Von Monika Heil

»Man sieht sich stets zweimal im Leben«, meinte Mia lakonisch und grinste mich an.

»Wie Recht du hast, mein Kind. Und deshalb glaube ich auch, dass du deinen neuen Lieblingsstar irgendwann noch einmal wirst sehen und hören können. Und nun steig endlich ein.«

Meine Enkelin gehorchte mit einem sehnsüchtigen Blick zurück zur Stadthalle. Aber dort stand kein Lorenz Green und winkte. Und so konnte ich endlich starten. Kurz darauf lieferte ich die Fünfzehnjährige bei ihrer Mutter ab und fuhr anschließend zu mir nach Hause. Kein Mensch war in meinem Viertel mehr unterwegs. Straße und Bürgersteige lagen in tiefem Schlaf.

 

Mit einem Glas Chardonnay ließ ich mich in meiner gemütlichen Wohnküche nieder, um den Abend Revue passieren zu lassen. Der alte Kühlschrank murmelte eine eintönige Melodie als Untermalung.

 

Mia, meine süße kleine „große“ Enkelin schwärmt seit einem Jahr für diesen Jugendstar Lorenz Green. Eines Tages stand in der Zeitung, er werde in unserer Stadthalle gastieren. Nein, weder der junge Mann noch seine Musik treffen meinen Geschmack. Mia hatte mir mit vor Aufregung roten Wangen erzählt, sie habe bei einer Aktion der Zeitung mitgemacht. Da konnte man zwei Eintrittskarten gewinnen. Die freiverkäuflichen waren meiner Tochter Marga zu teuer. Natürlich drückte ich ihr wunschgemäß die Daumen. Doch ich bin Realistin und glaube nicht an glückliche Zufälle. Deshalb erstand ich zwei Karten der besten Kategorie im Vorverkauf. Mein Geburtstagsgeschenk für Mia. Damit würde ich wochenlang die beste Oma aller Zeiten sein. Das modische Outfit steuerte ihre Mama bei, die sie leider aus terminlichen Gründen nicht begleiten konnte. Also erbarmte ich mich.

»Mitgefangen, mit gehangen«, wie Mia sagen würde.

 

»Mein Traum wird wahr, mein Traum wird wahr«, trällerte sie auf der ganzen Fahrt zu Stadthalle. Die Parkplatzfee meinte es gut. Ich fand einen freien Platz, wenn auch ziemlich weit hinten. Ewig standen wir an der Garderobe an und dann endlich, endlich konnten wir unsere Plätze einnehmen. Mia, die plötzlich wie ein kleines schüchternes Mädchen wirkte, drückte sich an mich. Beruhigend strich ich über ihre Hand.

In der Reihe hinter mir entstand Unruhe. »Entschuldigung, Entschuldigung«, hörte ich eine Stimme, begleitet von einem asthmatischen Schnaufen, das mir nicht ganz unbekannt vorkam. Ich wollte mich gerade umdrehen, da ging im Saal das Licht aus.

»Endlich«, flüsterte meine Enkelin. Scheinwerfer huschten über die leere Bühne, Mia hielt den Atem an. Ich streichelte ihre kalte Hand.

 

Ein heftiger Atem wehte mich von hinten an. Unfreiwillig sog ich den Geruch ein. Lieber Gott! Bitte, bitte nicht!, flehte ich wortlos. Eine feucht-warme Hand streichelte meinen Nacken. Ein Billigparfüm, das ich nie in meinem Leben wieder riechen wollte, mischte sich mit Bierdunst. Zweifellos saß hinter mir Karsten, den ich im Internet kennengelernt und vor einem halben Jahr abserviert hatte.

»Eleonore, was für ein Zufall. Du auch hier?«

»Psst«, mahnte eine leise Stimme.

»Wieso, hat doch noch nicht angefangen«, zischte eine mir inzwischen nur zu bekannte Stimme zurück.

Die Scheinwerfer strichen über die Köpfe der Zuschauer, verharrten hier und dort, wechselten zurück zur Bühne.

»Treffen wir uns in der Pause?« Wieder spürte ich eine Hand im Nacken.

»Psst.« Um eine weitere Störung zu unterbinden, drehte ich mich kurz um und nickte. Im selben Moment brandete Beifall auf. Der Star betrat die Bühne.

 

Ein aufgeregtes Kind an meiner Seite, ein zappelnder Karsten im Rücken und auf der Bühne ein junger Mann, dessen Repertoire mir in kürzester Zeit auf den Geist ging. Womit hatte ich das verdient?

