Von Daniela Seitz

Donnerstag

„Geh, ich schaffe das schon“, sage ich.

„Dein Vater ist gestorben und die Familie besetzt das Haus! Ich lasse dich nicht alleine“, empört sich Thorsten, mein Mann.

„Es sind nur meine beiden Schwestern und mein Bruder. Es ist dein Traumjob! Du hast Monate darauf hingearbeitet. Du lässt das Bewerbungsgespräch nicht sausen!“

„NEIN, ICH GEHE NICHT ZUR SCHULE“, brüllt mein achtjähriger Sohn Liam wutentbrannt und rennt noch im Schlafanzug an mir und Thorsten vorbei. Gleich hinter ihm folgt meine Schwester Sandra, die wohl gerade vergeblich versucht, ihn am ersten Schultag nach den Sommerferien für die Schule fertig anzuziehen.

„Und was ist mit Mia? Die Polizei sucht nicht nach ihr, weil sie ausgerissen ist. Ich kann doch nicht einfach weggehen, wenn meine Tochter verschwunden ist! Auch nicht für meinen Traumjob“, begehrt mein Mann auf und ignoriert, genau wie ich, den Wutanfall unseres Sohnes, der nun lautstark im Wohnzimmer tobt.

„Wir brauchen aber die Gehaltserhöhung, die mit diesem Job einhergeht. Und Mia hat uns doch gesagt, dass sie wiederkommt!“

„Du meinst, sie hat uns einen Zettel hinterlassen, auf dem steht: Macht euch keine Sorgen, ich komme wieder. Tut mir leid wegen des Geldes? Wann habe ich meine Tochter zur Diebin erzogen“, echauffiert sich Thorsten.

„Pst, nicht so laut! Du weißt, dass Liam denkt, sie sei bei meiner Oma Justine“, ermahne ich meinen Mann.

„So wie du der Schule mitteilen willst, sie sei krank? Ach Laura, was machst du nur“, seufzt Thorsten.

„Ich kümmere mich um die Familienangelegenheiten, du schnappst dir den Job“, erwidere ich entschlossen und schiebe ihn zur Tür hinaus.

 

Freitag

„Mama, wir müssen den Sarg und den Grabschmuck aussuchen. Hast du dir den Katalog inzwischen mal angesehen“, frage ich meine Mutter.

Doch sie antwortet nicht und starrt nur aus dem Fenster in den Garten. Sie sitzt auf Papas Lieblingsplatz. Ein Erker in seinem Arbeitszimmer.

„Mama, hörst du mich“, sage ich lauter und greife behutsam nach ihrer Hand.

„Was“, entgegnet sie verwirrt und scheint nur auf meine Berührung zu reagieren, als ob sie mich gar nicht gehört hätte.

„Soll ich den Sarg und den Grabschmuck für Papa aussuchen“, frage ich sanft und gebe ihr mit einem Händedruck zu verstehen, dass ich für sie da bin.

„Ja, danke Laura. Du weißt ja, wie sehr er Freesien mochte“, sagt sie zerstreut und wendet sich wieder von mir ab.

Mein Vater war ihr Lebensinhalt. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht in drei Monaten erneut Sarg und Grabschmuck aussuchen muss, weil sie wie ein Seepferdchen, kurz nachdem ihr Mann gestorben ist, ebenfalls stirbt.

Ich drehe mich um und ertappe meinen Bruder Eric dabei, wie er die Schränke durchwühlt.

„Eric, was wird das?“

„Papa hat doch immer gesagt, sein Geld sei für seine Kinder. Und ich kaufe doch gerade den Bauernhof. Da kann ich eine Geldspritze gut gebrauchen. Ich suche seine Unterlagen“, erwidert er seelenruhig.

Obwohl ich es ahnte, bleibt mir vor Überraschung die Luft weg. Eric hat zwar recht, Papa hat das immer gesagt. Aber wenn wir das Geld jetzt bereits erben, bleibt nichts für Mama übrig.

