Von Uta Lemke

„Lächerlich.“, sagt Gerdrun während sie die aufgeschlagene Biete-Suche-Seite in der Zeitung vor sich begutachtet. „Wer stellt bitte ein Inserat in die Zeitung, um einen einzelnen Schuh loszuwerden?“ Tilda beugt sich über ihre Schulter. „Ein Kinderschuh.“, stellt sie mit einem traurigen Unterton in der Stimme fest. „Da steckt bestimmt eine traurige Geschichte dahinter.“

Gerdrun schüttelt nur abwertend den Kopf. „Sowas versucht man doch nicht mit so viel Aufwand loszuwerden. Die Anzeige wird schon mehr Geld gekostet haben, als jemand dafür ausgeben würde. Geschweige denn, dass es überhaupt eine Nachfrage für einzelne Kinderschuhe gäbe. Das kann nur ein dummer Scherz sein.“

Sie blättert die Seite um und wendet sich einem neuen Thema zu, aber Tildas Interesse ist geweckt. Nachdem Gerdrun endlich die Zeitung beiseite gelegt hat, schlägt sie die Seite mit dem merkwürdigen Inserat wieder auf. Eine Adresse steht dabei, die sie sich eifrig notiert. „Ich fahre mal eben los, was erledigen!“, ruft sie in den Flur, dann schwingt sie sich auf ihr Fahrrad und macht sich auf den Weg.

***

„Und du bist dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Das Problem einfach auf ein paar harmlose, unschuldige Fremde abzuwälzen?“ Anna sieht ihre Schwester vorwurfsvoll an. „Vielleicht hört sie dann auf. Wenn sie merkt, dass sie nicht mehr bei uns ist. Sie würde keine fremden Menschen belästigen, erst recht nicht angreifen. Es geht ihr um persönliche Rache. Wenn sie erst einmal weg ist, haben wir Ruhe.“, entgegnet diese.

Anna ist immer noch skeptisch. „Bist du dir sicher, dass das wirklich das Letzte ist, was wir noch von ihr haben? Sie kann sich einfach an einen anderen Gegenstand binden.“ „Anna, wir haben das Haus mit allem darin brennen sehen. Bis auf den Schuh, den du naiverweise aus dem Feuer gezogen hast, haben wir nichts mehr von ihr.“

„Und warum verbrennen wir den Schuh nicht einfach?“, fragt Anna, langsam etwas ungeduldig. Lucy sieht sie nur traurig mit ihren großen dunkelblauen Augen an. „Dann würden wir sie töten. Willst du das wirklich? Wenn wir den Schuh nur weggeben, dann kann sie noch weiterleben.“

„Das nennst du Leben?“, Anna schreit schon fast. „Sie ist schon tot. Und jetzt ist sie verdammt, in dieser Dreckswelt festzusitzen, weder lebend, noch tot. Jeden Tag muss sie in dieser Schwebe vor sich hin vegetieren, jeden Tag seit 10 Jahren schon. Wie kann sie da nicht zum Rachegeist werden? Wie kann sie da nicht wüten und ihre Frustration an uns auslassen, wo wir doch an dem ganzen Schlamassel erst schuld sind? Und wir erweisen ihr nicht einmal den Respekt, sie gehen zu lassen. Weil wir lieber einen wütendenden Rachegeist als Andenken von ihr haben, als die Gewissheit, dass sie ein für alle Mal weg ist. Sie ist tot, Lucy, tot. Diesen Schuh aufzubewahren hat niemanden geholfen. Ich weiß, es war sentimental von mir, ihn mitzunehmen. Aber da konnte ich ja noch nicht ahnen, wie es ausgeht.“

Bevor Lucy etwas entgegnen kann, klingelt es an der Tür. Die beiden Schwestern starren sich an. Schließlich steht Anna auf, wischt sich die Wuttränen aus den Augen, die sich da gerade angesammelt haben und geht langsam Richtung Tür.

Lucy seufzt und legt ihr Kinn auf ihrer Handfläche ab. „Bitte lass es endlich vorbei sein.“, denkt sie. Vor ihren Augen sieht sie die Flammen züngeln. Der kleine Schuh, so unscheinbar, so harmlos, in Annas Hand. Die Brandblasen von der Hitze des Schuhs sind noch lange geblieben, aber was ist das schon, gegen ein verbranntes Herz? Und was ist das schon gegen den Horror, der danach folgte, ein Jahr später, nachdem sie den Schuh in der Schachtel in der hintersten Ecke des Schrankes schon fast wieder vergessen hatten.

„Warum kannst du uns nicht einfach allein lassen?“, flüstert sie in die erdrückende Stille hinein. „Wir sind doch nicht schuld. Wir wussten nicht, wie es enden würde. Wir wollten dich retten. Wir haben dich nicht vergessen. Wir werden dich nie vergessen. Bitte lass uns einfach in Ruhe.“ Sie will weinen, will schreien, will einfach nur wegrennen.

Aber all diese Emotionen, sie sind doch schon lange vergangen. Hatten sie nächtelang nicht schlafen lassen, bis es dann langsam besser wurde, ein Jahr später, als sie und Anna sich eine neue Zukunft geschaffen hatten, ihre Vergangenheit endlich langsam verblasste, als sie dachten, jetzt könne alles wieder gut werden.

Und dann kam sie zurück. Mit aller Wucht, mit aller Wut. Wut, die sich eigentlich nicht an ihre Schwestern richtete. Erst waren sie traurig, die Erinnerung so klar und deutlich vor sich zu sehen war ein Schock. Sie hatten versucht zu helfen, die kleine Schwester zu beruhigen. Sie hatten alles versucht. Aber es hatte sich herausgestellt, dass die einzige Emotion, die sie noch fühlen konnte, die Rache war. Eine alles verzehrende, brennende Rachsucht, die sie auf dieser Welt festhielt.

