Von Sabine Reifenstahl

Eine wunderbare Winternacht verzauberte die Stadt. Frischer Schnee bedeckte die Gehsteige, die Welt glitzerte wie ein verwunschenes Märchenreich. Ein riesiger Vollmond warf sein silbernes Netz aus und bannte mich.

Kurzentschlossen nahm ich den Umweg über den alten Friedhof, der heute als Parkanlage dient. Grabsteinfragmente längst vergangener Generationen säumten den Pfad, schienen mit Puderzucker überstäubt und zogen mich magisch an. Statt auf dem Hauptweg zu bleiben, folgte ich träumerisch immer schmaleren Wegen, bis selbst diese verschwanden und ich an einem ausladenden Baum zu mir kam. Die Äste ächzten vom Gewicht der Schneelast, oder seufzte jemand in der Nähe? Instinktiv duckte ich mich dichter an den Stamm, spürte dessen vereiste Borke unter den Fingern. Frost kroch meine klammen Hände hinauf. Die Kälte wirkte unnatürlich, drang durch Jacke und Stiefel und biss ins Fleisch, ließ mich zittern.

»Miriam«, flüsterte es. Der Wind trug eine Reibeisenstimme zu mir.

Schaudernd blickte ich umher und presste den Rücken dabei fest an den Baumstamm.

»Miriam, Miriam!« Kratzig, als fahre eine Feile über rostiges Metall, versetzte der Klang mich in Panik. Entsetzt stürmte ich los, ohne zurückzublicken; rannte, stolperte, rappelte mich wieder auf. Hinter mir glaubte ich, heiseres Gelächter zu vernehmen. Der Schnee knirschte, als wäre mir ein Verfolger dicht auf den Fersen. Aus Angst vor dem, was ich sehen könnte, richtete ich die Augen stur auf den Boden.

Als ich das schmiedeeiserne Tor erreichte, schwang es langsam zu. Von Furcht getrieben mobilisierte ich die letzten Kräfte, spurtete darauf zu und schlüpfte gerade so hindurch. Die eiszapfenverzierten Torflügel versuchten, mich aufzuhalten, ihr Quietschen erinnerte an Freddy Krügers über eine Tafel schabende Klauenhand, kratzte an den Nerven und jagte frostige Schauder den Nacken hinab. Ich blieb mit der Jacke hängen, hörte krächzendes Gekicher, kämpfte gegen den Widerstand ein. Stoff riss, ich kam frei.

Mit einem endgültigen Knall fiel die Pforte hinter mir ins Schloss. Schwer atmend wagte ich erst jetzt einen Blick zurück, wähnte mich auf der belebten Straße sicher. Menschen liefen vorbei, ohne von mir Notiz zu nehmen.

Ich schalt mich eine Närrin, wollte alles schon als Hirngespinst abtun, als ich knapp jenseits der Eisenpforte einen Schatten gewahrte. Dunkel und bedrohlich hob er sich vom mondhellen Hintergrund ab, schien mich genauso intensiv anzustarren wie ich ihn. Instinktiv griff ich nach meiner Kapuze und zog sie tief ins Gesicht.

Die Bewegung nachahmend, stülpte er sich leicht zeitverzögert etwas über den Kopf. »Miriam!«

Das war zu viel! Ohne innezuhalten, rannte ich nach Hause, schloss fahrig auf und warf die Tür hinter mir zu. Angespannt tastete ich nach dem Lichtschalter.

Erst das warme Licht der Deckenleuchte spendete Ruhe, ich atmete durch, streifte die Wintersachen ab, tappte in die Küche. Gewohnheitsmäßig füllte ich den Wasserkocher, hängte zwei Teebeutel in die Lieblingstasse und blickte umher. Irgendetwas erregte meine Aufmerksamkeit, eine kaum wahrnehmbare Veränderung im Augenwinkel. Augenblicklich schnellte mein Puls in die Höhe, das Herz ratterte schmerzhaft. Die Nerven lagen blank.

