Von Ruth Loseke

Es regnet. Die Katze liegt zusammengerollt auf dem Sofa und schaut nach draußen in den Garten, wo seichte Regentropfen leise Töne auf den Blättern erzeugen. Die Katze hat mehrere Lieblingsplätze im Haus und im Garten.   

    

Es wird bald Herbst werden. Die Stoffstreifen des Vorhanges an der Glastür zum Garten bewegen sich ungewollt im leichten Wind. Sie dienten den Sommer über als Insektenschutz. An einigen Stellen sind sie schon zerfetzt, andere sind abgerissen; aber das stört mich nicht, denn noch versehen sie ihren Dienst. Es gibt zu dieser Jahreszeit auch nicht mehr so viele Insekten.

 

Die Stoffstreifen sind rot mit weißen Punkten im Retrostil und zeigen immer noch die frische Farbe der vergangenen Sommertage. Damals wusste ich noch nicht, dass es für mich die letzten Sommertage in dem Haus sein würden; das letzte Grillen auf der Terrasse, die letzten Abendzigaretten mit der Tochter und ihrem Freund unter einem klaren Sternenhimmel im Garten.

 

Sowieso, es wird nicht mehr lange dauern. Gleich kommen die ersten Interessenten, die sich auf das Inserat gemeldet haben. Die laute Klingel wird durch das ganze Haus tönen; sie war immer zu laut. Wir haben es hingenommen, sind nie auf die Idee gekommen, etwas daran zu ändern. Die Katze wird sich erheben, durch die Terrassentür nach draußen schlendern und sich auf der Veranda unter dem Tisch verstecken. Bald wird sie auch das nicht mehr haben, diesen Fluchtort aus dem Haus in den verwilderten Garten. Sie wird sich neue Plätze suchen müssen. Der Katze war es immer egal, ob der Garten stilvoll mit durchdachten Blumenbeeten und gemähtem Rasen oder wild mit Unkraut und dagegen ankämpfende Sommerblumen daherkam. Vielleicht gefiel ihr der Wildwuchs sogar besser. Im Sommer hat sie ganze Tage unter dem grün wuchernden Farn verbracht. Ich selbst hatte wegen des verwilderten Gartens manchmal ein schlechtes Gewissen. Die Nachbarn haben so gepflegte Gärten. Aber das ist jetzt auch egal.

 

Es ist ein junges Paar mit neugierigen Augen, das zur Besichtigung kommt. Man sieht gleich, dass sie es ernst meinen; ernst mit dem Haus und ernst miteinander. Das macht sie mir zunächst sympathisch und ich lasse sie gerne eintreten, beantworte gerne ihre Fragen, lasse sie alles ansehen. Ich beginne das Haus mit ihren Augen wahrzunehmen. Mir fallen die selbstgemalten Bilder auf, der Lieblingsplatz auf dem Designersofa; das Riesenposter vom Meer im Gästebad; ich versuche alles mit ihren Augen zu sehen, nicht mehr mit meinem Alltagsblick, denn bald wird es nicht mehr mein Alltag sein, hier im Haus zu leben. Und ich möchte Abstand gewinnen. Sonst würde ich womöglich noch sentimental werden. Und das ist unnötig. Einen einmal gefassten Entschluss sollte man nicht bereuen, nicht in Zweifel ziehen.

 

Dass es im Keller eine Sauna gibt, gefällt den beiden sehr. Es riecht noch nach dem Aufguss des letzten Saunaganges; Zitrone-Limette, anregend, energiespendend, aufmunternd. Es scheint, das Paar hat mit dem in der Luft liegenden Aroma die damit beschriebene Wirkung in sich aufgesogen. Sie und er wirken nun leicht euphorisch.

 

Auch der integrierte Wohn- und Küchenbereich stößt auf Wohlwollen. Ich höre es an der Art, wie der Mann den Satz „hier könnte ein großer Esstisch stehen“, sagt; er fällt in eine leicht erhöhte Stimmlage und seine Frau nickt ihm aufmunternd zu.

 

Die Katze hat sich trotz des stärker werdenden Regens wirklich nach draußen unter den Gartentisch verzogen. Sie war schon immer ein zurückhaltendes Tier.

„Ein Haus ist ein Spiegel seiner Bewohner“, schießt es mir durch den Kopf. Ich muss das junge Paar in den Spiegel schauen lassen. Zum Glück sind sie ganz mit sich, mit ihrer Zukunft, mit ihren Plänen beschäftigt.

 

Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass sie bald zu dritt sein werden. Der Mann strahlt Zuverlässigkeit und Ruhe aus; er arbeitet in einer gehobenen Position. Meine Zeit ist also nicht vertan; sie werden sich das Haus leisten können. Und auch die junge Frau ist berufstätig als Zahnarzthelferin; natürlich.