Lucys Blick wird leer. Sie kann es nicht tun. Den Schuh verbrennen. Reicht es nicht, dass alles andere verbrannt ist? Muss auch noch das Letzte, was sie von ihrer Schwester noch haben, in einem Haufen Asche verschwinden? Nein, es muss eine andere Möglichkeit geben. Dieser Mensch an der Tür, er wird besser auf den Schuh aufpassen, als sie. Dieser Fremde, er wird der Schwester eine Heimat geben, ohne überhaupt von ihr zu wissen. Dort, wo sie nichts mehr an ihre Familie erinnert, wird sie vielleicht eines Tages ihren Frieden finden können. Und Lucy und Anna den ihren.

***

Tilda tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten würde sie einfach kehrtmachen. Das Haus beunruhigt sie. Nicht, weil es aussieht wie ein Gruselhaus, es ist ein Neubau, vielleicht 10 Jahre alt. Eine weiße Fassade mit einigen grauen Flecken, eine grüne Wiese mit vereinzelten Büschen darauf, ein einfaches Klingelschild ohne Namen. An der Tür hängt ein Willkommensschild. Ein ganz normales Haus, und doch. Etwas ist da, etwas Verborgenes, und es macht Tilda weitaus mehr Angst, als ein Klischeegruselhaus es getan hätte.

Sie hört laute, aufgebrachte Stimmen, die plötzlich verstummen, als sie auf das namenlose Klingelschild drückt. Dann zögerliche Schritte. Durch die Glastür sieht sie ein verheultes Gesicht. Eine junge Frau, vielleicht so alt wie sie, steht hinter der Scheibe, wie angewachsen. Tilda wird ungeduldig, dreht sich um und will wieder gehen, als die Frau die Tür aufreisst.

„Entschuldigung, dass das so lange gedauert hat.“, sagt die Frau und ihre Stimme klingt ein wenig brüchig und heiser. „Ich bin die Anna. Du bist bestimmt wegen dem Inserat hier.“
Tilda nickt wortlos. Anna schaut sie fragend an, dann bittet sie Tilda herein. „Ich bin Tilda.“, kriegt sie schließlich heraus. Der Anschein eines Lächelns fliegt kurz über Annas Gesicht. „Du brauchst keine Angst du haben. Ich hatte nur eine kleine Meinungsverschiedenheit mit meiner Schwester.“

Sie gehen durch den Flur in eine geräumige Küche, wo eine andere Frau an einem Tisch sitzt, das Kinn auf die Hände gestützt. Als sie die beiden hört, schreckt sie auf und steht auf, um Tilda die Hand zu reichen. „Ich bin die Lucy, du bist bestimmt wegen des Schuhs hier.“ Tilda nickt. „Möchtest du ihn gleich mitnehmen?“, fragt Lucy in einer Stimme, als ginge es um einen ganz normalen Schuhverkauf, nicht um den einzelnen Kinderschuh, den zwei leicht verrückte Schwestern aus irgendeinem Grund durch ein Zeitungsinserat loswerden wollen.

Tilda muss sich zusammenreißen, um nicht loszulachen. Das Ganze ist einfach zu absurd. Das Lachen bleibt ihr jedoch schnell im Halse stecken, als Anna sie nur traurig anschaut. Auf einmal fühlt sie sich grausam. Wie ein Eindringling. Was geht sie das Familienleben dieser Schwestern an? Was gibt ihr das Recht, die Geschichte hinter dem Kinderschuh erfahren zu wollen?

„Lucy, nicht.“, seufzt Anna. Lucy verzieht keine Miene. „Wir verlangen auch kein Geld.“, sagt sie schnell. „Darum geht es uns gar nicht.“ „Worum dann?“, fragt Tilda, ihre Neugier von vorhin ist auf einmal wieder geweckt.

„Bist du abergläubisch?“, fragt Lucy zurück und Anna stößt ihr daraufhin den Ellbogen in die Rippen. „Was?“, murmelt Lucy. „Das ist eine wichtige Frage.“ „Nein, nein.“, versichert Tilda, obwohl sie sich das selber nach dem Erlebnis im Vorgarten der Schwestern nicht mehr glaubt. Lucy scheint das nicht zu bemerken, oder zumindest gekonnt zu ignorieren, jedenfalls holt sie eine kleine Schachtel aus dem Regal und drückt sie Tilda in die Hand. Dann scheucht Lucy sie zur Tür hinaus und das Letzte, was sie von den beiden Schwestern sieht, ist Annas erschrockenes Gesicht, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

***

Drei Tage später steht ein anderes Inserat in der Zeitung, dieses Mal nicht auf der Biete-Suche-Seite. Annas Atem stockt, als sie es liest: Wir trauern über den Tod von Tilda M., die vor zwei Tagen bei einem Hausbrand ums Leben kam. Möge Sie in Frieden ruhen und ihr Andenken für immer in unseren Herzen bleiben.

„Wir haben den Schuh nicht verbrannt, also hat sie es übernommen.“, sagt sie vorwurfsvoll zu Lucy. Lucy sagt nichts. Sie sagt seit Tildas Besuch nichts mehr. Starrt nur wortlos auf die kahle weiße Wand in der Küche. „Warum hat sie das nicht schon vorher getan? Warum musste sie eine unschuldige Person mit sich reißen?“

Lucy dreht sich langsam und dramatisch um und blickt Anna tief in die Augen. „Liegt wohl in der Familie.“, sagt sie.