Von Paul Fehlinger

Neunzehn. In einem Jahr kann viel Scheiße passieren und scheinbar ist es für mich diesmal ein derart bescheidenes Jahr geworden und gewesen, je mehr ich es mit etwas depressiver Verzerrung reflektierte. Warum sollte man diesen Scheiße dann auch feiern, wie ich es noch überschwänglich zum achtzehnten getan hatte – mit dreißig Freunden, die ich mittlerweile alle hasste, verabscheute oder stets bemüht aus dem Weg ging. Einzig zu Julian wollte und will ich noch Kontakt haben und so fahre ich jetzt fast zwangsweise, fast notwendigerweise zu ihm. Ich bin froh, dass er Zeit hat.

„In kürze erreichen wir Hamburg…“

Mit dem Rucksack auf den Schultern trabe ich verträumt zur Tür. Manchmal scheint es mir so, als hätte ich gänzlich mit der Realität abgeschlossen. Ich drücke auf den rot dann grün leuchtenden Knopf.

Ich wedele mit einem silbernen Tablettenstreifen herum, der uns beiden schon so vertraut ist. Hierbei handelt es sich um acht Tilidin-Tabletten a hundert Milligramm, also für jeden vierhundert maximal. Die Freude über diese Pillen steht uns im Gesicht geschrieben.

Julian packt zwei davon in ein Plastiktütchen und stampft sie mit der massiven Kante eines seiner unzähligen Messer klein. Das Pulver wird dann brüderlich gerecht in zwei Zigarettenpapiere verteilt, und diese werden von uns zwei feierlich zusammengerollt.

Manchmal gibt er Opiate aus, mal ich. Julian ist vielleicht einer der einzigen, mit dem ich meine letzten Drugs teilen würde, stelle ich innerlich fest, während das Tilidinpäckchen mit Hilfe von Wasser meinen Rachen hinabgespült wird.        

Während wir auf den Wirkungseintritt warten, halten wir uns gegenseitig auf dem Laufenden.

„Die haben sich echt abziehen lassen“, berichte ich etwas schadenfroh. „Der bietet denen schon die Autoschlüssel als Pfand an und Leo meint zu dem Ticker, dass er ja so korrekt wirke, und dass Leo ihm vertraue, und Leo deshalb die Autoschlüssel nicht brauche. Der Ticker kam natürlich nicht mehr wieder. Fünfhundert Euro weg, einfach weg. Haha.“                                                                    

„Nicht deren Ernst?“, erwidert Julian lachend, während er die Augenbrauen hochzieht.

„Gut, dass ich da nicht investiert hab.“ Leo hatte es vor zwei Wochen noch eine „qualitative und todsichere Investition“ genannt. Idiot. 

Julian schließt die Tür ab. Da es hier keinen Fahrstuhl gibt, müssen wir von ganz oben (Dachgeschosswohnung) nach ganz unten. Ohne Hast nehmen wir die gefühlten hundert Stufen. Ein paar ziellose Minuten später befinden wir uns in der Europa-Passage, oder einem anderem Kaufhaus, so genau weiß ich das nicht. Irgendwie verfallen dann unsere weichen Birnen, gefüttert von der Opiateuphorie, dem Kaufrausch. Alles, was uns halbwegs gefällt, wird mitgenommen. Kreditkarte, Pin-Eingabe, Nummer korrekt, fertig, schönen Abend noch und weiter. Eine Silberkette, eine Jacke von Nike, ein schwarzes Shirt von Snipes, zwei Bücher von Klaus Mann und noch viel mehr Kram, welchen ich schon wieder vergessen habe, findet den Weg zu uns Konsumenten. Jeder von uns beiden trägt eine überfüllte Plastiktüte. Dann bahnen wir uns den Weg durch die hektische Menschenmasse, die glaubt, in ihrem Wahn etwas Glück zu suchen, und es merkwürdigerweise nie findet. Ob ich will oder nicht, ich bin auch ein Teil davon und bleibe es wohl.

