Von Jessica Schnieder
Als Nadja das Café, in dem sie sich mit Dirk zu einem Kennenlern-Kaffee verabredet hatte, betrat, wusste sie noch nichts von dem, was auf sie zukommen sollte. Sie hatte eine Ahnung, die aber eher daher rührte, dass Dirk sie in die Filiale einer Convenience-Kette eingeladen hatte und nicht, wie Nadja es sich gewünscht hätte, in ein feines, gemütliches Kuchencafé. Hier, zwischen den modernen Plastiktischen und den gelben Ledersesseln gab es keinen echten Kuchen. Es gab nur Muffins, Bagels und Cookies. Nadja mochte keine Cookies. Und deshalb mochte sie weder das Café noch Dirk.
Nadjas Blick fiel gleich auf ihn, den rotblonden Mittvierziger, der es sich, selbstverständlich, wie Nadja fand, auf einem Barhocker an der vollverglasten Frontseite des Ladens gemütlich gemacht hatte – wenn man es sich auf diesen Barhockern überhaupt gemütlich machen konnte. Er trug ein hellblaues Karohemd und eine ausgewaschene, blaue Jeans. Und damit trug er: genau das gleiche wie Nadja. Scheußlich, schoss Nadja durch den Kopf, Partnerlook konnte sie schon zu Schulzeiten nicht ausstehen, als beste Freundinnen sich vor Unterrichtsbeginn gegenseitig anriefen, um ihre Kleider farblich aufeinander abzustimmen. Damit war sie noch weniger gewillt, auf Dirk zuzugehen, sie entschied, erst einmal zu beobachten. Was genau, wusste sie nicht.
Außer ihr und Dirk saßen in dem Café noch weitere Gäste: ein junges Paar mit einem Baby, vielleicht gerade sechs Wochen alt. Es schlief friedlich in der Tragevorrichtung an der Brust seiner Mutter. Der Vater lächelte so stolz, wie nur frisch gebackene Väter lächeln können. Der vierte Gast war ein älterer Herr im beigegrauen Anzug am hinteren Ende des Raums, der sich von der pseudomodernen Wandfarbe des Cafés kaum unterschied.
Eine Frau betrat das Café, stöckelte auf roten Lackpumps selbstsicher an Nadja vorbei, die noch immer wie angewurzelt in der Tür stand und sich zunehmend in die Kunstpflanzen des Eingangsbereichs einfügte. Die Frau stolzierte zum Tresen, warf ihr dunkelbraunes Haar zurück, bestellte eine „Latte to go mit Sojamilch und extra viel Schaum“ und begann kurz darauf in ihrer Handtasche zu kramen, zog ihre Geldbörse hervor, zählte die Münzen, die nicht laut genug klirrten, um für einen Latte to go zu genügen. Auch Dirk hatte es bemerkt, stand auf und hielt der Dame seine Bonuskarte entgegen. Nadja verstand nicht, was die zwei sprachen, dafür waren sie zu leise, dennoch sagte ihr das, was sie sah, gleich zweierlei: Zum einen, Dirk kehrte häufiger in diesem Coffeeshop ein, wozu bräuchte er sonst die Bonuskarte. Zum anderen, er musste ein Aufreißer sein, wenn er nicht einmal abwartete, ob Nadja ihm gefiel, bevor er die nächste Frau anflirtete.
