Von Florian Ehrhardt

Montag

 

Nicole Müller – Stefan Erdmann

 

Jemand hat an einem ganz normalen Montag die vierte Seite der lokalen Tageszeitung gekauft. Niemand weiß wer es war, niemand erkennt den Sinn dahinter. Auf Seite Vier der Neustädter Post stehen die beiden Namen. Schriftgröße 12, Arial. Zentral. Schwarz auf Weiß. Denn ansonsten ist die Seite leer. Schon allein das reicht natürlich, um in einer Kleinstadt für Aufregung zu sorgen. Wer hat die Namen drucken lassen? Wer hat überhaupt so viel Geld? Besorgte Anrufe gehen in der Redaktion ein. Wer sind Nicole Müller und Stefan Erdmann? Am Nachmittag sieht sich die Zeitung gezwungen, auf die wilden Gerüchte zu reagieren. Ein anonymer Anrufer sei für die Anzeige verantwortlich, 50.000 Euro war ihm der Streich wert.

Ich schreibe diese Zeilen genau jetzt, Montagabend 22:51 Uhr, denn was im Verlauf des Abends geschieht, versetzt die Stadt endgültig in Aufruhr. Über die sozialen Netzwerke verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Nicole Müller und Stefan Erdmann sind tot. Ich habe sie beide nicht gekannt, aber die beiden sind wohl schon seit ihrer Geburt Neustädter gewesen. Er starb gegen acht Uhr bei einem Autounfall an der Ortsumfahrung, sie wurde eine knappe Stunde später tot in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Von der vierjährigen Tochter. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Beide Toten waren unter 30. Ich möchte diesen Tag vergessen.

 

 

Dienstag

 

Eberhard Dressler – Stefanie Gussmann

 

„Hey Schatz, hast du das gesehen? Schon wieder zwei Namen!“

Klar habe ich es gesehen. Bin ja nicht dumm.

„Selbst wenn ich es nicht gesehen hätte Tom, im Büro haben alle darüber geredet!“

„Bei uns war es genauso! Ein Kollege hat gemeint, er kennt diesen Eberhard aus dem Musikverein. Der ihre WhatsApp-Gruppe hat heute keine Ruhe gegeben! Alle zwei Minuten hat sich wohl jemand nach dem Eberhard erkundigt. Richtig Süß!“

„Naja, die Sorge ist doch sicher berechtigt, oder?“, sage ich, während ich meinen Mantel ausziehe. Es ist ein kalter Novembertag gewesen. Bestimmt wird die Nacht noch kälter.

„Heute bist du wieder mit Kochen dran, Tina!“

„Ja ja. Wolltest du mich nicht mal wieder zum Essen einladen?“
„Es ist viel zu kalt um rauszugehen. Die Nacht wird eisig.

Kann er Gedanken lesen? Also stelle ich mich doch in die Küche.

Zehn Minuten später bringt sein „Scheiße!“ mich fast dazu, den Kochlöffel ins halbfertige Chili con Carne zu werfen.

„Was ist?!“

„Felix hat geschrieben!“

„Welcher Felix denn jetzt?“

„Na mein Kollege von dem ich dir vor fünf Minuten erzählt hab‘!“

Mir schwant Übles. „Was schreibt er?“ Ich weiß die Antwort eigentlich schon. Meine Stimme zittert ein bisschen.

„Dieser Eberhard ist tot!“

Ich atme tief durch. „Wie alt war er? Vielleicht wars der Stress?“ Ich höre eine Polizeisirene in der Ferne. „Das ist die Frau.“, murmele ich.

Chili con Carne hat noch nie so schlecht geschmeckt. Ich führe mit Tom ein schreckliches Gespräch über die aberwitzigsten Verschwörungstheorien und verabschiede mich mit einer gespielten Migräne ins Bett. Wobei: Kopfweh habe ich jetzt tatsächlich.

