen. Der helle Nachmittag verwandelte sich in einen dunklen Frühabend. Auf der Straße wurden große Regenschirme geöffnet oder sich Kapuzen über die Köpfe gezogen.

„Und wie sieht es mit dem Studium aus? Dafür blechen Ihre Eltern doch auch?“

„Das Beste, in das man investieren kann, ist in die Bildung seines Kindes.“
„Könnten Sie Ihre Eltern nicht dabei unterstützen, indem Sie ein Semester bestehen oder arbeiten gehen?“
„Könnten Sie nicht meine Eltern unterstützen, indem Sie die Therapiestunden absetzen?“ Das Ping-Pong-Gespräch fing an, Vera Spaß zu machen und das merkte Frau Hauptner. Sie notierte erneut etwas und sah Vera danach in die Augen. Keine weiteren Fragen.

 

Als das Licht ausging, fluchte die Therapeutin. Der Regen prasselte an die Fensterscheiben, unterstrich ihre Wut. Sie stand auf, entschuldigte sich und versuchte den Weg zwischen den Sesseln, Schreibtisch und Hocker aus dem Raum zu finden. Hoffentlich war der Hausmeister noch im Gebäude, die Sicherungen flogen in letzter Zeit zu häufig raus.

Als sie die Klinke der Holztür erreichte, griff sie nach dem Handy auf der Anrichte und öffnete die Taschenlampe. Der Lichtkegel zeigte ihr den Weg nach draußen, während sie die Tür hinter sich schloss und Vera im Zimmer zurückließ.

 

Als das Licht ausging, krallte sich seine Hand in Veras Nacken. Seine Fingerkuppen hinterließen schwarze Abdrücke auf ihrer Haut. Wie fühlt sich die Farbe Schwarz an?

Veras Augen hielten sich an dem Licht der Laterne, die die Situation durch das Zimmerfenster beobachtete, fest. Ein einziger Lichtkegel, einen Schatten auf das Bett werfend.

Seine Lippen küssten ihren Hals, während sich die Finger in den Trägern ihres Kleides verhakten und sie nach unten zogen. Das Unterhemd verdeckte ihre kleinen Rundungen, dort wo heute der BH das bisschen Busen hielt. Schnell war der helle Blümchenstoff zerrissen. An der einen Stelle das Gänseblümchen genau in der Mitte zerteilt.

Seine Hände fanden den Weg über ihren Bauch, in dem Schokoriegel und Gummibärchen Zuflucht fanden. Jetzt wollten sie fliehen, doch das letzte Mal, als sie sich übergab, folgte die Hand als Schlag auf ihrer Wange. Es war einfacher, still zu sitzen und sich nicht zu bewegen, nichts zu sagen, nichts aus dem Mund kommen zu lassen, vor allem keine Kotze. Ihre Finger verkrampften sich in das Spannbetttuch auf ihrem Bett. Bärchen sah mit leeren Augen in ihre Richtung und sie erwiderte den Blick. Augen zu schließen war nicht erwünscht, obwohl er sie nicht anblickte, sondern nur seine Finger an ihrem Körper entlang sehen ließ. Sie saß vor ihm, während er sich seiner Kleider entledigte.

Das Licht der Glühbirne an der Decke wurde gelöscht. Das Gefühl der Anspannung und des Zitterns am ganzen Körper blieb, die Schreie, „halt doch still“ und „komm näher“ und „jetzt heul nicht“, die Ausdrücke, das Stöhnen. Bis irgendwann alles vorbei war. Bis nächste Woche erneut der Bruder ihrer Mutter auf sie aufpasste.

Keine blauen Flecke.

Kein Rest der Tränen auf den roten Wangen.

„Unser kleines Geheimnis.“

Kleine Risse fingen an, ihre Seele zu durchziehen, die sich später auf ihren Armen wiederspiegelten. Was hat das Kind? Das ist deine Schuld, nein, das ist deine Schuld, du musst dich um sie kümmern, nein du, du bist ja nie da, wie denn ich, ich bin auf Dienstreise, weg, aber ich hab sie lieb, sie ist doch mein Kind, ich liebe sie, das ist deine Schuld, Schuld, Schuld, ich glaube es nicht, jetzt tu doch was.

Rede mit jemandem, aber nicht mit uns.

 

Als das Licht im Zimmer wieder anging, sah Vera nur den Schein der Straßenlaterne vor dem Fenster. In der ganzen Stadt waren es die gleichen Formen.

 

„Entschuldigung, das passiert in letzter Zeit ständig. “Frau Hauptner kehrte zu ihrem Sessel zurück und nahm ihre bekannte Position ein. Das Klemmbrett auf ihrem Schoß, den Kugelschreiber in der rechten Hand, bereit, jedes Gefühl mit einem Nomen zu benennen.

„Vera, ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Vera, warum weinen Sie?“

„Vera, antworten Sie doch!“

Eine Träne nach der anderen floss an ihren Wangen hinunter. Die Wimperntusche hinterließ lange Linien auf dem Gesicht.

Frau Hauptner setzte langsam zuerst den rechten, dann den linken Fuß auf den dunkelblauen Teppich. Sie stand auf, steuerte auf den kleinen Tisch neben Vera hin und griff nach einer Schachtel Taschentücher. Fast geräuschlos setzte sie sich neben Vera auf die Couch und lockerte ein Taschentuch aus der Schachtel. Dann hielt sie die Schachtel Vera hin. Als sie es nach einigen Sekunden griff, musste Vera keinerlei Kraft aufwenden. Sie behielt es in der Hand.

Ebenso langsam wie sie gekommen war, machte sich Frau Hauptner wieder auf den Weg zu ihrem Sessel zurück. Das Klemmbrett lag auf dem Boden.

„Wenn Sie soweit sind, machen wir weiter.“ Vera sah weiterhin durch sie hindurch.

„Geben Sie mir ein Zeichen, wenn Sie doch einen Tee brauchen.“

Vera verstand nicht, was diese Frau mit ihrem Tee hatte. Vera trank nur Kaffee. Schwarz. Ihre Finger umklammerten das Papierknäul so sehr, dass weiße Knochen an der Hand hervorstarrten.

Nach einer Viertelstunde gab Frau Hauptner auf. „Vera? Vielleicht wäre es doch besser, wenn wir die Sitzung verschieben und Sie morgen wiederkommen würden? Was meinen Sie dazu?“

„Können Sie mich duzen?“

Frau Hauptner erstarrte, als hätte Vera ihr eine Ohrfeige verpasst. Die Augen fest auf das Papierknäul gelenkt sah Frau Hauptner auf den Kopf, bedeckt mit einem blonden Haarvorhang.

„Aber natürlich kann ich das machen. Wenn du dich damit wohler fühlst.“ Leise tappten die Worte aus dem Mund der Therapeutin. Veras Kopf nickte ein wenig.

„Ich rufe jemanden an, der dich abholt, in Ordnung?“ Der Kopf nickte erneut. Frau Hauptner hob das Klemmbrett auf und legte es auf den Wohnzimmertisch neben ihrem Wasserglas. Veras Hand lockerte sich und das Taschentuch konnte aufatmen.

Der April ließ dicke Tropfen vor dem Fenster auf Schirme und Kapuzen fallen. Genau wie vor sechzehn Jahren, als würde er versuchen, die Risse in des Kindes Seele mit Regen zu versiegeln.

Wenn seine Arbeit getan war, würde er die Sonne scheinen lassen.

 

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