Das enthusiastische Blubbern aufsteigender Blasen im Heißwasserbereiter lenkte mich ab. Entschlossen tauschte ich den Darjeeling gegen Beruhigungstee und brühte die Kräutermischung auf. Der wohlriechende Dampf entspannte. Alles nur Einbildung!, redete ich mir ein. Was genau hatte ich im Park gesehen? Allenfalls einen Schatten.

Der meinen Namen rief!, erinnerte eine unwillkommene Eingebung.

Ich setzte mich in den Sessel, der unmittelbar an der Wand stand und taxierte die Umgebung. Unsicher, warum, beschleunigte die Angst meinen Herzschlag erneut. Hastig sprang ich auf, kontrollierte Tür und Fenster, zog die Rollläden herunter. Dann kehrte ich an meinen Platz zurück.

Mir fiel die halb volle Flasche auf dem Beistelltischchen ins Auge. Ein guter Schuss Rum wanderte in die Teetasse und gesellte sich zum Lavendelaroma. Die Mischung schmeckte gewöhnungsbedürftig, doch der Alkohol wirkte und wärmte bis in den Magen. Noch ein Schluck, und ein weiterer – als der Keramikbecher leer war, verzichtete ich aufs Wasserkochen auf und kippte den Rum pur nach.

Angeheitert kam mir die Sache lächerlich vor und ich kicherte über die eigene Furcht.

»Miriam!« Das kaum hörbare Raunen umklammerte mein Genick mit eisigen Pranken, sämtliche Härchen richteten sich auf. Ich sprang hoch, drehte mich und suchte nach dem Eindringling.

Da, unmittelbar vor mir, bewegte sich ein Schatten, wirbelte wie ein Derwisch herum. Nur aus den Augenwinkeln konnte ich ihm folgen, denn ich rotierte mindestens genauso schnell. Abrupt hielt ich inne.

Mein Gegenüber verharrte im gleichen Augenblick. Seine Gestalt gewann an Konsistenz, wurde dunkler, deutlicher zu erkennen. Und doch sah ich nichts als einen kontrastlosen Schemen.

Verängstigt schaute ich ihn an, er starrte zurück. Ich spähte zur Tür; meine Hoffnung sank.

Der Einbrecher stand genau im Weg – unmöglich, ihn zu umgehen. Und wenn? Ich hatte zugesperrt! Wie war er hereingekommen? Egal! »Was willst du?«, flüsterte ich und verfluchte die zittrigen Worte. Angst gibt einen schlechten Ratgeber ab.

»Miriam!«, kam krächzend die Antwort.

»So heiße ich!«

»So heiße ich!«, echote der unheimliche Besucher.

Ich legte den Kopf auf die Seite; er tat das Gleiche. »Wer bist du?«, fragte ich. Hierauf blieb eine Reaktion aus. »Du bist mein Schatten!« Versuchsweise hob ich die Arme.

Er wiederholte die Bewegung, wenngleich überraschend zeitverzögert. Mein zweites ich schien nicht der Schnellste. Wieder blickte ich zur Tür, verwarf den Fluchtgedanken jedoch. Wie sollte ich dem eigenen Schatten entkommen? Jede Lichtquelle würde ihn aus dem Dunkel zerren, selbst im Mondschein vermochte er zu agieren. Nur hier besaß ich die Kontrolle!

Verzweifelt schätzte ich die Entfernung zum Lichtschalter. Mein Gegenüber mochte es mir gleich tun, stieß dabei ein gehässiges Lachen aus.

Um den Schalter zu erreichen, müsste ich den Eindringling passieren. Aber mein Haushalt ist smart. Gewohnheitsmäßig bediente ich alles haptisch, obwohl es einfacher ging. »Alexa, mach das Licht aus!«

Umgehend umgab mich Finsternis, so dicht, dass ich sie auf der Haut spürte. Urängste wurden geweckt, eiskalt verkrallten sie sich im Nacken. Ich wünschte mir Licht, sehnte mich nach Helligkeit; lauschte auf jedes Geräusch: Atmen, rostiges Kichern. Eine Stimme, die meinen Namen rief.

Einbildung! Ohne Licht kein Schatten! Ich musste darauf achten, im Dunkeln zu bleiben …!

