Von Felicitas Jacobs

Katja steckte ihren Brief in den Umschlag, den sie an der Rezeption freundlicherweise ohne Aufpreis erhalten hatte, und warf ihn in den Hausbriefkasten der Klinik für Psychosomatik und Orthopädie. Daneben ein Schild: Ihre Genesung und Ihr Wohlbefinden liegen uns am Herzen. Sprechen Sie uns an. Wir sind für Sie da. 

Mal sehen, seufzte Katja. Ihr war ein Zimmer neben den auch bis spät in die Nacht arbeitenden Fahrstühlen zugewiesen worden. Das Bett vibrierte jedes Mal, wenn die stählernen Türen sich mit dumpf scharrenden Geräuschen öffneten und schlossen. Kein Zimmer für eine Peron mit nervösen Schlafstörungen, wie sie fand.

Ihr Blick schweifte über die Empfangshalle. Menschen kamen und gingen in stetem Fluss, fast alle in Trainingskleidung. Viele mit Rollator oder Krücken, die sich langsam und vorsichtig bewegten. Um die Hälse baumelten Stofftaschen, weiß und mit dem Emblem der Klinik versehen. Wie Kängurus, dachte Katja und unterdrückte ein Lachen. Die Ausbuchtungen in den Beuteln ließen ahnen, was darin lag: der schwere Zimmerschlüssel, das Therapieheft, die kleine Wasserflasche. 

Draußen stieg der Mond hinter einer winterkahlen Baumreihe hoch. 

Eine junge Frau stand plötzlich in seinem Schein wie in einem Gemälde und wandte sich suchend nach hier und dort, ohne jemanden anzusprechen. Ihre Sportkleidung leuchtete neonfarben, ein paillettenbesetztes Haarband und goldene Sneaker rundeten das Bild einer auffälligen jungen Frau ab, die aus der Funktionskleidung der anderen herausstach. Plötzlich stürzte sie völlig unvermittelt auf Katja zu. Noch bevor sie die Flucht hätte ergreifen können, blickte Katja in ein gerötetes Gesicht, so nah, dass sie ein süßes Shampoo riechen konnte. Dunkel geschminkte Augen fixierten sie unter einem dichten Pony schwarzer Haare. 

„Sie müssen mir helfen“, stieß die junge Frau mit gepresster Stimme hervor. „Bitte“, fügte sie hinzu, als Katja unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. „Bitte“, wiederholte sie etwas lauter und zerrte sie mit hartem Griff am Oberarm zum Treppenhaus, Katja blieb nichts übrig als zu folgen, wenn sie keine Aufmerksamkeit wecken wollte. 

„Hier.“ Im dritten Stock öffnete Schwarzpony ihre Zimmertür mit zitternden Händen. Kurz blickte sie den leeren Flur hinunter, dann zog sie Katja mit einer ruckartigen Bewegung hinein. „Hey“, entfuhr es Katja, als lange Fingernägel schmerzhaft in ihrem Oberarm krallten. Eine Mischung aus Ärger und Neugier stieg in ihr hoch, und sie streifte die Hand der anderen energisch ab. 

Dann sah sie sich um. Auf dem Bett entdeckte sie mehrere Säcke Toilettenpapier, weiß bestäubt, von einer pudrigen Schneeschicht überzogen. Unwillkürlich beugte Katja sich näher heran: In einer XL Recycling-Tasche am Ende des Bettes stapelten sich Mehltüten, Type 405. Eine Tüte hatte einen Riss. „Das ist alles meins“, hörte sie Schwarzpony flüstern. 

„Aha“, murmelte Katja, als ob jetzt irgendwas geklärt sei. 

Ihre Aufmerksamkeit schnellte plötzlich auf hundert. Sie sah Staub im Sonnenlicht flirren, hörte den Wind rauschen hinter dem halb geöffneten Fenster, bemerkte ein pinkfarbenes Nachthemd neben einem Kissen, ebenfalls von Mehl bestäubt. Auf der Kommode Bonbontüten, mindestens zwanzig, wie sie unwillkürlich überschlug. Ein Mondstrahl kämpfte sich durch Wolkenbänke und streifte golden einen Karton. Taschentücher. Waschmaschinenfest, las Katja Was um Himmels Willen tat sie hier?

