Von Andreas Perner

Ich hatte es so gründlich verdrängt!

So tief verschüttet!

Doch dieser Chiromant hatte es freigelegt. Das Geröll abgetragen, mit einem monströsen Bagger. Als ich ein Kind war, hatte ich das dritte Auge.
Nun, jeder hat es, es ist nur die meiste Zeit geschlossen. Bei mir war es damals offen. Offen, wie ein Scheunentor!
Eine Gabe! Ein Fluch!

Meine Tante erkannte es sofort. „Manchmal vergeht es wieder.“, hatte sie gesagt. „Du siehst Dinge, die andere nicht sehen. Gewöhn´ dich daran.“

Doch ich konnte es nicht. Wie soll man sich an so etwas gewöhnen?

„Wo sind meine Schlüssel?“ Mein Vater verlegte ständig etwas. Er huschte wie ein nervöser Schatten durch das Haus.

„Verdammt!“

„Neben dem Waschbecken, im Bad!“

Er fragte schon lange nicht mehr, warum ich es wusste.

„Ich bin spät dran! Den Kuss holen wir nach.“

Dann schlug die Tür ins Schloss.

Du kommst noch rechtzeitig, Dad, der Stau löst sich gerade auf.

 

Ich sah auch andere Dinge, Dinge, die ich nicht sehen wollte, Dinge, die kein zehnjähriger sehen sollte!

Dann war es weg!

Als ich sechzehn oder siebzehn war, und ich vergaß es.

Irgendwann.

Sprach mit niemandem darüber. Keiner wusste es … dass ich es gehabt hatte. Nicht einmal ich selbst. Keiner, bis auf …

 

Als meine Tochter verschwand, meldete sie sich.

„Martin! Wo ist sie?“

Tante Ida?

Spätestens da hätte es mir einfallen soll, oder?
Doch ich hielt den Hörer in der Hand und brabbelte aufgeregt wirres Zeug.

 

Zuerst legte er die Karten – davon war übrigens nichts in der Zeitung gestanden – dann nahm er die Hand meiner Frau.

„Lebt sie noch? Wo ist sie?“, fragte Vera.

Der Chiromant sagte nichts, sah nur konzentriert auf Veras Handfläche.

 

In der Anzeige hatte gestanden: Chiromant – Handleser. Die Zukunft liegt in Ihrer Hand!

Vera hat sie mir gezeigt.

„Diese Annonce war in der Zeitung. Vor einer Woche. Siehst du die Telefonnummer? Ich hab schon angerufen. Er hat Zeit. Morgen. Ich wollte eigentlich schon heute …“

„Was hast du?“, fragte ich. „Ohne dich mit mir abzusprechen?“

Ich war echt aufgebracht, die Angst und Wut der letzten Wochen kamen einfach hoch.

„So ein Schwachsinn, Vera!“ Ich schrie. Meine Stimme überschlug sich. „Das sind Gauner, die leichtgläubigen, labilen Menschen, wie d…“

Sie sah mich an. Mit diesem traurigen Blick. Mit dieser Verzweiflung darin.

Was machst du da? Sie kann am aller wenigsten dafür!

Ich merkte, wie die Energie aus mir wich, wie ich wieder zu diesem armseligen Häufchen Asche wurde, das auf den Wind wartet.

Ich hatte genickt.

Zaghaft.

„Gut!“, sagte sie erleichtert.

Der Chiromant drückte sanft die Hand meiner Frau weg, strich noch einmal tröstend darüber.

„Nun Ihre!“, sagte er dann und sah mich frontal an.

Er sprach in sonderbarem Akzent, was ihn für manche möglicherweise glaubhafter machte. Ich hatte ihn jedoch durchschaut.

„Bitte!“, sagte er.

Ich sah ihn nur weiter teilnahmslos an, musterte seine Haut, die großen Poren auf den Wangen, sah auf sein weißes Haar … und fragte mich, ob schlohweißes Haar in Zukunft Ekel in mir auslösen würde.

„Martin!“ Es war die Stimme meiner Frau, die nach einiger Zeit schneidend die Stille zerschnitt.

Mach endlich! Lass dich nicht so bitten. Hilf mit! H-I-L-F-M-I-T!

„Sie ist tot!“, sagte ich.

Das bisschen Farbe im Gesicht meiner Frau verschwand augenblicklich. Blankes Entsetzen stand darin.