 

Endlich ertönte das Pausenzeichen. Im Aufstehen raunte mir Karsten zu: »Ich hab´ nur ein Bier mit. Ich hole dir eines an der Theke, okay?«

»Für mich nicht. Danke.«

Mia zog mich vorwärts.

»Ich muss dringend auf die Toilette, Oma. Wir treffen uns da vorn am Fenster, ja?«

»Ist gut. Was willst du trinken? Cola?« Die junge Dame nickte und verschwand. Dafür tauchte Kasten wieder neben mir auf. Er hielt mir eine Bierflasche ohne Glas hin. Ich schüttelte den Kopf.

»Karsten, das ist jetzt ganz schlecht. Ich bin mit meiner Enkelin hier und die Kleine hat Durst. Außerdem mag ich kein Bier. Ich hole uns jetzt unsere Getränke.«

»Na gut. Dann trinke ich es alleine. Ich warte hier auf dich.«

Verstohlen musterte ich meinen Kurzzeitinternetpartner, während ich für unsere Getränke in der Schlange anstand. Diesmal war es eine schwarze Kugel mit lila Hemd und lila Socken. Die Jackenknöpfe sperrten über seiner Wampe. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie absprangen.

 

Mein Ausflug in eine Partnerschaftsbörse! Ein sympathischer, vielseitig interessierter Mann in meinem Alter, den ich im Chat so lange zu schätzen wusste, bis ich ihn persönlich kennenlernte. Na ja. »Wer nichts macht, macht nichts falsch.« Ein Spruch meiner Enkelin. Heute kann ich lachen, wenn ich an unsere erste persönliche Begegnung im Fährhaus denke. Damals war ich höchst frustriert.

 

Mit meinem Glas Wein und Mias Cola ging ich zum Bistrotisch am Fenster, gerade, als meine Enkelin aus dem Erdgeschoss wieder auftauchte. Sofort gesellte sich Karsten zu uns. Was blieb mir anderes übrig? Ich stellte die beiden einander vor.

»Herr Brückmann, meine Enkelin Mia.«

»Schwärmen Sie auch für Lorenz Green?« Mias Blick zeigte Skepsis.

»Nee, wirklich nicht.«

»Und warum sind Sie dann hier?«

»Hab´ die Karten gewonnen bei der Zeitung. `Da gibt´s Lohengrin` hatte eine Bekannte gesagt. Naja, war halt ein Missverständnis. Aber für geschenkt kann man sich das Gejammer ja anhören, oder? Und für die zweite Karte habe ich draußen noch dreißig Euro bekommen.«

Mia verzog erstaunlicherweise keine Miene.

»Mein lieber Schwan«, murmelte sie.

»Schwärmst du auch für Opern?«

»Nee, das ist Omas Gebiet. Ich mag das ´Gejammer` von Lorenz Green.«

»Ich weiß. Wir haben uns früher oft und gern darüber ausgetauscht.« Jetzt wandte sich das kleine Biest mit entrüsteter Stimme an mich.

»Das hast du mir nie erzählt. Wart Ihr mal ein Paar?«

»Leider nein.« – »Um Himmelswillen, nein!« Karsten und ich redeten gleichzeitig.

»Was soll das denn heißen?«, fragte er und seine Stimme klang beleidigt.

»Lass gut sein, Karsten.«

»Karsten? D e r Karsten?«, funkelte sie mich an.

»Woher weißt du von Karsten?«

»Ich kann Computer lesen. Das kommt davon, weil du ohne Passwort arbeitest.«

»Kluges Kind.«

»Alle Menschen sind klug. Die einen vorher, die anderen nachher.«

 

Endlich ertönte das Klingelzeichen. Pausenende.

»Wollen Sie meinen Rat hören?« Mia lächelte Karsten zuckersüß an. »Verzichten Sie auf den zweiten Teil. Da wird das Gejammer noch heftiger. Vielleicht bekommen Sie ja draußen noch zehn Euro von Jemandem für die halbe Karte.«

 

Karsten ging tatsächlich. Grinsend stellte meine Enkelin kurz darauf fest: »Geizhals-Karstens Sitzplatz ist doch tatsächlich leer. Schade nur, dass er sein Superangebots-Rasierwasser nicht mitgenommen hat.«

Wie Recht sie hatte. Der Geruch hing noch eine ganze Weile in der Luft.

 

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