Sie hat lange braune Haare, und da ich nun weiß, dass sie schwanger ist, wird mir klar, woher die schöne glatte Haut kommt; die Hormone!

 

Vom Zimmer im 1. Stock aus geht der Blick in meinen und in des Nachbars Garten. Im Winter streut der Nachbar Erdnüsse aus und ich beobachte die Rabenkrähen, die Elstern, die Eichelhäher, die der Reihe nach angeflogen kommen und sich dann schnell mit ihrer Beute davonmachen. Die Raben und Elstern lassen sich auch sonst hier in den Gärten blicken, nur die Eichelhäher halten sich fern. Dabei sind sie mir die liebsten. Ob die neuen Hausbesitzer sie wohl auch beobachten werden?

 

Im 2. Stock, das schöne große Zimmer, ist leergeräumt. Bis vor kurzem hat hier die Tochter gewohnt. Nur eine Fahnenreihe aus dem Tibet hängt noch vor einem der Fenster, Symbol geteilter Erinnerungen. Nun nicht mehr wichtig.

Das Paar schaut durch genau dieses Fenster hinaus in den Garten, auf den Apfelbaum, das Gartenhäuschen, die Holzterrasse. In mir entsteht ein merkwürdiges Gefühl, der leichte Drang, die Fahnenreihe aus dem Tibet herunter zu reißen.

 

Das Paar hat seine Aufmerksamkeit inzwischen dem Korkfußboden zugewandt und begonnen, in Gedanken und Worten das Zimmer als Elternschlafzimmer einzurichten. Sie fragen mich nach den Maßen des Erkers in der Zimmerecke. Ob da wohl das Ehebett hineinpassen würde?

Ich spüre eine leichte Abwehr; ich möchte mich da nicht beteiligen.

 

Und es wird nicht besser. In mir steigt ein immer stärker werdender Widerwille gegen dieses Paar auf, das doch anfänglich so sympathisch war. Ich sehe die gepflegten rosa lackierten Fingernägel der jungen Frau; sicher würde sie mir gerne den Namen ihrer Maniküre verraten. „Wie kann man nur so perfekt sein“, schießt es mir durch den Kopf.

Im Badezimmer erfahre ich, dass man dort wohl einiges erneuern würde; eine neue Dusche, eine neue freistehende Whirlpoolbadewanne; ich spüre eine von dem Paar ausgehende Begeisterung, die ich nicht teilen kann; im Gegenteil, ich gebe mir große Mühe, diese Begeisterung gar nicht erst wahrzunehmen.

 

Wahrscheinlich tue ich ihnen Unrecht; mein Widerwille nährt sich sicher aus der eigenen unterdrückten Ambivalenz, was den Auszug betrifft; immerhin habe ich über 20 Jahre hier gelebt. Der Enthusiasmus des Paares und ihre ernsthaft ausgesprochenen Pläne schaffen eine Realität, der ich mich nur zögerlich stellen möchte. Aber, es wird Zeit und ich habe mich entschieden.

Vielleicht hätte ich doch alles einem Makler überlassen sollen, anstatt selbst zu annoncieren. Dann wäre vermutlich alles einfacher gewesen; dann hätte ich mich all diesem hier nicht aussetzen müssen; aber vielleicht wollte ich es ja auch.

 

Ich entschuldige mich bei dem Paar. „Schauen Sie sich ruhig noch um; ich warte unten auf Sie“. Ich setze mich im Wohnzimmer auf meinen Lieblingsplatz auf dem Sofa und schaue durch die rot-weißen Stoffstreifen des Fliegenschutzes in den Garten. Es regnet kaum noch, die Katze liegt immer noch unter dem Gartentisch. Die Stofffetzen haben plötzlich etwas grausam Vergängliches. Bald wird der Herbst beginnen und ich kann die kläglichen Reste des Insektenschutzes abnehmen und in den Müll werfen. Ich werde hier keinen neuen aufhängen.

 

Ich vermute, das junge Paar wird das Haus kaufen und wappne mich dem, was nun auf mich zukommen wird.

Immerhin, sie werden sich nun über den ewig kläffenden Hund der Nachbarn ärgern müssen, denke ich etwas gehässig. Aber vielleicht schließen sie ja auch Freundschaft mit den Nachbarn und haben nicht so empfindliche Ohren wie ich. Sicher wird sich der verwilderte Garten  in einen ordentlich durchgeplanten, gepflegten Garten verwandeln; er wird besser zu den Nachbargärten passen.

 

Ich werde jetzt zu dir in dein Haus ziehen; wir werden in unserem Garten im kommenden Winter die Vögel füttern; vielleicht wird es auch Eichelhäher geben; und zum Sommer hin könnte ich einen schönen bunten Stoffvorhang an die Terrassentür hängen, damit keine stechenden Insekten in unser Haus kommen können. Und die Katze wird neue Lieblingsplätze finden. Eigentlich freue ich mich schon darauf.