Von Bernd Kleber

Wenn ich den Duft von Winterlinde atme, füllt sich mein Herz mit vielen Erinnerungen. Lachen, Leben, Herzklopfen und Wehmut kommen mir in den Sinn. Dieser Duft, der so viele Gefühle bei mir verknüpft wie kein anderer lässt mich vor allem an ein Erlebnis denken, welches mich nachhaltig beeindruckt hat.
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In den Sommerferien blühten die Bäume der kleinen Altstadt noch, wenn ich drei Wochen bei meiner Großmutter verbrachte. Der Duft der Linden erfüllte die summende Luft.
Ein typischer Anger mit protestantischer Kirche, umgeben von märkischen Bauernhäusern und einigen Stadtvillen. An dieser Gemeindewiese lebte meine Oma in einem sehr kleinen Haus im Erdgeschoss. Das Gebäude, sein Hof und der dazugehörige Garten waren für mich wie ein Abenteuerspielplatz. Man betrat über den Hof das Haus vom Hintereingang. Der Boden des Hausflures war mit gelben wabenähnlichen Steingutfliesen belegt. Manche klapperten lose beim Betreten. Ein großer alter Bücherschrank bewachte einen ungenutzten Esstisch mit vier Stühlen. Auf dem Tisch lag eine Decke, die wie ein Teppich aussah und die Haut der unbekleideten Unterarme pikte. Neben der Eingangstür zur Wohnung meiner Oma stand ein Wäscheschrank, außerdem eine kleine Truhe. Unter dieser versteckte meine Großmutter einen Teller mit Wurst, die Butterdose und Kaffeesahne. Meine Omi meinte, auf diesem Fliesenboden sei es kalt wie in einem Eisschrank. Einen Kühlschrank hatte sie nicht. Fernseher, Waschmaschine und Herd besaß sie auch nicht. Oma kochte auf einer Doppelplatte und hantierte zusätzlich mit einer einzelnen elektrischen Schnellkochplatte.
Außerdem gab es von diesem großen Hausflur abgehend das Badezimmer für alle Bewohner gemeinsam, mein Badetag war samstags. Eine Waschküche mit zwei großen Kesseln und ein Plumpsklo, vor dem ich Respekt hatte waren ebenfalls Parterre. Die Dielung im Klo hatte einmal nachgegeben und meine Großmutter war eingebrochen. Abgesehen davon, dass sie tatsächlich schwere Prellungen davongetragen hatte, war sie zum Glück nicht hineingefallen. Mein Blick in diese tiefe Unendlichkeit, hatte mir später bei jeder Benutzung Bange gemacht.
Die Wohnung meiner Oma war gemütlich. Sie hatte ein Zimmer zur Straße und eine Küche, über die man ihre Wohnung betrat. Nachts betrat sie nie den Hausflur, schloss Küchentür und die schwere Zimmertür sorgfältig ab. Im Zimmer gab es ihr Bett, an der Straßenseite befanden sich zwei hohe Fenster. Zwischen ihnen protzte ein Nähschränkchen, auf dem Omas Radioapparat thronte, darauf ein gerahmtes Foto. Es zeigte mich als viel jüngeres Kind. Es machte mich stolz, mich so ausgestellt zu sehen.
Auf der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Anrichte, daneben die Couch, die mir nachts als Bett diente. Außerdem gab es ein Buffet und einen Kleiderschrank. Neben dem Sofa befand sich ein kleines Rauchtischchen mit Spitzendecke und ein schwerer Sessel direkt am Ofen.