„Das Problem ist die Menge“. Katja schrak zusammen, als sie den Satz dicht an ihrem Ohr vernahm. „Die Menge?“, fragte sie und kam sich dümmlich vor.

„Ja“, flüsterte Schwarzpony. „Ich habe täglich etwas besorgt in den letzten zwei Wochen. Schlau, nicht?“ Sie lächelte verschmitzt. Doch schnell sanken ihre Mundwinkel wieder nach unten. 

„Aber inzwischen ist es so viel, dass ich es nicht mehr schaffe, alles vor dem Reinigungsdienst zu verstecken. Sehen Sie selbst: Wohin damit?“ 

Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf Mehl und Toilettenpapier. 

„Ja. Ich seh’s“, antwortete Katja und dachte fieberhaft nach. Sie musste Zeit gewinnen. 

„Entschuldigung, ich muss jetzt ins Bett, Morgen nach dem Frühsport helfe ich Ihnen…“ Katja wandte sich vorsichtig zur Tür und schnappte nach Luft, als Schwarzpony sie mit einer heftigen Bewegung auf das Bett stieß, wo sie sich zwischen zwei Kartons wiederfand. 

„Verdammt, was wollen Sie?“ stieß Katja hervor.

„Ich will, dass Sie mir helfen, das Zeug wegzuschaffen. In sechs Tagen ist meine REHA vorbei. Bis dahin muss ich alles verschwinden lassen.“

„Aber warum denn?“ 

Schwarzpony sah sie mitleidig an.

„Wenn Sie die Zeichen der Zeit noch nicht verstanden haben, dann tun Sie mir leid.“

Katja sah Schwarzpony in die schwarz geschminkten Augen. „Corona? Ernsthaft?“

„Ich brauche das alles zu Hause. Dringend.“ zischte Schwarzpony. „Aber ich habe kein Auto. Und morgen früh kommen die Putzfrauen. Die werden das Zeug melden, und ich muss alles abgeben. Die Reha beenden. Dann ist mein Job futsch.“

Katja atmete tief durch. „Ich kann Sie zum Psychologen bringen, der wird Ihr Problem…“ „Mein Problem?“ Schwarzpony stellte sich mit verschränkten Armen vor die Tür. 

„Wenn ich das alles richtig verstehe, ist Corona unser aller Problem. Oder? Sie sind doch so eine von den Sozialen. Deswegen hab‘ ich Sie ausgesucht.“

Katja starrte sie an. Was sollte sie tun? Ihr Handy lag im Zimmer. Sie könnte laut rufen, aber die Zimmertüren und Wände waren erstaunlich dick. Außerdem war es für Klinikverhältnisse schon spät, bestimmt schliefen alle. Plötzlich sah sie, wie das Kinn von Schwarzpony zu zittern begannen. Dann hörte sie ein Schluchzen.

„Bitte. Bitte! Es ist so viel und trotzdem nicht genug. Und dabei habe ich noch nicht einmal Nudeln bekommen. Bitte, helfen Sie mir…“

„Aber wobei? Wobei soll ich Ihnen helfen? Wofür brauchen Sie all das Mehl? Nudeln? Hier in der Klinik gibt es drei üppige Mahlzeiten am Tag…“

Schwarzpony weinte jetzt hemmungslos. Katja wurde es heiß. Sie lockerte ihre Trainingsjacke am Hals. „Ich brauche…zu Hause…die Kinder… mein Mann“, schluchzte Schwarzpony. Unvermittelt hielt sie inne, presste die Lippen aufeinander und starrte Katja unverwandt an. „Okay“, stieß sie plötzlich hervor. „Dann halt nicht.“

Ebenso kräftig, wie sie Katja ins Zimmer gezerrt hatte, stieß Schwarzpony ihre unfreiwillige Besucherin wieder nach draußen. Katja hörte die Tür mit einem leisen Plopp ins Schloss fallen und starrte für einen kurzen Moment verwirrt auf die Zimmernummer 329. 

Dann ging sie. 

Erstaunlicherweise schlief sie schnell ein, traumlos und tief, fast wie betäubt. Irgendwann wachte sie vom vertrauten Schnarren der Fahrstuhltüren auf und sah auf die Uhr. Drei Uhr dreißig. Wer fuhr um diese Zeit? Und wohin? Sie tappte zum Fenster und schob die Gardine zur Seite. Draußen jagten tiefhängende Wolken den Mond in kurzen, wilden Abständen, fahle Helligkeit flackerte über Büsche, Parkplatz und Raucherpavillon. 