Ich starre beim Gehen auf die hellen Reklamelichter und frage dann Julian, der gerade eine Nachricht auf seinem iPhone tippt, ob er immer noch Anarchokommunist sei, und an die reelle Verwirklichung dessen glaube. In den Gedanken vertieft schaut er nach links und rechts, dann öffnet er den Mund…

„Das ist wirklich schwierig“, spricht Julian zu mir gewandt, den ich selten so konzentriert und bei der Sache gesehen habe, wie jetzt gerade, auch wenn wir schon bei zwei Tilis angelangt sind. „Also auf globaler Ebene ist das wohl undenkbar und allgemein in größerem Rahmen auch. Wenn überhaupt nur in kleiner Gemeinschaft, was ja auch zu der Idee des Anarchokommunimus an sich passt, doch dass die ganze Welt so lokal, gemeinschaftlich und basisdemokratisch verwaltet werden könnte, glaub ich ehrlich gesagt nicht mehr.“

„Ne, ich auch nicht“, stimme ich bei. „Die Arbeitswelt und die Verwertungslogik haben sich viel zu sehr im Menschen verinnerlicht…“

Etwas sentimental schlendern wir weiter die nächtlichen Straßen entlang. Die meisten Geschäfte scheinen noch geöffnet zu haben. Ist dieses Wochenende irgendein Late-Night-Shopping oder sind es die regulären Öffnungszeiten? Während ich darüber rätsle, schaue kurz einem jungen Pärchen zu, welches sichtlich genervt ist. All ihre Einkauftüten scheinen nicht in den viel zu kleinen Taxikofferraum zu passen, und beschweren sich darüber, was wir Wort für Wort auch mitbekommen, da wir grad vorbeigehen. Warum packen sie den Rest, der nicht in den Kofferraum passt, nicht auf die Rückbank? Dieses Problem ist wenigstens noch recht einfach zu lösen.

Für den Moment klammerte mich einfach an Julian. Natürlich nicht körperlich, aber seine Anwesenheit gibt all diesen ganzen sinnlosen Dingen eine Leichtigkeit. Nicht dass seine Art und Weise darüber hinwegtäuscht, wie es ist. Ganz im Gegenteil. Seinen braunen Augen sieht man, dass er einst sterben wollte und dem nur knapp entging. Ja, ein kleines Flackern irrt konstant durch sein Auge, auch wenn er lacht oder sich freut (oder sehe nur ich es?) und dann denke ich daran, dass heute oder morgen mein Todestag sein könnte und dann sehe ich wieder Julian und er ist da und ich bin da und das beruhigt mich irgendwie wieder, als wäre er eine menschliche Benzo. 

Schließlich landen wir auf der Suche nach einem neuen Trainingsanzug bei TK Maxx. Als gäbe es wirklich sowas wie das Schicksal, fallen unsere Augen gleichzeitig auf denselben Trainingsanzug. Wir schauen uns wortlos an. Den nehmen wir. Das wissen wir beide ohne jegliche Kommunikation.

Es ist ein Trainingsanzug von Sergio Tacchini in den Farben Weiß und Blau. Als ich bezahle, drückt mir eine gestresste Verkäuferin ein paar Scheine in die Hand. Ehe ihre Hand mich erreicht, hat mein Kopf das Rückgeld bereits überschlagen. Ungläubig schaue ich auf meine Hand. Ein Zwanziger zu viel. Das sind plus, minus acht Tilis.  

