Von Raina Bodyk

10 Quadratmeter, 6 große Schritte nach vorn, 3 zur Seite. Betongrauer PVC-Boden, Tisch, Stuhl, Bett, Toilette, Waschbecken. Das ist alles, was von seinem Leben übriggeblieben ist.

Karl sitzt zum zweiten Mal in Haft. Raubüberfall.

Seit Wochen hat er keine Post mehr bekommen. Anfangs schrieben die Eltern und Geschwister noch gelegentlich. Dann nichts mehr. Seine Freundin hat sich inzwischen mit einem anderen getröstet. Eintönig tröpfelt die Zeit dahin mit essen, arbeiten, Hofgang, schlafen.

 

***

 

Rita liegt zusammengekringelt in ihrem Sessel, den sie fast gar nicht mehr verlässt, Ihre Nase steckt wie immer in einem Buch.

Sie hat ihr Studium aufgegeben.

Es fing ganz allmählich mit Übelkeit an, wenn sie aufgeregt war. Im zweiten Semester bekam sie dann mitten in einer Thomas-Mann-Vorlesung aus heiterem Himmel einen Panikanfall. Es war furchteinflößend. Sie zittert noch immer, wenn sie daran denkt. Ihr Körper übernahm plötzlich die Kontrolle über sie. Herzrasen, Schweiß in Strömen, Ringen um Luft, Todesangst. Sie fürchtete, jeden Augenblick umzukippen. Hatte sie einen Herzinfarkt? Gleich würde sie vor aller Augen hilflos daliegen. Weg! Nur weg! Sie schnappte sich in fliegender Hast ihre Unterlagen und rannte mit watteweichen Beinen wie vom Teufel gejagt aus dem Hörsaal.

Ein paar Tage später hatte sie die nächste Panikattacke.

Ihr Arzt untersuchte sie gründlich. Er versicherte ihr, dass sie kerngesund sei und keinen Infarkt befürchten müsse. Dass anscheinend kein Grund für die Attacken vorlag, machte alles noch schlimmer für sie. Wie war es möglich, von jetzt auf gleich so vollständig die Herrschaft über sich zu verlieren und überzeugt zu sein umzufallen oder gar zu sterben?

Die Angst wurde ihr ständiger Begleiter. Jeden Moment konnte diese wieder die Macht über sie bekommen und sie völlig lähmen. Wie eine unendliche Bedrohung hing dieses Gespenst stets über ihr. Das Leben, wie sie es kannte, war vorbei.

Sie kündigte ihre Studentenbude, zog wieder bei ihrer Mutter ein. Pläne und Träume gab es nicht mehr.

Kurze Zeit später war es ihr nicht mehr möglich, die Wohnung zu verlassen. Schlimm war, dass sie ihre Freunde verlor. Sie bekam Panik, wenn sie nur daran dachte, sie zu besuchen oder besucht zu werden, geschweige denn, etwas mit ihnen zu unternehmen. Sie erfand immer neue Ausreden, bis sie sich nicht mehr meldeten. Sie wagte nicht, mit ihnen über ihre Krankheit (war es eine Krankheit?) zu reden. Alle würden sie für verrückt halten. Wie sollte sie erklären, wie sie sich fühlte? Keiner konnte sich das vorstellen. Wie oft hatte sie gehört: „Wenn du wirklich willst, kannst du auch.“

Ihre Mutter schleppte sie von Arzt zu Arzt. Rita konnte gar nicht mehr zählen, wie viel verschiedene Tabletten man ihr schon verschrieben hatte – ohne jeglichen Erfolg. Sie kam sich wie ein Versuchskaninchen vor. Einziges Ergebnis: ihr Körper schwemmte von all der Chemie immer mehr auf.

 

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Junger Mann, 25 J., sucht Brieffreund/in. Antworten bitte unter Chiffre 135754.

 

Rita stutzt, als sie dieses Inserat in einer Frauenzeitschrift liest. „Das ist ja mal kurz und schmerzlos! Ein Mann inseriert in einem Modeheft. Seltsam.“

Eigentlich will sie nicht hinschreiben. Nicht, dass der Mann noch auf die Idee kommt, sie besuchen zu wollen oder gar eine Beziehung sucht. Doch diese wortkarge Anzeige macht sie neugierig und sie schickt eine Antwort an die Zeitschrift.