Das Baby war mittlerweile aufgewacht und begann sofort zu schreien, was Mutter und Vater klare Rollen zuwies: Die Mutter fing an das Kleine zu stillen, der Vater hielt schützend ein rosafarbenes Tuch mit bunten Schmetterlingen um beide; das Kleine war wohl ein Mädchen. Nadja hätte auch gern Kinder gehabt, bisher war ihr das nicht vergönnt. Sie fragte sich, ob Dirk wohl Kinder wollte oder vielleicht sogar welche hatte? Möglicherweise eine Tochter, die gerade eingeschult worden war und einen Jungen, der sich morgens das Gesichtchen rot schrie, weil er nicht bei der Tagesmutter bleiben wollte. Nadja hatte vergessen ihn das in den E-Mails zu fragen. Merkwürdig, dass sie daran nicht gedacht hatte, überlegte sie jetzt. Der ältere Herr im Hintergrund verschluckte sich an seinem Americano ohne Schnickschnack. Er hustete heftig und verteilte dabei eine ordentliche Menge seines Kaffees auf dem weißen Plastiktisch. Fast unbeholfen erhob er sich aus dem Ledersessel, schlurfte behäbig zu den Serviettenständern, die zwischen den Kannen Gratiswasser mit Zitronenschale und den Dosen mit dreierlei Zucker standen. Nadja schenkte ihm keine weitere Beachtung. Viel mehr rückten nun wieder Dirk und die unverfrorene Dame in ihr Visier, denn die beiden sprachen noch immer miteinander. Ihr glockenhelles Kichern strömte über die Barhocker, brach sich in den Plastikblättern des Ficus und verstummte in Nadjas taubenblauem Plissee-Schal. Sie sah an sich herunter. War sie unpassend gekleidet für diesen Tag? Wenn Dirk auf rote Stilettos und schwarze Etuikleider stand, war sie mit ihren Comfortsneakers und der Westernjeans kein guter Schlagabtausch, so viel war klar.
Und Dirk, entsprach er denn überhaupt Nadjas Vorstellungen? Zumindest erschien er so groß, wie er es in dem Inserat angegeben hatte. 1,85m mochte er sicher sein. Blondes Haar hatte er geschrieben. Gut, sie hatte ihren eigenen Rotstich auch nicht hervorgehoben, das war verzeihlich. Aber die grünen Augen, die gefielen ihr. Wenn sie und Dirk Kinder bekommen sollten, wäre sie froh, wenn der Nachwuchs seine grünen Augen bekäme, das wäre allemal besser als ihr verwaschenes Graublau. Je länger Nadja ihn betrachtete, umso klarer wurde ihr Bild von ihm. Vielleicht war er Ire oder Australier, dachte sie. Nach Australien wollte sie schon lange einmal reisen. Die Sydney Harbour Bridge kannte sie nur von Fotos, aber wenn Dirk ihr eines Abends unter dem sanften Schein der bunten Lichter, in denen die Brücke einmal im Jahr erstrahlte, einen Heiratsantrag machen würde, ihr Glück wäre perfekt! Wieder rissen die roten Lackschuhe sie aus ihren Gedanken. Diesmal hatte sich die Frau bedankt. Erst jetzt erkannte Nadja, wofür: Dirk deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Hocker neben sich – er bot der Dame einen Platz an seiner Seite an. Er bot ihr tatsächlich Nadjas Stuhl an. Wie konnte er ihr das antun? Jetzt, da Nadja beinahe die kleine Dreizimmerwohnung im Stadtrand von Sydney eingerichtet hatte. Sie spürte, dass in ihr diese Wut aufstieg, die sie schon in vielen Momenten stärker hatte erröten lassen als es der Situation angemessen war. Wieder hustete dieser alte Kerl an der Tür zu den Toiletten. Noch grässlicher erschien es ihr nun. Und das Baby? Konnte es nicht endlich schweigen? Warum gingen diese unvernünftigen Eltern mit einem so kleinen Kind überhaupt in ein Café? Wussten sie denn nicht, dass Neugeborene besonders keimanfällig sind? Wer wusste schon, woran der Alte litt? Es konnte doch etwas Ansteckendes sein, dieser Husten. Mit einem Male erschien Nadja diese Verantwortungslosigkeit, mit der die Eltern ihren Schützling in diesen billigen Abklatsch eines Cafés geschleift hatten und mit der der Kranke das Neugeborene großer Gefahr aussetzte, unerträglich. Sie durchquerte den Raum bis zur Tür, neben der der Alte saß. Wieder blieb sie einen Augenblick stehen, richtete den Blick auf Dirk am Fenster, der jedoch nur Augen für seine neue Errungenschaft hatte. Erst das erneute blecherne Husten ließ sie weiter gehen und den Waschraum betreten. Nicht ohne Dirk noch einmal anzusehen.
