Von Joakim Franz

“Meine Katze ist weg, warum haben Sie sie genommen?“ Yu

Er hatte den Teil mit den Inseraten nur überflogen, so wie jedes Mal, wenn er diese Zeitung las. Er wusste gar nicht, warum er sich überhaupt Woche für Woche dieses Schmierblatt aus dem Zeitungsfang nahm, der vor seiner Wohnung zu eine Art Papiermüll zweckentfremdet worden war. Vielleicht taten ihm die Austräger leid. Der Anblick des Schreibergrabs, das sich dort je und je auftürmte konnte doch an niemanden spurlos vorbei gehen oder?
Normalerweise hätte er den Inhalt jener Wochenzeitung sogleich nach dem Weglegen dieser wieder vergessen, doch der Text dieses Inserats ließ ihn nicht mehr los. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Katze verschwunden war. Gerade in der Stadt traf man ständig auf Aushänge, die von Haustieren berichteten, die nicht mehr zu ihren Besitzern zurück gefunden hatten. Allerdings war dort auch für gewöhnlich ein Bild des Tieres zu sehen oder zumindest eine Beschreibung, wie es aussah. Ohne diese essentiellen Dinge erfüllte ein solches Inserat keinen Zweck. Es fehlten auch jegliche Kontaktdaten. Lediglich der ungewöhnliche Name Yu war aufgeführt oder handelte es sich dabei um keinen Namen sondern stellte dieser eine Abkürzung für irgendetwas dar? Dazu noch dieser anklagende Ton.
Nein, dachte er bei sich, es war ein denkbar unsinniges Inserat.
Dennoch hatte es ihn auf seltsame Weise bewegt. Er fühlte sich angesprochen, ja direkt ertappt, so als hätte er einen versteckten Keller, worin er fremde Katzen sammelte. Den ganzen Tag über grübelte er darüber nach, bis in den Abend hinein, als er auf dem Heimweg von seinem Bürojob war. Er hatte aus einer Laune heraus heute den Bus genommen. Die Bushaltestelle lag etwas weiter von seiner Wohnung entfernt, jedoch führte der Heimweg über eine kleine Brücke und direkt durch den Park. Ein schöner Spaziergang, insbesondere jetzt, wo erste Frühlingsblumen sprossen und die warme Jahreszeit einläutete. Der Abend dämmerte bereits und die Straßenlaternen schalteten sich ein, sodass angenehme Lichtpunkte den Weg säumten. Wie so oft blieb er auf der kleinen Holzbrücke stehen, die zum Grün führte und beobachtete den fließenden Bach unter ihm. Der Wasserstand war aufgrund der Schneeschmelze des nahen Gebirges etwas höher um diese Zeit des Jahres und trug Zweige, Blätter oder andere Naturreste mit sich. Die einzelnen Strudel, die sich auftaten, das gleichmäßige Fließen an anderer Stelle und das ewiggleiche Plätschern ließen ihn dort oft zehn Minuten stehen, dabei die Gedanken schweifen lassend. Heute jedoch nicht, denn ein weißes Bündel im Wasser erregte nach kurzer Zeit seine Aufmerksamkeit. Es schien sich an der Wasseroberfläche zu bewegen, trieb hin und her und gab Klagelaute von sich. Ehe er vollständig begriffen hatte, um was es sich handelte, lief er schon los. Ans Ende der Brücke und die kleine Böschung hinab zum fließenden Nass, dem Wasserlauf entlang, bis er endlich auf Höhe des Fellbüschels war, das sich dort verzweifelt an der Oberfläche zu halten versuchte. Er zögerte kurz, in das kalte Wasser zu steigen und seine teure Anzughose womöglich zu ruinieren, dann tat er es doch und griff beherzt zu, um das Tier zu retten. Die kleine Katze strampelte und miaute herzzerreißend, klammerte sich mit ihren winzigen Krallen in seiner Hand fest und wusste nicht recht, wohin mit ihrer Klage. Auch er war etwas überfordert, hantierte selten mit kleinen Tieren und wickelte das Kätzchen schließlich ungelenk in seine Jacke, um es vor der Kälte zu schützen. Wie eine zerbrechliche Kristallkugel hielt er das Tier in seinen Armen und achtete auf jeden Tritt, während er sich wieder den Hang hinauf kämpfte, bis er schließlich sicher oben ankam. Niemand hatte seinen heldenhaften Einsatz gesehen und er fragte sich, was er nun mit dem schnurrenden Etwas anfangen solle. Erschöpft setzte er sich auf eine Parkbank und wartete. Womöglich kam der Besitzer von selbst?