Sie weiß es auch! Wurde mir mit einem Male bewusst. Sie weiß es schon länger als ich. Mütter wissen so etwas.

„Martin!“, sagte der Handleser. Er sagte es so sanft, dass es mir kalt den Rücken hinunter lief.

„Sie ist nicht tot!“

„Doch!“, sagte ich. Ich spürte Tränen in den Augen, spürte wie sie nass herabliefen.

„Doch!“, sagte ich noch einmal.

Sie liegt im Wasser. Nackt. Ihr blondes Haar schwebt inmitten von roten Wasserrosen …

Ich kannte die Stelle. Woher kannte ich sie? Woher?

„Martin?“

Es war die Stimme meiner Frau. Fremd. Unbekannt.

„Wir gehen!“, brachte ich noch hervor.

Wenn wir nicht sofort gehen, verliere ich den Verstand!

 

„Ich fahr dich ins Krankenhaus.“, sagte ich und fuhr in den Kreisverkehr ein.

„Nein!“

„Es liegt am Weg.“

„Mir geht es gut! Ich will nach Hause.“

„Gut? Wirklich?“

Sie schwieg. Ich sah zu ihr hinüber.

„Ich muss nochmal weg.“, sagte ich.

Sie starrte weiterhin aus der Windschutzscheibe. Es hatte zu nieseln begonnen.

„Es regnet.“, sagte ich und schaltete den Scheibenwischer an.

„Woher weißt du es?“, fragte sie plötzlich.

„Du weißt es doch auch.“

 

Als wir zuhause angekommen waren, verschwand meine Frau im Schlafzimmer.

Ich ging zum Kühlschrank und nahm ein Bier heraus.

Ich setzte mich und drückte die kühle Flasche an die Stirn. Halb erwartete ich, dass es zischt.

Die klaren Bilder, die ich vorhin vor Augen hatte, waren inzwischen verblasst. Alles war so unwirklich.

Verlierst du wirklich den Verstand? Martin, alter Junge?

Mein Leben hatte sich seit drei Wochen quasi aufgelöst. Zersetzt. War nur noch atmen und hoffen.

Hoffen dass sie sich meldet.

Papa! Mir geht es gut. Tut mir leid, dass ich abgehauen bin. Hol mich hier ab!

Doch dieser Anruf kam nicht und würde auch nicht kommen!

Ich sah aus dem Fenster. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten. Ich würde eine Taschenlampe brauchen, wenn ich am Teich war, würde es stockdunkel sein. Ich stellte die Bierflasche auf den Tisch und suchte in der Krimskramslade nach einer die funktionierte und legte sie neben die Autoschlüssel, dann ging ich in den Keller.

 

Noch in der kitschig eingerichteten Wohnung des Chiromanten, als ich noch zitternd und mit wässrigen Augen inmitten des Raumes stand – wie das größte Weichei der Geschichte!!! – war mir eingefallen, woher ich den Ort in meiner Vision kannte. Der Rosenteich! Als Kinder waren wir dort baden.

Und dann war das nächste Bild gekommen, plötzlich und unerwartet, hatte mir den Atem geraubt, meinen Brustkorb zugeschnürt …

Ich habe den Typen gesehen, der meine Tochter auf dem Gewissen hatte! Ich sah, wie er sie aus dem Kofferraum hob, den schmalen Pfad durch den Wald trug und sie in den kleinen Fluss legte.

Sachte, als wäre sie aus Porzellan. Er stand am Ufer und sah ihr nach, wie sie langsam abgetrieben wurde.

Es war mein Bruder!

 

Ich ging in die Werkstatt, die ich mir in einem kleinen Raum hier unten eingerichtet hatte, und kniete mich vor den Schrank. Das unterste Brett des Podests war mit einem Magneten befestigt. Ich löste es und griff hinein. Ich musste mich etwas verrenken, um das Paket zu greifen. Dann legte ich es auf den Werktisch und wickelte es aus.
Eine 70 Jahre alte Walther P38, eingehüllt in ölgetränkten Leinen.
Ich sah den Verschluss an, das Magazin … Kein Rost, stellte ich fest.
Ich hatte nie verstanden, warum ich sie damals gekauft hatte.

Doch es gibt keine Zufälle!

 

VERSION 2