Von Amelie Sorglos

Ganz oben im Dorf liegt das Haus, aus dem eine junge Frau am frühen Morgen durch die Tür ins Freie tritt und den Weg zu der steilen Treppe einschlägt, die hinunter zum Dorf führt.  Ihre blonden Haare sind zu einem kunstvollen Knoten geschlungen, das weiße Sommerkleid umspielt ihre Figur. In dem hellen Leinenbeutel, den sie über der Schulter trägt, verbirgt sich ein selbst gebackener Kuchen, etwas Obst und Schokolade. Greta ist in Begleitung eines kleinen weißen Hundes, den sie an der Leine führt.
 
Behände laufen sie die Stufen hinunter zum Marktplatz, durchqueren enge Gassen durch die der Wind bläst. In den Restaurants und Cafés, unten auf der Promenade, sitzen vereinzelt Touristen beim Frühstück in der Morgensonne. Ein feiner Kaffeeduft schwebt in der Luft.

Vor dem Nachtcafé wird sie schon erwartet. Fritz steht in der offenen Tür.  „Hallo Greta! Hallo Charlie!“ , ruft er den beiden zu.

Charlie wedelt mit dem Schwanz. Er kennt Fritz und freut sich auf das Leckerchen, das er gleich bekommen wird.

Greta lächelt und drückt dem jungen Mann die Leine in die Hand. „Ich bleibe heute etwas länger“, sagt sie, „ist das für dich in Ordnung?“

„Kein Problem. Grüße deinen Vater!“

„Danke!“, sagt Greta. Beim Weiterlaufen dreht sie sich noch einmal um und winkt.  Immer diese Lügen, denkt sie. Fritz ist ein freundlicher junger Mann, dem sie zweimal im Monat ihren Hund anvertraut.  Mein Vater ist krank, er mag keine Hunde, kann Charlie eine Weile bei dir bleiben, hatte sie ihn gefragt. Für ein Trinkgeld macht er das gerne.

 Greta hat ein Geheimnis, und das hütet sie streng. Greta ist verliebt, verliebt in einen Mörder.

Vor zwei Jahren fand sie Udos Anzeige im Internet.

 

Hier kommt mein Herzenswunsch! Ich suche eine liebe Frau im Alter von ca. 35 – 50 Jahren für den ganz normalen Wahnsinn einer echten Brieffreundschaft. Bin eine rheinische Frohnatur, 185 cm groß, sportliche 90 kg schwer und von Beruf Schweißer. Meine Hobbys sind u.a. Reiten, Schwimmen, Tanzen, Zeichnen, Kochen und Backen. Trotz meiner Inhaftierung bin ich ein ehrlicher Mensch, liebevoll, einfühlsam und romantisch veranlagt. Und nun wäre es toll wenn Du mir schnell schreibst damit ich dir sofort antworten kann.

Sie wurde neugierig und hatte ihm geschrieben.

Nur wenige Wochen später bekam sie eine Antwort. Er bedankte sich für ihre lieben Worte, schrieb von seiner Einsamkeit, seinen Träumen und dass er sich über weitere Briefe von ihr freuen würde. Er versicherte ihr, dass er kein böser Mensch sei und dass sie ihm vertrauen könnte.

Alles was er schrieb gefiel ihr, sie schrieb zurück.

Jetzt ist sie auf dem Weg zu dem Mann, den sie „meinen Liebsten“ nennt. Groß und stark ist er, mit grauen Schläfen und strahlend blauen Augen. Udo sitzt im Gefängnis, dass er ein Mörder ist, verdrängt sie. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Mann getroffen, der so einfühlsam war, mit dem sie sich über so viele Gemeinsamkeiten austauschen konnte. Meine Prinzessin nennt er sie und dass er davon träumt, sie eines Tages auf Händen zu tragen. Er schreibt von Sehnsucht, von Ängsten und Hoffnungen. Die Briefe füllen nicht nur ihre Schubladen, sie füllen auch ihr Herz mit Wärme und Zärtlichkeit. Sie ist in ihn verliebt, Greta schwebt auf Wolke sieben.

