Von Kornelia Wulf
Er hatte es in der Zeitung gelesen. Auf der Annoncenseite. Unter der Rubrik „Bekanntschaften m./w., spätere Heirat nicht ausgeschlossen.“
„Kultivierte Sie, Adelsspross in 17. Linie; gepflegte Erscheinung. Achte auf gesunde Ernährung und treibe regelmäßig Sport. Besonderes Merkmal: rassige Hinterfront.
Nicht pensionsberechtigt, Mehrgenerationsvermögen und standesgemäße Immobilie jedoch vorhanden. Ich suche den Spätromantiker der letzten Stunde. Kontrollierter Bauch- und Bartwuchs willkommen. Profunde Kenntnisse in den Sparten Klassik und Literatur werden vorausgesetzt. Bitte beachten! Sehr wichtig! Alkoholiker und Nikotinsüchtige, meldet Euch nicht! Postalische Rückmeldungen dieses Personenkreises werden umgehend geviertelt und geschreddert.“
Alfons betrachtet sich im Ganzkörperspiegel. Er streicht über den sorgfältig gestutzten Spitzbart, zieht den Bauch ein. Auf dem löchrigen, vergilbten Oberbettbezug in dem Schlafzimmer seiner Sozialwohnung türmen sich die guten Kleidungsstücke. Die Guten aus der guten Zeit. Er zupft die dezent gemusterte Fliege gerade. Beige braun gemusterter Hahnentritt. Er kräht die schnarchende Sonne an, die sich hinter dunstigen Wolken versteckt. Sein Blick gleitet über das Beerdigungshemd, das steif auf der Bettdecke steht. Dreimal gewaschen und viermal mit Wäschestärke malträtiert. Und nicht nur die Oberbekleidung wurde einer gründlichen Sanierung unterzogen. Seit dem Samstag vor vier Tagen, als er die Annonce in der Zeitung entdeckte, bearbeitet er sein Gebiss. Schrubbt es mit den in Essigessenz getränkten nach außen gebogenen Borsten seiner antiken Zahnbürste. Mittlerweile leidet sie an Haarausfall. Nur noch drei mickrige Plastikstachel ragen aus dem mit Plaque überzogenen Bürstenkopf. Und dreimal am Tag ertönt ein markerschütterndes Gurgeln in dem fensterlosen Bad. Das selbst die schwarz bepelzten Punktsporen auf der klammen Raufaser in der rechten Duschwandecke erschreckt. Er spült mit Pfefferminz und Salbei. Kumpel Fritz berichtete darüber, dass Dujardeng und Korn sich lange in den Atemwegen festsetzen. Es knackt, als Alfons den Kopf dreht. Er massiert den schmerzenden Nacken. Seit Samstag klemmt der Berthelsmann Opernführer aus dem Jahr 1965 unter seinem verklumpten Polyesterkopfkissen. Und erst gestern wühlte er in der alten Bücherkiste auf dem Dachboden, in der sich nur noch eine einzige braun gesprenkelte Buchseite befand. Auf der Herr Permaneder mit Sahnesilben schmiert und versucht, Toni Buddenbrock zu becircen. Den Rest des literarischen Schatzes fraß der Wurm. Er zerfiel zu schwarzem Letterstaub.
Noch einmal fährt Alfons Hand über seinen Bart, glättet das gelackte Haar.
Dann klappert die Wohnungstür. Auf der abgeblätterten Lackschicht zur Flurseite prangt ein verschnörkeltes Sprayerkunstwerk. Und über die Türmitte schlängelt sich ein ketchupfarbenes Schriftband, auf gesprüht mit dicker Düse. „Stay home, ol`man. Die Lügen fressen das Licht auf.“
Doch Alfons stiert nur nach vorn, giert nach der Sie, der Sie mit rassiger Hinterfront. Er hastet über das Trottoir, biegt um die Ecke und sieht schon den 666er. Der Bus schnauft und stöhnt, als er die Tür öffnet. Alfons wählt einen Fensterplatz in der Mitte und fältelt den Staubmantel sorgsam über die Knie. Aus seiner Hand ragen fünf Tulpen. Geliehen. Aus dem Garten seiner Nachbarin, unter Einsatz seines Lebens. Frau Hammersbruch hetzte Ares auf ihn, Ares, die belgische Bulldogge. Eine schleimige Seiberspur und eine Klinke im Hosenbein seiner letzten Jeans zeugen von diesem Drama. Und ein spitzer Dornfortsatz im Maschendrahtzaun. Der traf ihn an ganz empfindlicher Stelle.
Die Busräder passieren die Hochhaussiedlung am Stadtrand. Rollen im monotonen Rhythmus. Sie klappern die Schläfersymphonie. Und Alfons Augen fallen zu, sein Kopf sackt zur Seite. Während ein leises Schnorcheln durch seine Lippen dringt, huschen Traumfetzen vorbei. Bilder mit prall schwellenden Hautschnipseln, sonnengebräunt, schweißtropfende Kurvenpuzzleteile, als plötzlich ein Knall seine Lider auseinander reißt. Es knackt. Alfons schrickt auf. Er sieht ein schwarzhaariges Kind. Schmutziger Schnodder tropft auf seine Lippen. Es springt von dem Bankett neben der Fahrbahn auf eine Wiese und flüchtet hinter Büsche, die mit Unrat übersät sind. Plötzlich gleitet ein graues Pelzbündel über die Busfensterscheibe. In Zeitlupe. Zieht eine knochenverklebte, schmierige Blutspur hinter sich her. Alfons blinzelt in die Landschaft, heute rosa gefärbt.
