Von Raina Bodyk

„Papaaa! Lass mich raus!“ Florian hört nur sich entfernende Schritte.

„Mach das Licht an! Ich hab‘ Angst im Dunkeln“ fleht die kindliche Stimme zitternd.

 

Nur die Stille dröhnt in seinen Ohren.

 

Das winzige, schmutzige Fenster mit dem Gitter lässt kaum Helligkeit herein. Seine Augen sehen nur verschwommene Schemen.

Warum ist Papa nur so gemein?! Ich hab‘ doch bloß das Glas Milch umgestoßen. Das war nicht mit Absicht! Immer hackt er auf mir rum. Ohne Grund!

Ich hasse den Kohlenkeller. Und die Mäuse auch, die überall rumrascheln. Haut ab! Dauernd lassen sie die Kohlen rutschen. Ob sie Lawinen auslösen und mich verschütten können? Mama sagt ‚nein‘. Aber wenn doch? Ich will hier raaaus!

Bestimmt gibt’s hier auch diese fiesen, dicken Ratten. Die knabbern Menschen an und machen sie so schlimm krank, dass sie sterben. Ich will nicht sterben!

Die niedrigen, schwarzen Wände kommen immer näher. Florians Herz rast, als wolle es ihm aus der Brust springen. Oh je, jetzt hat er sich auch noch in die Hose gemacht. Verzweifelt und voll Scham beginnt er zu schluchzen.

 

„Mamaaa!“

 

Iiiih, mein Arm! Da kriecht was! 

Was, wenn das eine Kreuzspinne ist?! Die ist giftig. Wenn die zubeißt, ist man tot, hat der Toni gesagt.

Heftig streicht Florian über die nackte Haut an Armen und Beinen, schüttelt sich voll Ekel. Nur daran zu denken, schnürt ihm die Luft ab. Mit weichen Knien sinkt er auf den dreckigen Boden.

Mama kommt wieder nicht. Sie kommt nie. Sie fürchtet sich zu doll vor Papa, weil der sie verprügelt. Immer, wenn er in der Kneipe war. Wenn ich groß bin, dann haue ich mit ihr ab, ganz weit weg. Aber erst sperre ich Papa hier ein!

„Mama!“

 

** 

 

Siebzig Jahre später

 

Die beiden Psychiater Dr. Dilling und Dr. Meyn stehen nachdenklich am Klinikfenster. Sie beobachten einen langsam vor sich hin schlurfenden Patienten, den ein Schleier von Einsamkeit zu umgeben scheint und der mit seinen mageren Armen wild in der Luft herum gestikuliert.

Dr. Meyn seufzt: „Guck, da spricht Florian wieder mit seinen Dämonen. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Als Kind die Misshandlungen durch den Vater, dann die Angst vor seiner Lebensgefährtin Klara. Seit ihrem schrecklichen Tod ist er nicht mehr der Alte. Ich habe gestern die Medikation verändert, ich kann nur hoffen, dass sie anschlägt.“

„Immerhin hat man ihn nicht als Mörder verurteilt. Dein Gutachten hat ihm sehr geholfen.“

Sein Freund nickt, ebenfalls betrübt: „Gottseidank gab es keine Fingerabdrücke von ihm auf der Tasse. Ich glaube nicht, dass er zu so einer grausamen Tat fähig wäre, er ist ein sehr friedlicher Mensch. Obwohl – sicher sein kann man sich nie, wie unser Beruf uns ja immer wieder lehrt. Die Vergangenheit Klaras hat natürlich auch eine Rolle bei der Beurteilung gespielt.“

„Die Geschichte ist dermaßen verrückt, dass sie mir kaum in den Kopf will! Dein Patient erfährt, dass seine geliebte Klara vor einigen Jahren ihre Nachbarin umgebracht hat. Daraufhin nimmt sein Verfolgungswahn riesige Ausmaße an. Aus Angst, er könnte das nächste Opfer sein, vertauscht er sicherheitshalber tagelang seine abendliche Tasse Kaffee mit ihrer, sie könnte ja Gift enthalten. Seine Freundin kriegt das mit und will ihn für sein mangelndes Vertrauen in sie bestrafen. Sie besorgt sich Gift, kippt das Zeug in die eigene Tasse und verlässt sich darauf, dass er sie wieder auswechselt.“