Doch rührte sich niemand und mit der Zeit machte sich die abendlich kühle Luft bemerkbar. Das Kätzchen hatte sich indes vollkommen in den Stoff gegraben und schlief. Behutsam hob er es hoch und marschierte damit entgegen des Wasserverlaufs, um die wenigen umliegenden Häuser nach Suchenden abzusuchen. Doch weder traf er offensichtliche Suchende, noch wusste jemand etwas über eine entlaufene Katze, geschweige denn über einen Besitzer einer weißen Katze dieser Art. Irgendwann gab er seine Suche auf und trat etwas uneins den Heimweg an. Die Worte des Inserats schwebten in seinem Hinterkopf.
„Warum haben Sie sie genommen?“
Ja warum denn nicht?
In seiner Wohnung angekommen, trocknete er das Tier mit einem Handtuch ab und schüttete etwas Milch auf einen Teller, so wie er es in Fernsehsendungen gesehen hatte. Das Kätzchen trank erstaunlicherweise nur wenig und tapste dann ungelenk durch sein Zimmer, schnupperte hier und dort, schlupfte unter Sessel und andere Hindernisse hindurch bis es endlich einen Platz in einer denkbar kleinen Schüssel fand, wo es gerade so hinein passte. Fasziniert beobachtete er die bald schon schlafende Katze. Ihr gleichmäßiges Atmen beruhigte ihn, ließ kurz alle Probleme der Welt in den Hintergrund rücken. Das Läuten der Türglocke ließ ihn hoch schrecken. Verwundert, wer um diese Zeit etwas wollte, schritt er zur Tür und blickte durch den Türspion. Er sah ein unbekanntes Mädchen dort stehen, das er auf etwa zwölf Jahre schätzte. Ihre schwarzen Haare waren glatt und sie trug ein graues, schlichtes Kleid, was ihr ein erwachsenes Äußeres verlieh. Arglos öffnete er die Tür.
„Hallo!“, grüßte er sie und fuhr dann fort, da sie nicht antwortete „Äh, hast du dich verlaufen?““
„Wo ist meine Katze? Haben Sie meine Katze?“, fragte sie so gleich und obwohl ihre Stimme nüchtern klang, meinte er einen anklagenden Unterton zu hören.
Eine seltsame Schuld überkam ihn. „Ich habe heute eine Katze gefunden…“, begann er langsam zu erklären, doch ehe er weiter reden konnte, traten zwei Männer mit Anzügen aus dem Flur um die Ecke.
„Aha. Das werden Sie büßen.“, sprach der Kleinere und hielt ihm einen Schrieb vor das Gesicht. Darauf stand lediglich „Schuldig des Katzenraubs.“. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah, da packte ihn schon der größere Anzugträger mit einem Griff, hart wie ein Schraubstock, während das Mädchen seelenruhig in seine Wohnung schritt und Momente später mit dem Kätzchen in den Armen zurück kehrte. Sie wirkte fast gelangweilt und würdigte ihn keines Blickes. Ihm fehlten jedwede Wort, während er sich vergeblich aus den harten Griff des Mannes zu lösen versuchte.
„Aber ich habe es doch aus dem Bach gerettet…“, verteidigte er sich und kam sich jämmerlich vor.
Sie schritt unberührt weiter, doch ehe sie um die Ecke des Flurs trat, drehte sie sich nochmals um und fragte „Warum haben Sie sie genommen?“
Etwas zerbrach in ihm und die Männer führten ihn ab.