Jetzt sah Nadja in den Spiegel. Unwillkürlich verglich sie sich mit diesem Flittchen, das soeben ihren Dirk umgarnte. Nadja mochte etwas älter sein und die Fältchen um ihre Augen waren in den letzten Jahren tiefer geworden, aber immerhin waren es Lachfalten – größtenteils. Sie hatte ganze zwei Kilo abgenommen für diesen Tag, hatte sich in Klarsichtfolie gewickelt durch die Nächte der letzten Woche geschwitzt, das Laufband den ausgiebigen Frühstücken mit ihrer besten Freundin vorgezogen und ihr morgendliches Croissant mit Marmelade gegen eine reizlose Scheibe Knäckebrot getauscht. Die Bluse hatte sie erst gestern gekauft, um auch sicher hineinzupassen. Gedankenverloren kramte Nadja ihren karminroten Lippenstift hervor und drehte ihn auf. Zu der Farbe hatte ihr die Verkäuferin geraten. „Der macht sie fünf Jahre jünger!“, hatte sie geschwärmt und Nadja hatte ihr geglaubt. Sie trug ihn auf, presste die Lippen aufeinander und sah noch einmal ihr Spiegelbild an. Die Verkäuferin hatte recht, die Farbe stand ihr. Überhaupt sah sie heute gut aus. Sie war noch jung, jedenfalls nicht älter als Dirk. Sie musste sich von einem dahergelaufenen postpubertierenden Modepüppchen nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Das hatte sie, Nadja, nicht nötig! Sie und Dirk passten wunderbar zusammen. Der E-Mail-Verlauf hatte es gezeigt und selbst in Modefragen waren sie sich einig. Selbstbewusst ließ Nadja den Lippenstift zurück in ihre Tasche gleiten, fuhr sich noch einmal durch ihr lockiges Haar, machte auf dem Absatz kehrt und verließ ihr Spiegelbild. Fest entschlossen sich zu holen, was ihr gehörte, verließ sie den Waschraum. Kurz hinter der Tür atmete sie noch einmal auf und fast als suchte sie weiblichen Beistand, warf sie einen Blick zu der Wand, an der eine Schwarzweißaufnahme aus Marilyn Monroes berühmtesten Tagen hing. Darunter saß noch immer der Alte im beigegrauen Leinenanzug vor seiner Tasse Kaffeesatz.
Der Alte stand unversehens auf und sagte mit rostiger Stimme: „Entschuldigen Sie, kann es sein, dass wir zwei verabredet sind?“ Jäh wurde Nadja aus ihren Zukunftsplänen gerissen. Ungläubig entsetzt funkelte sie ihn an. Er hielt ihr eine müde Nelke entgegen. Da Nadja schwieg, fuhr er fort: „Ich bin Dirk“, er lächelte schief, „ich hab dich gleich erkannt, genauso hab ich dich mir vorgestellt.“ In Nadjas Kopf rasten die Gedanken.
Der schwarze Kaffee. Davon hatte Dirk geschrieben, er mochte keine Milch. „Entschuldige, Nadja“, krächzte Dirk, „ich dachte, wenn ich dir mein echtes Alter auf Anhieb verrate, lässt du mich abblitzen.“
Die Nelke. Abgedroschen hatte sie es gefunden, als er es ihr in der letzten Mail vorgeschlagen hatte, aber irgendwie schön. „Ich bin auch kein Arzt“, unbeholfen sah er an sich herunter, „aber ich war mal Krankenpfleger, ehrlich!“
Die blonden Haare. Er lächelte und sagte gedämpft: „Ich beobachte dich schon, seit du angekommen bist. Deine Schüchternheit, deine zarte Anwesenheit, so schön, dass ich ganz ergriffen war. Ich konnte dich nicht gleich ansprechen. Aber als du mich eben angesehen hast, da war ich sicher, dass es richtig ist.“
Der Rest war gelogen.
Nadja sah zu Dirk, zu ihrem Dirk am Fenster. Er war fort, mit der Dame in den roten Schuhen.