Von Ursula Riedinger

Helena wartete gutgelaunt im Flughafen Zürich auf ihren Abflug nach Teneriffa. Noch 20 Minuten, dann würde sie das Flugzeug besteigen, dass sie ans Ziel brachte. Ein anderes Leben wartete auf sie. Über den Kopfhörer liess sie sich von einer Spanischlektion berieseln, „hola“- „guten Tag“, „gracias“ – „danke“ … Bald schon würde sie diese Sprache selbst sprechen wie eine Einheimische. Neben ihr lag ein Reiseführer, in dem sie schon alles über die Natur und das Klima in ihrer neuen Heimat nachgelesen hatte. Nun ging es los. „Flug LX8214 nach Teneriffa, bereit fürs Boarding.“

Begonnen hatte alles an einem grauen Regentag. Helena blätterte missmutig die Zeitschrift durch, die vor ihr auf dem Bistrotisch lag. Sie pflegte vor der Arbeit im Café Gnädinger einen Espresso zu trinken und genehmigte sich dazu einen dänischen Plunder. Normalerweise half dieses kleine Ritual, um einigermassen gut gelaunt zur Arbeit zu erscheinen. Die Arbeit im Büro einer Anwaltskanzlei langweilte sie zwar gehörig, die Kollegen waren aber nett und der Chef sah gut aus. Und bei der Arbeit konnte sie eine leichte Kugel schieben. Wenn die Arbeit gemacht war, beantwortete Helena ihre privaten E-Mails, machte Computerspiele oder surfte im Internet auf der Suche nach tollen Ferienangeboten. Mike, ihr Chef, hatte jedenfalls noch nichts bemerkt.

Helena war übel gelaunt. Auch ein zweiter Plunder und ein dritter Espresso wollten nicht helfen. Das lag unter anderem daran, dass Raffael, den sie letzte Woche an einer Party kennengelernt hatte, sie am Wochenende schmählich versetzt hatte. Dabei hatte es von Anfang an geknistert zwischen ihnen. Nicht einmal eine lahme Entschuldigung war von ihm gekommen.

Nachdem sie das VCS-Magazin flüchtig durchgeblättert hatte, stiess sie auf eine Seite mit Inseraten, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das Inserat, das ihr gleich ins Auge stach, lautete:

La Orotava, Teneriffa. Gesucht Mitbew. in gr. Bauernhaus, Kost & Logis für Mithilfe auf dem Hof. Melde dich Tel. +346007280 (Frank, spricht dt.)

Daneben ein wunderschönes Bild von einem grossen alten Steinhaus, ringsherum üppige Natur, Bananen, Palmen … Im Hintergrund das Meer.

Ausbrechen aus dem Alltagstrott, die Natur und die Sonne geniessen auf Teneriffa, in der Nähe das Meer. Im Garten arbeiten und es sich sonst gut gehen lassen. Helena kam ins Träumen. Das wäre doch mal was. Sie riss das Inserat heraus und ging beschwingt ins Büro.

Eigentlich hatte sie sich gewünscht, nach der Sekundarschule eine Lehre als Gärtnerin zu machen, hatte aber dem Drängen ihres Vaters nachgegeben und eine kaufmännische Lehre in einer Versicherung absolviert. Sie schaffte es ohne Mühe, aber die Arbeit langweilte sie schon damals. Auch einen interessanten Job, wie vom Vater prophezeit, hatte sie keinen gefunden. Oft versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre als Landschaftsgärtnerin zu arbeiten. In ihrer Dreizimmerwohnung zog sie auf dem Balkon Zwergtomaten und verschiedene Kräuter. Tomatensalat mit Mozzarella und Basilikum war alles, was von ihrem Traum übriggeblieben war.

Während der nächsten Tage schweiften ihre Gedanken ab nach Teneriffa. Sie las das Inserat immer wieder, googlete den Ort und die Insel. Als Raffael ihr endlich eine lahme Entschuldigung schickte, löschte sie sie gleich. Raffael war jetzt nicht mehr wichtig. Am Freitagabend wählte sie die spanische Nummer. Nach mehreren Versuchen hatte sie Frank am Apparat. Dieser war hoch erfreut von ihr zu hören.