 

 

Mittwoch

 

Vincent Jäger – Melanie Stücklen

 

„Was denkst du wie reich dieser Verrückte ist?“

„Sehr reich. Und mindestens genauso geistesgestört!“

„Wer kann sich denn bitte leisten, die Seite Vier in der BILD für Werbezwecke zu kaufen?“

„Ja, jetzt weiß es ganz Deutschland.“ Bis gestern waren nur die Lokalmedien interessiert. Regional-TV, das normalerweise über das Brunftverhalten von Bibern im März berichtet. Die Post berichtet erstmal nicht mehr. Der Chefredakteur hat die Ausgabe für heute ausfallen lassen. Zum ersten Mal seit dem Hochwasser von 1994. Den Verrückten scheint es nicht gejuckt zu haben, große Zeitungen verkaufen schließlich auch Werbeflächen.

Marie schlürft an ihrem Kaffee. „Was denkst, wie lange dauert es, bis es einen trifft, den wir kennen?“

„Tom hat schon den Mann von gestern über eine Ecke gekannt. Außerdem ist die Sache spätestens übermorgen aus der Welt.“ Ich wünschte, ich könnte mir selber glauben. „Hunderte Polizisten arbeiten an dem Fall, die werden das rausfinden!“ Wen versuche ich hier zu überzeugen?

Gerd kommt in den Pausenraum gerannt. Ich weiß was er sagen wird. Sein Toupet fliegt fast von seiner Glatze. „Beide tot! Innerhalb von 20 Minuten! Blitzeinschlag und mal wieder Autounfall!“

Ich habe Angst. „Ich mach Feierabend!“ Mit diesen Worten renne ich aus dem Büro.

 

 

Donnerstag

 

Till Mohrmann – Johanna Wechsler

 

Diesmal standen die Namen nicht in der Zeitung. Ein Radiomoderator hat sie verlesen. Um 8:04 Uhr, um 9:04 Uhr und um 10:04 Uhr. Er hat die Order als Mail bekommen. Natürlich von einem Account, den niemand zurückverfolgen kann. Und mit der Drohung, dass man seine Familie erschießen würde, wenn er die Namen nicht verliest. Ich bin krank. Liege mit Fieber im Bett. Ich will nichts von dieser Stadt sehen, mein abgedunkeltes Zimmer fühlt sich sicher an. Aber ist in unserem bescheidenen Städtchen überhaupt irgendjemand noch sicher? Vielleicht geht es mir morgen wenigstens wieder gut, wenn ich mich ausschlafe.

 

 

Freitag

 

„Endlich ist dieser Terror vorbei!“ Tom sieht wirklich erleichtert aus.

„Ja, und jetzt ist sogar schon Wochenende! Sollen wir morgen vielleicht mal wieder in die Therme fahren? So um zu feiern, dass wir diese Scheiße überstanden haben?“

„Klar doch, Tina! Aber jetzt sei bitte leise, die Tagesschau fängt an. Ich will wissen, ob die nochmal über uns berichten. Irgendwie finde ich diesen Medienrummel cool.“

 

Ein gestresst aussehender Jan Hofer flackert über unseren Bildschirm.

 

„Der Terror in Neustadt geht weiter. Ich wurde gerade gebeten, zwei Namen zu verlesen.“ Dem sonst so souveränen Nachrichtensprecher stockt der Atem.

„Die…die Namen sind…Jan Dibau und Hanna Fender. Die Polizei ermittelt und bittet alle Neustädter, in ihren Häusern zu bleiben. Die Situation sei unter Kon…Kontrolle.“

 

Unser Fernseher wird schwarz. Zwei Sekunden später flimmert ein Textband am unteren Bildrand entlang: BITTE ENTSCHULDIGEN SIE DIE TECHNISCHE STÖRUNG.

 

Tom ist kreidebleich geworden. Ich bestimmt auch.

„Was machen wir denn jetzt?!“ Ich bin entsetzt, wie schrill meine Stimme klingt.

Tom stockt kurz der Atem. „Ruhe bewahren. Und hoffen, dass wir nicht die nächsten sind.“

„Tom! Ich habe Angst!“

„Ich auch.“

 

 

Samstag

 

Paul Herbacher – Julia Wagner

 

Ich will das nicht mehr! Heute kamen die Namen per Post. Ich muss hier weg! Aber es soll ja niemand das Haus verlassen. Wenn ich durch die Spalten im Rollladen schaue, kann ich sehen, wie es auf der Straße nur so vor Polizisten wimmelt. Sie mussten auch die Briefe verteilen. Postboten stehen schließlich auch unter dem gut gemeinten Hausarrest. Soldaten sind auch unterwegs. Sie marschieren durch unsere einst so schöne Stadt, zertreten das bunte Laub, das sonst im Herbst so schön unsere Straßen säumt, mit ihren dreckigen Stiefeln. Paul Herbacher und Julia Wagner hat das nicht geholfen. Nein, die Sicherheitsmaßnahmen haben es dem Verrückten noch einfacher gemacht. Er hat einfach in den frühen Morgenstunden ihre Häuser angezündet. Gleich wird sich der Bundespräsident zur Situation äußern.