„Tja, das hätte er normalerwiese wohl auch getan. Aber an dem Morgen war er bei mir in der Sprechstunde und ich habe ihm noch einmal klar zu machen versucht, dass das, was er sich Bedrohliches in seinem Kopf vorstellt, nicht real ist. Anscheinend hat er sich meine Worte zu Herzen genommen und den Kaffee nicht ausgewechselt. Klara ist in die eigene Falle gegangen.“

„Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man glatt darüber lachen!“

 

**

 

Florian geht nicht mehr gern ins Bett. Wenn er das Licht ausmacht, hat er das unheimliche Gefühl, Klara liege noch neben ihm. Fühlt die Kälte, die von ihrem Körper ausgeht, ebenso wie ihre Stärke. Es ist ein Alptraum, der ihn nicht mehr loslässt. Er kann nur noch einschlafen, wenn die Lampe brennt.

Aber auch die Helligkeit vertreibt nicht ihre vorwurfsvolle Stimme, die ihm pausenlos ihre Anklagen in die Ohren kreischt. Sie überlagert sogar die johlenden Stimmen seiner anderen Dämonen. Er hat das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Immer brüllt, zetert, keift es in seinem Kopf. Schläft er endlich, sucht sie ihn sogar noch in seinen Träumen heim.

Nie herrscht Ruhe. Er wünscht sich so sehr nur ein kleines bisschen Stille. Ist das zu viel verlangt?

Hoffentlich helfen die neuen Tabletten.

‚Das ist ja wieder typisch für dich, Flori. Immer hörst du auf die falschen Leute. Der Arzt will an dir nur Geld verdienen, du glaubst doch nicht, dass der dich heilen will?!  Ich habe mich immer um dich gekümmert, auf dich aufgepasst, alles für dich getan. Das tue ich auch weiterhin. Nimm die Pillen nicht, dein Arzt will dich nur kränker machen, damit du ihm noch mehr einbringst. Er ist böse.‘

„Sei doch endlich still! Du bist tot! Und daran bist du selbst schuld“, fleht der verzweifelte Mann. Er fühlt sich vollkommen ausgeliefert.

‚Waaas? Bist du noch bei Verstand? Du hast die Tasse mit dem Gift doch absichtlich vor mir stehen lassen! Du wolltest mich loswerden. Ich wollte immer nur dein Bestes!‘

Er hält sich die Ohren zu, aber es nützt nichts. Die Stimmen sind zu laut. Seine inneren Dämonen lachen und intonieren voll Schadenfreude: „Sie will ja nur dein Bestes! Der Doktor ist böse, böse.‘

 

**

 

Dr. Meyn gesteht dem Kollegen: „Ich bin langsam mit meiner Weisheit am Ende. Was soll ich nur mit Florian machen? Alle seine Geister aus der Vergangenheit sind wieder da, dazu noch seine Klara. Er wird immer in sich gekehrter, traut sich kaum nach draußen, weil er überall Verfolger wittert. Er vertraut auch mir nicht mehr. Er schaut mich immer ganz misstrauisch an, wenn ich mich nach seinem Befinden erkundige. Als ob ich ihn vergiften wollte! Ich bin ziemlich sicher, dass er seine Tabletten nicht nimmt. Anders kann ich mir sein Verhalten nicht erklären.“

Dr. Ditting weiß, wie sehr gerade dieser Patient seinem Freund am Herzen liegt: „Tja, dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als dir eine richterliche Genehmigung zu besorgen, damit wir ihm die Medikamente auch gegen seinen Willen zuführen können, im Essen oder mit Spritze.“

„Ja, ich habe das schon in die Wege geleitet. Obwohl ich diesen Eingriff in die persönliche Freiheit eines Patienten nicht mag. Nur in diesem Falle … Florian ist psychisch so fertig, er ist gar nicht mehr in der Lage, selbst die für ihn wichtigen, gesundheitlichen Entscheidungen zu treffen.“

 

**

 

Florian sitzt am Abend des nächsten Tages in seinem Zimmer, hat Kopfhörer auf und den Fernseher ganz laut aufgedreht. Heute ist das lärmende Chaos in seinem Kopf besonders erbarmungslos. Den ganzen Tag schon quälen ihn seine Dämonen ohne Unterlass, geben einfach keine Ruhe. Er kann sich noch so oft die Hände auf die Ohren drücken oder den Kopf gegen die Tür schlagen. Außer einer Beule hat es nichts gebracht.