Ein Laut ließ mich zusammenzucken. Jemand war an der Eingangstür, das Schloss klickte. Außer mir besaß nur mein Ex–Freund einen Schlüssel. »Nicht das Licht einschalten!«, schrie ich voller Panik.

Es wurde hell.

Die Finsternis begutachtete den Besucher intensiv.

Niels blinzelte und grinste. »Ich sagte dir doch, mich serviert man nicht so einfach ab. Schnapp sie dir!«

»Alexa, mach das Licht …«

Mein Ex wedelte triumphierend mit dem LAN–Kabel aus dem Router. »Ohne Internet keine Smart–Home–Steuerung!«

»Wieso bist du hier?«, fragte ich und schaute unsicher von ihm zum Schatten.

»Du machtest Witze über die alten Rituale, die ich praktiziere. Wer lacht nun?«

Langsam ahnte ich die Wahrheit. Im Bauch wuchs der Druck, als knoteten sich die Eingeweide zu Unheilszeichen zusammen. Niels pflegte ein spezielles Heidentum, knüpfte Binderunen und beschwor – was auch immer. Ich hatte mich nie dafür interessiert.

»Du gehörst mir!« Die Stimmen erklangen aus zwei Richtungen gleichzeitig. Mein Ex wirkte siegessicher. Von hinten packten mich eisige Arme. Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst.

Panisch kämpfte ich. Es nützte nichts; der Schatten ergriff von mir Besitz, Finsternis sickerte unter meine Haut, kroch durch die Adern und füllte jede Zelle aus.

Plötzlich kam ich frei und sah mein Gesicht. Es grinste hämisch. Eiseskälte umfing mich.

Im Spiegel gewahrte ich eine zerfaserte Schattengestalt, bemerkte erst verspätet, dass sie tat, was ich dachte, während Miriam ruhig verharrte. Die unheimliche Präsenz besaß meinen Körper, ich existierte losgelöst davon.

»Du bist mein!« Miriam und Niels sprachen unisono.

Ich fühlte einen schmerzhaften Sog und musste danach den Gesten des geraubten Leibes folgen. Der Versuch zu schreien verklang ungehört wie das tonlose Wimmern. Entsetzt registrierte ich den finsteren Kerker, das körperlose Zerrbild meiner selbst und schrie; wenigstens öffnete sich der Mund. Mir wurde die Existenz geraubt, der Geist blieb jedoch hellwach. Die schlimmste Strafe überhaupt, derart hilflos mochte sich jemand im Wachkoma fühlen.

Niels setzte sich in meinen Lieblingssessel, Miriam kletterte auf seinen Schoß und legte ihm vertraulich den Arm um die Schultern.

Ich hing in ähnlicher Position schwerelos in der Luft und wusste nicht, was mich mehr empörte. Der selbstherrliche Kerl, der einen Weg gefunden hatte, zumindest meinen Körper zu besitzen, oder diese Schnalle, die ihn missbrauchte.

»Von nun an wirst du mir überall hin nachkommen, bist meine Geisel, tust, was ich tue, liebst, wen ich liebe.« Sie lachte gehässig. »Willkommen in meiner Welt!«

Ich weinte vor Wut und fluchte. Erst wenn das Licht ausginge, käme ich von ihr los. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen?

Es gibt andere Heiden, Menschen, die den alten Glauben praktizieren.

Doch wie erreiche ich jene, wenn ich an Niels und seine Schnepfe gefesselt bin?

Weil ich an sie gebunden bin!, erkannte ich.

Mein Kampfgeist erwachte. So leicht würden Niels und seine düstere Gefährtin es nicht haben. Ein gewonnener Kampf ist kein endgültiger Sieg! Mir bleibt Zeit zum Nachdenken und Lernen. Solang der Verstand arbeitet, existiert Hoffnung.

Verärgert beobachtete ich die beiden beim Knutschen und schloss angewidert die Augen. Das funktionierte glücklicherweise.

Losgelöst ließ ich mich treiben und hing eigenen Gedanken nach. Der Schatten folgte seinem Körper ohne bewusstes Zutun, gab mir Gelegenheit zum Planen.