 

„Die Lage in Neustadt ist ernst. Wir haben es hier mit einem der schlimmsten Terrorakte in der Geschichte der Bundesrepublik zu tun. Unsere Ermittlungen laufen auf Hochtouren, 5.000 Polizisten und Bundeswehrsoldaten sind im Einsatz und führen Hausdurchsuchungen durch. Die Bürger von Neustadt sind dazu angehalten, mit den Beamten zu kooperieren und auf jeden Fall die Ruhe zu -“

 

Tom schleudert die Fernbedienung in den Bildschirm. „Erzähl mir was, was ich nicht weiß, du Arschloch!“ Dann bemerkt er wohl wie ich zittere.

„Hey, Baby, alles gut. Ich kauf dir einen neuen Fernseher wenn das vorbei ist.“

„Ich will keinen neuen Fernseher!“, höre ich mich sagen. Alles ist so weit weg. Ich bestehe nur noch aus Angst.

 

Sonntag

 

Wo bin ich? Es ist dunkel. Ich kann erkennen, dass ich auf einem warmen Sessel mit gemütlichen Polsterungen sitze. Aber nichts hier ist gemütlich. Ich bin an den Sessel gefesselt, kann mich kein bisschen bewegen.

Der Mann mit der Maske sieht auf seine Uhr. Als er mich bemerkt, sieht er auf. „Also, fangen wir an! Ich hab schließlich nicht ewig Zeit.“ Seine Stimme klingt so fröhlich, fast schon glückselig. „Ihr Idioten habt echt Glück, heute ist der letzte Tag. Sicher seid ihr gespannt, wen es heute trifft, oder?“

Ich versuche meinen Kopf zu schütteln. Geht nicht. Ich will schreien. Geht nicht. Erst jetzt fällt mir der Knebel in meinem Mund auf. Das kann also nur ein Traum sein. Kurz entspanne ich mich. Aber nur kurz, denn dann holt der Typ einen Zettel raus und fängt an zu lesen.

„Also, ich will es nicht mehr lange spannend machen. Heute trifft es Steffen Lauber und Tina Kleiner.“

Diesmal schreie ich laut genug, um aufzuwachen.

 

Ich will nach dem Lichtschalter greifen, aber der Raum ist schon hell erleuchtet. Ich blicke in Toms Gesicht. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

„Hast du das auch geträumt?“

„Was?!“ Alles ist ganz weit weg.

„Von dem Typ? Die Namen?“

Ich bringe kein Wort heraus.

„Tina! Das war dein Name!“

Tränen schießen mir in die Augen.

„Ich ruf die Polizei!“

Mein Handy surrt.

Maries blechern klingende Stimme kommt aus dem Hörer. „Tina?! Tina bist du da? Oh mein Gott, ich bin ja so froh, dass du rangehst! Ich hatte diesen Traum und Marco hat das gleiche geträumt und…Tina, warum bist du so still?“

„Tom und ich haben es auch geträumt. Ich glaube, alle haben es geträumt.“ Ich lege auf. Will mein Handy gegen die Wand werfen. Wieder klingelt es. Diesmal ist es Mama. Das gleiche Gespräch nochmal. Diesmal pfeffere ich mein Handy wirklich gegen die Wand.

 

Die Polizei ist seit 2 Stunden da. Es ist jetzt 5:53. Ich sitze absolut still am Fenster. Ich will wenigstens noch den Sonnenaufgang sehen. Tom hält meine Hand. Trocknet meine Tränen. Ich versuche zu beten. Ich werde sterben. Ich bin erst 24 und ich werde keinen Tag älter werden. Es gibt kein Entkommen. Wer die Träume von über 10.000 Menschen infiltrieren kann, kann auch mein Leben beenden. Auspusten. Wie eine Kerze. Ich bin ihm ausgeliefert. Aus und vorbei.