Im oberen Geschoss wohnten ein Student und zwei alte Damen, Frau Hanl und Frau Friedrich. Beide Frauen begrüßten mich herzlich in jedem dieser Sommer. Heimlich steckte mir jede ein Fünf-Mark-Stück zu. Besonders gern brachte ich am Morgen die Zeitung Frau Hanl nach oben, die ein Zimmer mit Küche im Dach bewohnte. Wenn ich bei ihr klopfte, rief sie „Herein!“, und ich bekam ein Glas Milch. Sie erzählte Geschichten aus ihrer Vergangenheit, die genauso spannend waren, wie die meiner Oma. Ich liebte es, aus einer Zeit zu hören, die lange vergangen war. Wenn ich sie verließ, erhielt ich immer eine Belohnung, etwas zu naschen, fünfzig Pfennige oder ein altes Buch zum Lesen. Die Bücher schätzte ich sehr. So lernte ich Königin Luises Lebensgeschichte, Kästners Doppeltes Lottchen oder Reinecke Fuchs kennen. Die Bücher durfte ich alle behalten. Es waren wunderschöne Prachtausgaben mit Illustrationen.
Der Student, Herr Richter, war in diesem Haus ein Störkörper. Er veranstaltete laute Partys mit jungen Frauen. Ich lernte den Begriff Vielweiberei kennen und meine Großmutter sprach vom Teufel und Verführung, was mir ein flaues Gefühl im Magen machte. Wenn ich von oben Frauenstimmen kreischen hörte, lief ich schnell in Omas Küche. Dort war ich sicher.
Am Abend, um 19:30, machten Oma und ich uns für die Nacht fertig. Rituell. Immer um diese Zeit. Großmutter baute mein Bett und ließ die Jalousien herunter. Ein Oberlicht der beiden Fenster wurde geöffnet. „Dass Luft reinkommt!“ Dann schaltete sie das Radio ein. Dieses leuchtete warm und brummte leise. Ich wartete immer gespannt, wie lange es dauern würde, bis das Gerät endlich ein Geräusch produzierte.
Wir lagen beide unter unseren Bettdecken, eine Kerze schien auf dem Radio, um Strom zu sparen, und es erklang eine mir bekannte Melodie. Ewald Wenk verkündete: „Damals war´s! Geschichten aus dem alten Berlin.“ Hörspiele waren das, aufwendig produziert, mit berlinerischem Dialekt und schöner als jede Fernsehsendung zu dieser Zeit. An anderen Abenden gab es Quizsendungen, eine Musikwunschsendung mit Grüßen oder politischen Diskussionen. War die abendliche Radiosendung zu Ende, erhob sich meine Großmutter und löschte mit einer halben Walnussschale das Kerzenlicht.
Eine nirgends sonst erlebte Dunkelheit umgab mich dann magisch. Ich wedelte mit meiner Hand dicht vor den Augen, fühlte den Luftwiderstand in meinem Gesicht, konnte jedoch nichts sehen. Blitze zuckten durch mein Gesichtsfeld oder farbige Kreise pulsierten.
Wir plauderten in dieser nichts preisgebenden Blindheit. Ich fragte, ob meine Omi die Mücke im Raum hören würde, was sie verneinte. Ich fragte sie nach der Kindheit meiner Mutter. „Wie war Mutti in der Schule?“. Und sie erzählte.
Sie hatte auch ein großes Geschick, gruselige Dinge zu berichten. Ihr Aberglaube brachte die spannendsten Geschichten hervor. Sie erzählte von einem Kohlenstapel, der in der Nacht umgefallen war. Am nächsten Tag sei jemand aus der Verwandtschaft nicht wieder aufgewacht. Der Teufel hatte ihn geholt. Ich dachte dann an den Studenten im Dachgeschoss und zog die Decke bis unter die Nase.
Die nahe Turmuhr schlug alle viertel Stunde, die ganze Nacht. So konnte ich verfolgen, wie spät es war. Manchmal ermahnte Oma mich dann, jetzt endlich zu schlafen. Ich lauschte den Schritten auf dem Pflaster des Trottoirs vor den Fenstern. Ich unterschied weibliche Absatzschuhe von schlurfenden Betrunkenen. Besonders unheimlich war, wenn sich so ein Betrunkener von außen gegen die Jalousie lehnte und einschlief und an den Holzlamellen entlang schliff, wenn sich sein Oberkörper zur Seite neigte. Dann wisperte ich: „Omi, da sitzt wieder einer auf dem Fensterbrett!“. Sie erwiderte: „Hoffentlich übergibt der sich nicht auf unser Pflaster… schlaf weiter“. Was aber nur schwer gelang. Ich fragte dann: „Soll ich nicht einfach mal ans Fenster klopfen?“. Das verneinte sie und flüsterte, ich solle nun endlich still sein.