„Schön, dass dich unser Inserat angesprochen hat. Wir leben hier im Paradies. Klar, im Moment ist es gerade etwas busy, weil es so viel zu ernten gibt. Wir machen Wein, Olivenöl, Ziegenkäse und bauen Gemüse und Obst an. Komm doch mal vorbei und schau es dir einfach an. Es wird dir gefallen.“

Bei der nächsten Gelegenheit buchte Helena einen Flug nach Teneriffa. Es war kein Problem, im Geschäft spontan eine Woche Urlaub zu bekommen.

Als sie in Santa Cruz landete, empfing sie strahlender Sonnenschein. Frank hatte versprochen, sie mit dem Auto abzuholen. Als sie aus der Ankunftshalle trat, suchte sie ihn vergebens. Als er endlich erschien, entschuldigte er sich, er sei im Stau steckengeblieben. Er war ein stämmiger Mann um die 40, trug seine langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und lachende blau-graue Augen. Er war Helena auf Anhieb sympathisch.

Als sie endlich aus der Stadt heraus waren, tat sich Helena eine wunderschöne Landschaft auf. Frank schwärmte ihr vor, wie es zu ihrer Kooperative „La manantial“ gekommen war, wer alles da war und was sie produzierten. Ein buntes Völkchen lebte auf der Finca. Aber um alles meistern zu können, sollten sie mindestens 10 Leute sein.

„Leider haben wir immer wieder Leute, die den Bettel schon nach wenigen Wochen hinschmeissen. Dann müssen wir wieder von vorne anfangen.“

Frank stellte Helena allen vor, als sie zum Nachtessen zusammenkamen. Katja hatte den Tisch gedeckt, eine junge Deutsche, die Franks Freundin zu sein schien. Dann waren da noch Sabine, eine andere Deutsche in Franks Alter, Luca und Flavia, ein junges Paar aus Italien, und Jorge, ein jüngerer Mann aus Teneriffa. Es herrschte eine herzliche Stimmung. Helena fühlte sich sehr wohl und langte herzhaft zu bei Oliven, Käse, Brot und Wein.

In den nächsten Tagen zeigt Frank ihr alles, was zur Finca gehörte, den grossen Garten, die Obstbäume, den Olivenhain, die Bananenplantage, die Mühle, die Ziegen und vieles mehr. Die Arbeit, die man hier machte schien Helena so viel sinnvoller als was sie in Zürich machte. Sie half die ganze Woche bei einfachen Arbeiten mit, kochte auch mal Spaghetti für alle und verabschiedete sich dann herzlich. Versprach, sich sofort zu melden, wenn klar war, wann sie sich freimachen konnte.

Helena musste nicht lange überlegen. Als erstes kündigte sie ihre Wohnung. Bei der angespannten Wohnsituation würde es kein Problem sein, einen Nachmieter für ihre nicht allzu teure Wohnung zu finden. Im Geschäft hatte sie zwei Monate Kündigungsfrist. Sie könnte in sechs Wochen gehen, wenn sie die zwei Wochen Ferien einrechnete, die ihr noch zustanden. Danach würde sie noch etwas Zeit brauchen, um sich sonst zu organisieren, ihre Möbel einzustellen, sich abzumelden, ihre Koffer zu packen.

Sie rief Frank an und sagte ihm, wann sie wieder in Teneriffa sein würde. Frank klang etwas enttäuscht, dass Helena nicht früher da sein konnte.

Dann war es soweit. Ihre Mutter und einige Freunde begleiteten sie zum Flughafen.

Dieses Mal holte Katja sie vom Flughafen ab. Frank sei im Krankenhaus wegen eines Bandscheibenvorfalls. Sie hätten aber zum Glück noch zwei junge Franzosen gefunden, die einige Zeit bei Ihnen verbringen würden, Colette und Jean-Marc.