Der Bus zuckelt an Wiesen und Felder vorbei, die Häuser scheinen ausradiert zu sein, als der Fahrer endlich stoppt. „Endhaltestelle, alles aussteigen“ brummt sein Bariton durch das Mikrofon. Alfons Blick schweift. Er ist der letzte und einzige Fahrgast.
Und der Weg führt ihn nach rechts zu einem Eisentor. Dunkler Glanz klebt wie Pech an den geschmiedeten Ornamenten. Er hört einen Schrei, der durch den Spätabend hallt und die Sonne zu verschlucken scheint, als das Tor sich quietschend öffnet. Seltsame Blütenköpfe umschlingen die Torstangen. Alfons verschränkt die Arme vor seinem Körper, macht sich dünne, während er hindurch tritt, als könnten die stählernen Knospen nach ihm schnappen. Dann starrt er durch einen Laubbogen auf ein Holztor, geschmückt mit feinem Schnitzwerk und geschwärzten Messingbeschlägen, das ihn an die Einlasstür in ein hochherrschaftliches Bauwerk erinnert. Es bildet den Endpunkt einer schnurgeraden Allee. „Adelsspross in 17.Linie“, flutscht durch seinen Kopf. Er hastet vorwärts, beginnt fast zu rennen. Doch je mehr er seine Muskeln knechtet, umso weiter entfernt sich sein Ziel. Plötzlich scheinen die Baumwipfel sich zu bücken. Äste wollen ihn umarmen, ihre wie mit der Feile zu Krallen geschärften Spitzen schrammen ein Muster in sein Gesicht und seine Arme kreisen, sie rudern durch wild wucherndes Grün. Alfons gerät ins Straucheln, als die Lederkappen seiner Slipper gegen etwas Hartes stoßen. „Gott sei Dank“, betet er, „Ein Baumstumpf“, und lässt sich auf der runden Fläche nieder. Die Wäschestärke, die sein Hemd stützte, zerfließt zu Salzsuppe. Fahlgraue Baumwolle klebt an seinem Körper. Ein Zentnerdruck walzt über seine Brust, sie rasselt. Es fühlt sich an, als sauge Alfons die Luft durch einen Strohhalm ein. „Das hier ist nicht wirklich“, Alfons Gehirnzellen rattern. „Gleich blendet eine Fernsehkamera auf und eine freche Hämestimme wird schreien, „Vergockelt, vergockelt, du alter Hahnrei, verstehst du Spaß?“
Doch dann weiten sich seine Augen. Folgen den Spalten, die sich um seine Schuhsohlen bilden, sich dann kraterförmig öffnen bis bleiches Wurzelwerk aus der Tiefe hervordrängt. Es schlängelt sich in seine Hosenbeine, saugt sich fest auf der erstarrten weißen Haut. Die Krampfadern pumpen und schreien. Pling, ein Hemdärmelknopf springt in Alfons Nasenloch. Er prustet noch, als diese Monsterpflanze seine Schultern erreicht und seine Oberarme zerquetscht. Mit geschlossenen Lidern fährt er sein PDF Traumload hoch. Es malt ein Trugbild von Schenkeln, Hintern, Brüsten, das blitzartig wieder in Wurzeln zerfällt, die ihm den Atem rauben und locken.
Und als er die Augen wieder öffnet, glaubt er tatsächlich, dass ein Wahnhauch seine Sinne vernebelt. Eine Blütendolde tanzt und kreist vor seinem Gesicht, ein violetter Hauch, rund wie sein letzter Suppenteller. Alfons glaubt einer optischen Täuschung zu erliegen, als der weiße Blütenstempel sich windet und dreht, sich zu einer Nase formt, und- sein Herz verweigert für einen Moment seinen Dienst- aus den amethystenen Schattierungen zwei Kugeln wachsen, die ihn anstarren, fixieren, giftgrün gefärbt wie Panther Pupillen. Feine Pflanzenadern wölben sich, plustern, sie öffnen und schließen sich, wie ein fetter Frauenmund. „Schhh….Schhhh…“, zischt es heiser durch die Blätter, „Ein stachliger Ziegenbart, kratzig und schön apart. Wie heißt er, wohin?“ Alfons opfert die letzte Luftreserve, „Al..fons, Spät…romant…ker“, keucht er. „Und stinkt Absinth in unserm Wind?“ kreischt das Pflanzenwesen bis die Stimme wie Glas zerspringt. Es peitscht an seinem Blütenstengel durch das Geäst. Der Kahlschlag trümmert. Infernogleich. Dann bohrt es die Stempelnase in seinen Schlund. „Dujardeng und Korn“, knurrt es, „Du bist verlorn.“ Und die Lippenwülste packen ihn am Hemdkragen, ziehen ihn in die Senkrechte. Der Blütenstengel schlingt sich um seine Mitte, saust hinab, schießt wie ein Pfeil durch die dürren Schenkel und zurrt sich dann fest wie ein Seil. Unten, an der ganz empfindlichen Stelle. „Geviertelt!“ gurgelt das Fotosynthesemonstrum und öffnet das Molochmaul. In seinen letzten Sekunden denkt Alfons an seinen letzten Job, nicht an den Guten aus der guten Zeit. Er beugt das Genick vor diesen Zahnnadeln, geschärft wie Skalpellschneiden aus Stahl. Hört das Rattern, das ihn an die Müllbeißer der Recyclinganlage erinnert, in der er mehr als zehn Jahre seinen Dienst leistete.
Und seine Augen tauchen ein in den Tunnel, in das tote, schwarze Licht…
… und die Sie, sie haucht „Versprochen heißt nicht gebrochen. Geschrrrrrrrr…!“