„Und Eric, bist du schon fündig geworden“, ruft meine Schwester Manuela, als sie zu uns ins Arbeitszimmer kommt. Sie verbreitet wie üblich Hektik mit ihren fahrigen Bewegungen und ihrer gekünstelten Stimme.

„Noch nicht, aber ich suche ja auch schon ganze drei Minuten“, erwidert mein Bruder genervt, der Manuela genau wegen dieser Hektik noch nie gern um sich hatte.

„Ach, ich halte das alles nicht mehr aus! Seit heute Morgen habe ich Magenkrämpfe. Ich will nach Hause! Und mein Kopf hämmert dermaßen. Dabei habe ich schon zwei Ibuprofen genommen. Zu Hause hätte ich Ruhe und …“, beginnt Manuela zu lamentieren.

„Dann fahr nach Hause und komm zur Beerdigung wieder“, unterbreche ich sie barsch und verlasse das Zimmer.

Sandra sitzt im Wohnzimmer und kümmert sich um den Text für die Todesanzeige. Sie ist die Kreativste von uns. Bei uns erscheinen die Todesanzeigen immer mittwochs und samstags. Daher habe ich sie gebeten, sich sofort darum zu kümmern, damit die Anzeige bereits samstags erscheint. Sie zeigt mir den Text. Außer den üblichen Angaben wann und wo die Trauerfeier sein wird, schreibt sie:

„Lieber Vater, Schwiegervater, Opa,

du warst der Familie die helfende Hand, der aufmerksame Ratgeber, der Steuermann in ruhiger und stürmischer See, der Kompass mit den klaren Wertvorstellungen! Egal, ob Familie, Beruf oder Hobby, stets hattest du klare Ziele und gingst deinen Weg. Völlig unerwartet bist du von uns gegangen. Danke für alles, was du für uns getan hast, wir werden dich nie vergessen!“

Schon ab dem Wort Kompass spüre ich die Tränen kommen. Wie recht Sandra hat. Er war wie ein Kompass. Wir haben unseren Steuermann verloren. Sandra sieht meine Verzweiflung und will mich trösten, aber ich wende mich ab und reiße mich zusammen.

„Das hast du super gemacht. Ich fahre gleich los und bringe das in den Druck!“

Während ich unterwegs bin, meldet sich Thorsten und fragt nach Mia. Ich erkläre ihm, dass ich gerade zwei Freundinnen von ihr abklappern werde, da diese praktischerweise auf dem Weg zum Druck wohnen. Er informiert mich, dass er das ganze Wochenende nicht da sein wird, weil er den Job bekommen hat und direkt am Wochenende loslegen soll. Aber er spürt meine Verzweiflung genauso wie Sandra und telefoniert die gesamte Fahrt über mit mir.

Bei den Freundinnen werde ich nicht fündig, daher bringe ich die Anzeige zum Druck und fahre dann weiter zu meinen Schwiegereltern. Sie wohnen neben Liams Schule und passen daher oft auf ihn auf, wenn ich entweder noch arbeiten muss oder wie heute andere Dinge zu erledigen hatte.

„Liams Stundenplan hat sich geändert. Mittwochs hat er nun sechs Stunden, so, dass ich ihn direkt nach der Arbeit selber von der Schule abholen kann“, teile ich ihnen mit.

„Willst du uns etwa nun auch unseren Enkel vorenthalten, so wie du uns Mia vorenthältst“, fragt meine Schwiegermutter spitz.

„Nein, …. Ich …“, stottere ich völlig verdutzt, weil mich ihr, für sie untypischer, Tonfall eiskalt erwischt.

„Lass Laura damit jetzt in Ruhe. Wir klären das, wenn sie wieder Zeit für uns hat“, mischt sich mein Schwiegervater, nicht sehr hilfreich für mich, ein.

„Äh…ja…danke das ihr auf Liam aufgepasst habt“, presse ich hervor und fahre mit Liam nach Hause.

 

Samstag

Mein Sohn hat schon wieder einen Wutanfall. Er hat ADHS. So viele Leute im Haus machen ihn nervös. Immerhin hat Manuela meine barsche Ansage von gestern zum Anlass genommen, beleidigt nach Hause zu fahren. Trotzdem stören Eric und Sandra allein durch ihre Anwesenheit die vom ihm gewohnte Routine. Und Mias Abwesenheit bekomme ich gerade sehr deutlich zu spüren.