Nur noch den Berg hoch, gleich hat sie das Gefängnistor erreicht. Seit einem halben Jahr besucht sie Udo zwei Mal im Monat. Eine Stunde lang sitzen sie sich gegenüber und reden über Belanglosigkeiten. Egal, sie schauen sich in die Augen und freuen sich über diese kleine Stunde, die doch so groß und wichtig ist im Leben von ihnen beiden.

Heute wird alles anders sein. Gretas Herz trommelt in der Brust. Mein Antrag ist genehmigt, wir dürfen uns in einer Liebeszelle treffen. Endlich kann ich dich in meinen Armen halten, hatte Udo geschrieben.

Gretas Schritte werden kürzer, sie zögert weiter zu gehen und bleibt stehen, greift sich ans Herz. Angst, ja, sie hat Angst. Wie wird er reagieren? Alles weiß er über sie, bis auf eine Sache, die hat sie ihm verschwiegen. Von ihrer Krebserkrankung und dem Verlust der einen Brust, von der breiten Narbe, schrieb sie nie. Sollte sie es trotzdem wagen? Ihre Sehnsucht ist groß, größer als die Angst vor seinen Blicken.

Ein Beamter durchsucht Gretas Beutel. Ein wenig Obst, Schokolade und den selbstgebackene Kuchen darf sie mitnehmen, dann betritt Greta das Zimmer, in dem sie die nächsten drei Stunden mit Udo verbringen wird.

Udo betritt den Raum. Der Mann ist groß und kräftig, glatt rasiert, er duftet nach Old Spice  und sein Gesicht ist von einem Lächeln erhellt.

Gretas Herz schlägt bis zum Hals, jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Er kommt auf sie zu, öffnet die Arme und zieht sie an sich. „Wie lange habe ich darauf gewartet“, sagt er und vergräbt sein Gesicht an ihrem Hals. „Prinzessin, Liebste, ich freu mich so auf dich“, flüstert er, nimmt ihr Gesicht in seine Hände und bedeckt es mit zarten Küssen. Greta ist erregt, sie zittert und findet keine Worte. Udo führt sie zum Sofa und zieht sie neben sich, legt seine Hände auf ihren Rücken und murmelt ihr ins Ohr, wie sehr er sie begehrt. Greta atmet schwer.

„Wie geht es dir, Prinzessin?“, fragt er, während er sich an den Knöpfen ihres Kleides zu schaffen macht.

„Gut, gut“, flüstert sie. Das geht mir alles viel zu schnell, denkt sie. Ich muss ihn aufhalten.

„Ich habe Kuchen gebacken. Hoffentlich magst du Käsekuchen?“ Greta steht auf, hebt den Beutel hoch und langt hinein. „Schau mal, ein großer Kuchen!“

„Wunderbar, ganz toll! Vergiss den Kuchen, ich will dich!“, lacht der Mann und zieht sie mit schnellem Griff dicht an sich heran.

Greta fühlt seinen heißen Atem in ihrem Gesicht, sieht die Gier in seinen Augen und fühlt den starken Druck seiner Hände, mit denen er sie festhält. Sie windet sich in seinen Armen, doch es gibt kein Entkommen. Blitzschnell öffnet er ihr Kleid und versucht ihre Brust zu entblößen. Gretas Herz droht zu zerspringen, Panik macht sich breit, Angst schnürt ihr die Kehle zu und droht sie zu ersticken. „Nein, Nein“, röchelt sie, bietet alle Kräfte auf, um den Mann zurück zu drängen, den sie doch so liebt. „Bitte nicht!“, flüstert sie. Tränen rollen über ihre Wangen. Halbnackt sitzt sie jetzt vor ihm, sein Blick ist auf die Narbe gerichtet. Da lässt er von ihr ab. „Scheiße!“, schreit er und dreht sich weg. Auf einem Stuhl sackt er in sich zusammen und vergräbt das Gesicht in den Händen.

 „Geh‘, ruft er, geh und komm nie wieder!“

 

 Die untergehende Sonne färbt den Himmel tiefrot. Greta hat das Fenster weit geöffnet, ihre Gedanken rasen. Was ist passiert? Aus, alles aus. Und jetzt? „Udo“, flüster sie. „Udo!“