Aufgeregt öffnet sie ein paar Tage später einen Brief mit unbekanntem Absender.

 

Liebe Rita,

ich habe mich sehr gefreut, dass du mir geschrieben hast. Ich heiße Karl. Ich muss dir zuerst gestehen, dass ich zurzeit im Gefängnis sitze. Falls du mir deswegen lieber nicht schreiben möchtest, ist das in Ordnung. Wir dürfen unsere Briefe auch nur offen abgeben und deine würden bei ihrem Eingang geöffnet, damit keiner was rein- und rausschmuggeln kann. Hättest du damit ein Problem? Ich bin noch eine ganze Weile drin und sehne mich nach einem netten Kontakt.

 

Rita gesteht sich leise ein, dass sie erleichtert ist.

Hallo Karl!
Ich war in Tränen aufgelöst, als ich deinen Brief bekommen habe! Aber bilde dir nichts darauf ein! Mein Bruder hat gerade aus Versehen die Tränengaspistole, die er irgendwo aufgetan hat, aus Versehen abgedrückt. Jetzt weinen wir hier um die Wette! Ich möchte dir gern schreiben. Allerdings muss ich gleich sagen, ‚Karl‘ und ‚Karli‘ sind in unserer Familie schon vergeben. Ich werde dich ‚Karlchen‘ nennen, wenn du gestattest. Das finde ich süß!

 

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Karl kichert belustigt über den Brief. Das scheint ja eine ganz Temperamentvolle zu sein – und lustig dazu. ‚Karlchen‘ – du lieber Himmel! Das passt ja nicht gerade zu ihm. Nach dem unerfreulichen Vormittag tut es richtig gut zu lachen.

Freddy musste heute nämlich mal wieder seine Show abziehen und hat sich mit dem Neuzugang angelegt. Der sollte gleich erfahren, wer hier im Knast das Sagen hat. Der Neue hat sich vor Angst bepisst. Wahrscheinlich ist er zum ersten Mal eingebuchtet. Alle haben vor Schadenfreude gejohlt – froh, dass es nicht sie getroffen hat.

Später nimmt Karl den armen Kerl zur Seite: „Ich geb‘ dir einen guten Rat: Nicht auffallen, nicht aus der Reihe tanzen. Stell‘ dich gut mit Freddy. Nie jemand bei den Wärtern anschwärzen, sonst bist du bei allen unten durch. Halt dich an die Regeln, sonst wird es schmerzhaft.“

 

***

 

Am übernächsten Tag hält Rita Karlchens Antwort in den Händen. Er muss sich sofort hingesetzt und geschrieben haben. Sogar ein Bild hat er mitgeschickt. Im Anzug, mit breitem Grinsen. Er scheint Humor zu haben.

 

Liebe Rita,

anbei ein Foto aus besseren Zeiten. Eigentlich bin ich nicht so der Anzugtyp, aber meine Mutter verlangte von mir letztes Jahr für eine Familienfeier ‚anständige Klamotten‘.

Hier herrscht jeden Tag die gleiche Routine. Ich arbeite in der Schreinerei, sonst vergehen die Stunden überhaupt nicht. In der freien Zeit gibt es Angebote wie Malen, Töpfern und so ein Zeug. Aber das ist was für Mädchen. Ich lese lieber.

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Rita ist begeistert, dass er auch eine Leseratte ist. Schnell führen sie per Brief heftige Debatten über Ufos, die Beatles, antiautoritäre Erziehung, die Emanzipierung der Frau, aber auch über so hochwissenschaftliche Fragen wie die, wo wäre ein drittes Auge für den Menschen am besten angebracht: am Hinterkopf, auf der Stirn, auf der Fingerspitze?