Plötzlich schreckt er alarmiert hoch. Das Licht hat angefangen zu flackern. Nein, nicht auch das noch!

Dann Finsternis.

Schlotternd vor Angst, mit einem üblen Gefühl im Magen, tastet er sich, so schnell er kann, durch die bedrohliche Dunkelheit zur Tür.

Raus, nur raus!

Ich hab‘ Angst im Dunkeln!

Draußen ist alles wie in dichten Nebel gehüllt. Die Fenster der Patienten grinsen als schwarze Löcher aus grauen Mauern, die Laternen sind erloschen. Der Park ist nur von einem blassen Mond spärlich beleuchtet. Bäume und Sträucher werfen ihre gespenstischen Schatten.

‚Flori, ich bin bei dir! Hab‘ keine Angst! Komm zu mir, fasse meine Hand, ich nehme dich mit.‘

„Verschwinde endlich, Klara. Du bist tot! Willst du mich doch noch umbringen? Mich kriegst du nicht!“

 

Nein!

Neiiin!

Wie ist das möglich?

Da!

 

Da geht sie. Direkt vor ihm taucht sie vor den verschleierten Umrissen der Rhododendronbüsche auf. Klara!

„Klara!“

 

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Süddeutsche Zeitung – 20. April 2019

 

Wie soeben von der Polizei bestätigt wurde, ereignete sich gestern Abend während des einstündigen Stromausfalls in K. ein tragischer Vorfall in der dortigen Psychiatrie. Ein offensichtlich verwirrter Mann stürzte sich aus bisher unbekannten Gründen auf eine spazierengehende Mitpatientin und würgte sie. Nur dem entschlossenen Einschreiten eines Pflegers ist es zu verdanken, dass die Frau mit dem Leben davongekommen ist. Die Klinik äußerte sich bisher nicht zu dem Geschehen.

 

**

 

Dr. Meyn schüttelt traurig den Kopf: „Gerade ist die richterliche Erlaubnis eingegangen. Wäre sie gestern gekommen und ich hätte Florian gleich behandelt, wäre diese schreckliche Tat vielleicht nie passiert.“

„Ja, es ist tragisch. Wie geht es ihm denn jetzt?“, fragt Dr. Ditting.

„Es ist unglaublich! Ich habe gerade mit ihm gesprochen. Er wirkt so vollkommen friedlich. Wie erlöst! Er erinnert sich nicht an die Nacht. Er hat mich einfach angelächelt und gesagt: ‚Alles ist gut.‘“

„Na ja, gut?“

„Ich glaube, das Traumatische seines plötzlichen Gewaltausbruchs hat eine klassische, dissoziative Amnesie zur Folge gehabt. Wie aus dem Lehrbuch! Sein Stress muss so gewaltig gewesen sein, dass sein Hirn die Erinnerung verweigert. Ich frage mich nur, was diese extreme Tat verursacht haben kann. Das letzte, an das Florian sich entsinnen kann, ist der Beginn seiner Beziehung zu Klara. Er kann wieder positiv an sie denken, als Geliebte, nicht als Mörderin.“

 

**

 

Florian buddelt leise pfeifend in der Erde. Dr. Meyn hat ihm ein Beet, das er ganz nach seinem Geschmack bepflanzen darf, überlassen. Der Doc hat gemeint, es würde ihm guttun. Er hat rechtgehabt, denkt Florian glücklich. Liebevoll setzt er fleißige Lieschen in weiß, rot und rosa in die ausgehobenen Löcher.

 

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Sein Arzt stellt erfreut fest: „Sieh mal, Kollege, wieviel Spaß mein Kummerkind mit seinem Garten hat.“

„Was gräbt er da ein? Fleißige Lieschen?“

„Aber nicht doch! Das sind seine ‚fleißigen Klärchen, wie er sie liebevoll nennt!‘“