Mitten in jeder Nacht weckte sie mich, ich torkelte verschlafen zum Topf. Gähnend beobachtete ich die Schaumbildung im Nachtgeschirr. Die kleine Nachttischlampe beleuchtete alles unschuldig. Manchmal sagte ich ihr, ich würde durchschlafen und könne morgens auf die Toilette gehen, aber das wollte sie nicht.
In einer dieser Nächte weckte mich meine Oma: „Joachim, Junge… horch!“.
Mein Herz pochte zum Hals und bis in die Schläfen. Meine Augen versuchten, im Dunkel einen Halt zu finden. Verschlafen keuchte ich: „Was denn?“.
„Das Käuzchen schreit! Hör´, es ruft: `Komm mit! Komm mit! `“. Allein dieser Satz jagte mir eine Gänsehaut über den Körper, der sich rasend vom Nacken bis zu den Zehen ausbreitete und zurück stob. „Ich muss ganz schnell Pipi!“.
Ich fragte, was ein Käuzchen sei. Meine Großmutter erklärte mir, dass das Käuzchen in einer Linde lebe und wenn es rufe, würde jemand sterben. Ich atmete hastig und versuchte mir das Ungeheuer vorzustellen. Eine Hexe, die Leute durch ihr widerliches Gekreisch tötete und scheinbar hörten es nur Menschen, die dem Tode geweiht waren? Ich machte mir um meine nicht mehr sehr junge Großmutter Sorgen. Endlich erfuhr ich, dass es sich um einen Eulenvogel handele, welcher sehr selten ist. Nun vernahm ich den Vogelruf auch. Mir war besser, da es sich nicht um eine Zauberin mit graugespinstigem Haar handelte. Und konnte den Aberglauben des Todes durch Eulenruf genauso wenig glauben, wie den Totschlag durch umkippende Kohlenstapel, außer wenn man gerade darunter läge. Ich beruhigte meine Oma und fragte sicherheitshalber, ob es ihr gut gehe. Sie meinte, „Ja!“. Und „Du wirst schon sehen.“, was mir wieder die Kehle zuschnürte. Ich erwiderte jedoch stammelnd: „Quatsch Omi, das ist, das ist, naja, doch nur eine Redewendung!“.
Am nächsten Morgen weckte mich meine Großmutter wie immer, die Jalousien waren auf magische Weise zur Hälfte hochgezogen: „Was sollen denn die Leute denken, wie lange ich in´ne Seche lieg´!“.
In der Küche am Handwaschbecken wartete ein Trinkglas mit rosa Flüssigkeit, Mundwasser-Cocktail. Darin stand die Zahnbürste. Ich putzte mir die Zähne. Direkt anschließend gab es eine Scheibe Mischbrot mit hausgemachtem Pflaumenmus. Minze-Brot-Pflaumenmus-Geschmack einmalig!
Anschließend machte ich meinen Gang zum Briefkasten. Gab eine Zeitung meiner Omi in die Küche und stieg die Treppe hinauf. Ich klopfte bei Frau Hanl. Als sie nicht hereinrief, ging ich leise und vorsichtig durch die Tür. Ein kalter Zug blies mir ins Gesicht. Es roch muffig. „Frau Hanl? Ich bin´s, Achim!“. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit.
Die alte Frau lag mit weit geöffnetem Mund und schreckgeweiteten Augen im Bett. Ich folgte ihrem Blick an die Decke des Zimmers. Nichts! Ich ließ die Zeitung fallen, meine Hose wurde nass. „Omi! …“ gellte durch das Haus.
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Nicht die absolute Dunkelheit macht mir Angst, sondern das Halbdunkel. Und wenn ich heute nachts ein Käuzchen schreien höre, bekomme ich wieder dieses unangenehme Haarsträuben und habe Lindenduft in der Nase, glauben Sie mir …
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