Wie immer in solchen Hamburg-Tilidin-Nächten landen wir irgendwann nachts in einer Spielothek, gleich bei Julian um die Ecke. Ich gewinne zu meiner Verwunderung sogar etwas und Julian drängt mich dazu, es schleunigst aus dem Automaten raus zu buchen, statt es sinnlos weiter zu verspielen, wie ich es sonst zu tun pflege. Es ist gut, denke ich mir, dass er dabei und das unvernünftige Verlangen nach mehr und noch mehr torpediert. Als wir die Spielo dann verlassen, bin ich um dreißig Euro reicher. Eigentlich muss heute mein Glückstag sein, doch das Geld ist mir gerade so gleichgültig, wie eigentlich alles im Leben. Dennoch schlage ich mit leichter Ironie vor, den „erfolgreichen Tag zu feiern“, und wir erstehen ein paar billige Zigarren. Nicht dass wir im Entferntesten etwas für Zigarren übrighätten, wir finden es nur auf dumme Art und Weise ironisch-komisch sie zu rauchen. 

Tilidin macht mich immer unbeschreiblich kreativ. So sitzen wir beiden auf der ziemlich dreckigen Coach in Julians Wohnung und pfeilen seit Ewigkeiten mal wieder an Rap-Lyrics herum. Das Schreibtempo ist enorm. Innerhalb von einer halben Stunde sind vier Lieder fertig. Quantität statt Qualität, aber uns ist das egal. Wir haben einfach Lust darauf und über die raplosen Monate und Jahre haben sich scheinbar etliche Zeilen im Kopf angehäuft, die nach Verewigung auf Papier fordern.

Der Opiatrausch von jetzt jeweils vier Tilis verursacht starke Stimmungsschwankungen. Mitschuldig ist nicht nur das Opiat, sondern die Stimmung des jeweiligen Instrumentals, über das wir drüber rappen. Erst chillig, dann aggressiv und jetzt… nun ja… ein wenig suizidal… wenn auch mit Humor…

„Sie holten mich aus der Themse/ Dabei wollt ich doch ertrinken/“, rappt Julian.

Währenddessen phantasiere ich lyrisch über eine vergoldete Rasierklinge. 

„Sie schneidet viel tiefer/“, trällere ich auf das langsame Mollpiano. Das ist eigentlich nichts, außer billigem Singsang, den man kurz vor seinem ersehnten Freitod vor sich hin summt, während man zu den Gleisen geht.

„Diggah, was haben wir eigentlich grad für ein Text geschrieben“, fragt mich Julian, der genau das ausspricht, was ich in diesem Moment denke, und plötzlich müssen wir beide schallend und übertrieben laut lachen. Das Lachen ist echt oder zumindest echter als alle anderen Lacher von uns. Wir nehmen ein anderes Instrumental, schreiben dazu noch etwas und die angestaute Kreativität ist verbraucht.       

„Welche Folge willst du hören“, fragt mich Julian, der wie immer einen guten Gastgeber abgibt.

„Wie wär’s mit „der dreckige Deal“? Man weiß zwar gleich am Anfang den Täter, aber es geht um Drogen, was für eine Jugend- oder Kinderbuchserie ganz amüsant ist.“

„Safe. Weißt du welche Nummer die Folge hat?“, fragt mich Julian, der schon Spotify auf seinem Handy geöffnet hat.

„Zweiundsiebzig. Ich hab grad nachgeschaut.“

Das Gästebett ist im selben Raum wie Julians Bett, also trennen uns nur wenige Meter, und in jener, leeren Mitte zwischen uns steht eine Coca-Coladose, die keine Getränkedose ist, sondern eigentlich eine Bluetooth-Box, um Musik zu hören. Leider rauscht sie sehr, doch eine andere haben wir nicht vorort. Trotzdem lässt sich die Folge genießen und ich verfalle in diese Kindheitsmelancholie, die wahrscheinlich jeder kennt, obwohl sie bei jedem anders ist. Plötzlich kann ich meinem peinigen Geburtstag vergeben und seine tückischen Qualen akzeptieren. Ein paar Opiate, ein guter Freund und dazu ein Hörspiel von den drei Fragezeichen bilden zusammen vielleicht die beste Beschäftigungstherapie, die für mich möglich ist.

Die Welt ist grässlich, murmele ich in meine Decke, aber in kleinen Nischenräumen, die man sich selber baut, ganz okay und annehmbar.

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