 

Rita schüttelt mit zitternden Händen eine Tablette aus dem kleinen Porzellandöschen, das sie immer bei sich hat. Heute hat ihr Bruder Geburtstag und hat die ganze Familie zu sich eingeladen. Warum gerät sie schon wieder in diese zittrig-bange Aufregung? Es geht doch um ihren Bruder und er wohnt nur zwei Kilometer entfernt. Trotzdem – sie kann doch nicht einfach da zusammenbrechen. Sie versucht, sich selbst Mut zu machen: „Dir passiert schon nichts, die wissen doch alle, was mit dir los ist. Du kannst jederzeit verschwinden ohne dich zu blamieren. Reiß dich zusammen!“ Ihr Herz beginnt zu jagen, klopft bis in die Schläfen. Sie hat das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Angst vor der drohenden Panik löst diese erst recht aus und macht sie völlig wehrlos.

„Mama, ich kann nicht mit. Mir geht es zu schlecht.“ Sie bricht in Tränen aus. Ihre Mutter schaut sie hilflos und voll Mitleid an.

 

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Martin, Karls Zellennachbar, plagt die Neugier: „Von wem kriegst du eigentlich dauernd Briefe? Das sind doch mindestens drei in der Woche! Hast du eine Frau draußen?“

„Nein, eine Brieffreundin. Sie ist Studentin.“

„Und die schreibt dir so oft und viel?“

„Wir verstehen uns halt gut. Sie ist total witzig und hat die ausgefallendsten Ideen.“

Martin wendet ein: „Aber du weißt schon, was diese Knastbräute für seltsame Weibsbilder sind? Die kriegen keinen ab und werfen sich dann irgendwelchen Häftlingen an den Hals. Egal, wofür sie sitzen. Spricht die Deine schon von ihrer innigen Zuneigung und will dich besuchen?“

„Rita ist keine Knastbraut! Wir schreiben uns nur ganz normale Briefe.“

„Das ist aber nicht normal! Du bist im Knast und die ist eine Studierte. Meinst du etwa, die will draußen etwas mit dir – nichts für ungut – zu tun haben?“

„Das verstehst du nicht,“ hat Karl das letzte Wort.

 

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Die Briefe werden immer länger, oft mehrere Seiten, mal nachdenklich, mal lustig, mal streitbar. Sie sind auf einer Wellenlänge.

Ritas Mutter macht sich Sorgen, dass Karl einen unguten Einfluss auf diese haben könnte: „Schatz, es freut mich ja, dass du so einen schreibfreudigen Brieffreund hast. Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, was du machst, wenn er entlassen wird? Bist du in ihn verliebt?“

„Nein! Natürlich nicht.“

„Weiß er das?“

„Klar! Wir schreiben uns doch nur! Und entlassen wird er sowieso noch lange nicht.“

Warum versteht die Mutter nicht, wie wichtig ihr Karlchens Briefe sind? Mit ihm fühlt sie sich weniger einsam und einfach normal. Na ja, zugegeben, von ihren häufigen Panikattacken hat sie nichts geschrieben. Das ist ihr peinlich und geht ihn nichts an.

„Kind, du willst dich doch nicht mit einem Ex-Häftling unglücklich machen? Soll der etwa hier ein und aus gehen? Wer weiß, ob er nicht rückfällig wird.“

„Quatsch! Das wird er nicht. Hat er versprochen!“, erwidert Rita vertrauensvoll.

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***

 

„Martin“, verkündet Karl in seiner Zelle voll Begeisterung, „ich komme in einer Woche raus! Wegen guter Führung. Das haben die mir gerade mitgeteilt. Ich habe eine klasse Idee: Ich werde zu Rita fahren und sie überraschen.“

„Na, die wird sich freuen! Denkst du, die hat nur auf dich gewartet?“

„Wieso nicht? Wir verstehen uns prima. Ich werde ihr das Buch, dass sie mir geliehen hat, persönlich vorbeibringen. Ich werde nur schweigend dastehen und ihr den Roman hinhalten. Wetten, dass sie gleich loslacht?!“

Sein Kumpel schüttelt den Kopf: „Klar. Wahrscheinlich fällt sie dir gleich um den Hals. ‚Ich liebe dich, komm rein!‘ Du spinnst. Du bist ein Knacki!“

 

***

 

Es schellt.

Die Stimme der Mutter: „Rita machst du mal auf?“

 

Er steht vor der Tür, ihr Buch in der ausgestreckten Hand und grinst erwartungsvoll, als sie öffnet.

 

Die Tür knallt wieder zu.

„Warum hast du alles verdorben?“ flüstert Rita.