Helena richtete sich gemütlich ein in ihrem grossen Zimmer im ersten Stock. Es gefiel ihr ganz gut, aber es hatte keinen Blick in Richtung Meer.

Frank blieb bis auf Weiteres hospitalisiert. Katja und Sabine, die nicht sonderlich gut miteinander auszukommen schienen, führten Helena in die anfallenden Arbeiten ein. Luca war für die Ziegen zuständig, sie sollte ihn ab und zu beim Melken ablösen und regelmässig nach dem Käse schauen. Flavia ertrug den Geruch der Ziegen nicht. Was wollte sie denn hier? Flavia übernahm den Einkauf. falls sie mal in die Stadt fahren mussten und machte sich nützlich im Haus. Melken war neu für Helena, aber es klappte nicht schlecht. Colette und Jean-Marc hatten den Garten übernommen, das war harte Arbeit und Helena half mit, wo sie gebraucht wurde. Aber die beiden waren richtige Turteltauben und in ihrer Gesellschaft fühlte sie sich manchmal wie das dritte Rad am Wagen. Sabine kümmerte sich um die Weinproduktion, sie war die Tochter einer Winzerfamilie am Rhein. Daneben hatte sie den Überblick über die Finanzen des ganzen Betriebs. Auch bei der Weinherstellung sollte Helena gelegentlich Hand anlegen. Es war nicht einfach, es Sabine recht zu machen, sie war eher verschlossen. Jorge kümmerte sich hauptsächlich um die Olivenverarbeitung, er hatte Erfahrung damit. Die Bedienung der Ölmühle war ebenfalls harte Arbeit, aber in Jorges Gesellschaft fühlte sich Helena wohl. Er nahm sie ernst und hatte ein heiteres Gemüt. Abends spielte er oft Gitarre.

Das erste halbe Jahr verging wie im Flug. Helena wurde ein wichtiges Mitglied der Cooperative. Die Schweiz vermisste sie überhaupt nicht. Frank kam zurück, aber er durfte keine schweren Lasten heben. Er wurde missmutig, da er sah, wie viel Arbeit eigentlich getan werden musste. Immer häufiger gab es Streit mit ihm. Colette und Jean-Marc waren abgereist, um ihre Ausbildung in Frankreich abzuschliessen. Auch Jorge ging nach der Olivenverarbeitung zurück auf den elterlichen Hof, wo er ebenfalls gebraucht wurde. Eines Tages ertappte Flavia Luca, als er Katja heftig abknutschte. Sie flog darauf schnurstracks zurück nach Rom. Jetzt waren sie nur noch zu fünft. Frank entdeckte bald, dass sich Katja Luca zugewandt hatte. Sie tänzelte immer um ihn herum und starrte ihm nach, wenn er wegging. Sabine blühte auf, als es ihr gelang, die Beziehung zu Frank, die es vor Katja gegeben hatte, neu zu entfachen.

Helena blieb übrig. Keine Gemeinschaft mehr, nur viel Arbeit. Die Paare waren sehr auf sich selbst fixiert. Sie fühlte sich langsam erschöpft. Der Geist der Cooperative war dahin. Niemand spielte mehr Gitarre, es gab kaum mehr heitere ausgelassene Abende. Lange grübelte Helena vor sich hin.

„Frank, Sabine, ich fliege zurück in die Schweiz.“

Die Nachricht traf die beiden unverhofft. Es gab Diskussionen, aber es war allen klar, es gab keinen Ausweg.

Kurze Zeit später schrieb Frank Helena in einem vorwurfsvollen Ton, dass sie die Cooperative verkaufen mussten. Sie hatten einen Grossgrundbesitzer gefunden, der das Landgut zu einem Ferienhaus umbauen wollte. Franks Traum war gestorben.

Aber auch Helenas Traum von einem anderen Leben hatte sich in nichts aufgelöst.

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