Ausgerechnet in dem Augenblick, als alles Licht von einer riesigen Wolkenbank geschluckt wurde, da sah sie es: Ein kleiner Lichtkegel tanzte vor der Klinik und erhellte schwach die nächste Umgebung. 

Katja erkannte sofort Schwarzpony, die geduckt, mit zwei Einkaufstaschen und einem überdimensional großen Rucksack über den Platz taumelte. Die Toilettenpapier Säcke ragten aus den Taschen, und in der Rucksacköffnung erkannte sie die Mehltüten. Schwer beladen wankte Schwarzpony zum Parkplatz, bis sie zusammen mit dem auf und ab hüpfenden Licht ihrer Taschenlampe hinter den Autos auf der Straße verschwunden war. 

Katja schlief nicht mehr, sondern erwartete den nächsten Tag ratlos, wach und unruhig. Wohin war Schwarzpony gegangen? Und warum mitten in der Nacht? Hätte sie ihr helfen sollen? Aber wie?

Am Morgen fand sie auf dem Weg in den Speisesaal zwei Bonbontüten. Im dritten Stock entdeckte sie weiß gepuderte Flecken auf dem Boden, eine Spur führte zum Zimmer 329. Auf einem Fensterbrett stand ein Paket Mehl, am Reinigungswagen unterhielten sich leise zwei Frauen vom Personal. Als KATJA an ihnen vorbeiging, hörte sie Satzfetzen: „Corona…traurige Frau…arm dran…niemand weiß…“

Ja, dachte Katja. Niemand weiß.

Den Tag verbrachte sie mit ihrem verordneten Reha Programm. Nordic Walking, Konfliktgruppe, Stressbewältigung. Doch ihre Gedanken kreisten wie ein Mückenschwarm um die Geschehnisse der letzten Nacht. Erst ein Dialog von zwei Frauen in der Warteschlange beim Abendbuffet weckte ihre konzentrierte Aufmerksamkeit.  

„Habt ihr schon gehört?“ flüsterte eine große Blonde vor ihr, während sie Quark in ein Schälchen löffelte. „Die kleine Elfie hat hier alles abgebrochen. Sie wurde am Bahnhof gefunden, zusammengeschlagen. Liegt jetzt im Krankenhaus.“

„Welche Elfie?“ fragte eine kleine, schlanke Frau, ebenfalls mit gedämpfter Stimme.

„Die junge Frau aus Zimmer 329. War wegen Arbeitsunfall hier. Orthopädie.“

„Die Aufgetakelte? Die nie geredet hat?“

„Ja, die. Aber das ist nicht alles. Sie hatte bergeweise Mehl und Klopapier gehortet.“

„Wirklich?“

„Ja. Ein Zeuge gibt an, dass ein Mann ihr alles geklaut hat, direkt auf dem menschenleeren Bahnsteig. Hamstern wegen Corona, du verstehst? Sie hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Der Zeuge konnte Schlimmeres verhindern und hat die Polizei alarmiert. Der Mann mit dem Mehl und Klopapier ist flüchtig. Und Elfie muss wohl noch eine Weile im Krankenhaus bleiben. Die Arme…“

„Na ja. Schon verrückt. Toilettenpapier…Mehl…und das ausgerechnet hier…

„Tja. Jetzt liegt sie in der Ambulanz. Gips überall, sagt mein Freund, Pfleger dort. Sie hat ihm viel erzählt unter dem Einfluss der Schmerzmittel. Das Zeug macht Plauderlaune…“ 

Die beiden Frauen lachten.

„Hier? Im städtischen Krankenhaus?“ fragte Katja unvermittelt. 

Die große Blonde und ihre grauhaarige Freundin drehten sich zu ihr um.

„Ja?“, sagte die Blonde und sah Katja an.

„Ach. Ich würde sie gerne besuchen,“ hörte Katja sich sagen und packte Brot und Marmelade auf ihren Teller, ohne hochzuschauen. „Wir hatten uns kennengelernt. Angefreundet. Ein wenig.“

„Ach ja?“ sagte die Blonde. Und nach einer kleinen Weile, „Na dann…“