„Mia kann Mathe viel besser als du Mama“, keift er. „ Warum erklärt Mia mir das nicht?“

„Liam ich habe dir doch gesagt, dass Mia jetzt Oma Justine unterstützt.“

„Aber Mia muss mir helfen. Jetzt“, verlangt er.

„Mia wird mit dir lernen, wenn sie wiederkommt. Bis dahin bin ich für dich da“, biete ich ihm an.

„STIRB! FALL TOT UM“, brüllt er und rennt aus der Küche.

Sowas hat mein Sohn noch nie zu mir gesagt. Wutanfall hin oder her. Es trifft mich hart. Ich bin zu kraftlos um ihm zu folgen. Erschöpft lasse ich mich auf die Sitzecke fallen und blättere in der Zeitung auf der Suche nach Vaters Todesanzeige. Ich werde fündig und lese sie erneut. Mia hatte eine ganz besondere Beziehung zu meinem Vater. Dass er während ihrer Abwesenheit plötzlich verstarb, wird sie sich nie verzeihen können. Mia, die bisher der ganze Stolz der Familie war. Einser-Schülerin und immer gutgelaunt. Mein Sonnenschein. Ich muss sie finden, damit sie wenigstens an der Beerdigung teilnehmen kann.

 

Sonntag

Das war die letzte Freundin, bei der ich nach Mia suchen konnte. Ohne Erfolg. Eric und Sandra sind mit Liam unterwegs. Ich bin in diesem Irrenhaus also endlich mal alleine. Ich werfe den Schlüssel auf den Küchentisch und breche dort weinend zusammen.

Ich höre sie nicht. Sie ist plötzlich hier und legt verlegen Geld auf den Tisch. Als ich endlich begreife, dass sie Wort gehalten hat und wieder da ist, stürze ich mich auf sie und zerquetsche sie fast, so fest halte ich sie.

„Mach das nie wieder, Mia“, schluchze ich und lasse sie nicht los. „Und wo verdammt warst du?“

„Bei meiner Freundin Julie. Von dem Reiterhof“, antwortet sie und befreit sich aus meiner Umklammerung.

„Opa ist tot“, bringe ich unter weiteren Schluchzern hervor. Von dem Reiterhof hatte ich bis jetzt nichts gewusst. Auch Julie kenne ich noch nicht.

„Ich weiß. Julies Vater hat mir das Inserat gezeigt. Deshalb bin ich wieder da“, presst sie hervor und ich sehe, dass sie ebenfalls verzweifelt ist. Doch die nächste Frage kann ich ihr nicht ersparen.

„Warum bist du weggelaufen?“

„Ich wollte dich nicht enttäuschen! Liam macht dir so viel Ärger. Du solltest stolz auf mich sein … und dann bin ich so dumm! Ich wollte es wegmachen lassen … dafür habe ich auch das Geld gebraucht“, erklärt sie stockend.

„Was ….“

„Es ist vollständig, ich habe es nicht angerührt! Nicht einen Euro“, unterbricht sie mich panisch. „Opa sagte immer, die Familie sei das Wichtigste. Und als ich seinen Nachruf las, habe ich mich anders entschieden. Ich will es behalten, Mama, auch wenn ich noch zu jung bin, um Mutter zu werden! Ich war weg, als Opa starb, aber ich kann für dieses Kind da sein!“

Meine 16-jährige Tochter wird Teen-Mum. Ich werde Oma. Ich ziehe sie wieder in meine Arme. Ich brauche sie. Sie ist mein Rettungsring. Und sie braucht mich!

„Opa hat Recht. Er hatte immer Recht. Wenn das deine Entscheidung ist, dann lasse ich dich nicht damit alleine! Aber du darfst nicht wieder weglaufen“, sage ich.

Endlich erwidert sie meine Umarmung. Wir weinen gemeinsam.

„Wir schaffen das! Zusammen!“

V2