Von Bergthora Eldey
(Melrakkaslétta/Nordisland, Mai 1784)
Sieh nur, Gott! Ich wusste nicht, dass Schafe Wolle fressen.
Jonna und Nonna, die Letzten der Herde, schmutziggelb gegen die verschneite Fläche. Nonna versucht, die Haare auf Jonnas Rücken auszureißen. Alles ist Heu in schlechten Zeiten. Jonna dreht sich weg und stakt mit steifen Beinen ein paar Schritte weiter. Keine Rangelei. Die Tiere sind nur noch Haut und Knochen. Meine Zwillinge haben geheult, als die ersten Schafe verreckten, doch meine Tränen hat der Winter versiegen lassen wie der Frost den Hofbach. Meine Tränen und meine Gebete.
Ófeigur sagte, ich solle beten. Ófeigur, mein Mann. Ich nehme an, Du kennst ihn noch, Gott, auch wenn Du uns längst verlassen hast in dieser weißen Hölle! Ich habe es ihm versprochen, und darum bete ich zu Dir, auch wenn ich Dir nichts zu sagen habe. Ich hoffe, dass mein Gebet Dich nicht beleidigt. Wenn doch, dann kannst Du ja weghören, wie Du die letzten zwei Jahre weggehört hast.
Willst Du mir aber helfen, so gib mir Kraft für den Marsch nach Presthólar, denn Pfarrer Stefán, mein Bruder, ist der Einzige, der mir helfen kann.
Was hat Dich bewogen, uns so heimzusuchen?
Zuerst der Märzsturm vor zwei Jahren, der das grönländische Meereis gegen die Küste presste, sodass bis August kein Fischer ausfahren konnte. Wochenlang blies der Nordwind die Kälte an Land, sodass der Schnee nicht schmolz bis Ende Mai, selbst im Sommer lag Nacht für Nacht Reif auf den Weiden und als die Heumahd kam, sah man noch Sensenspuren aus dem Vorjahr, so erbärmlich war das Gras gewachsen.
Das Heu reichte kaum für die Kühe, auch wenn wir es mit Seetang zu strecken suchten. Nach grimmigen Berechnungen und manchem Gnadengesuch der Zwillinge griff Ófeigur im November zum Beil und machte sich ans blutige Werk. Marteinn, unser Ältester, biss die Zähne zusammen und half nach Kräften.
Den ganzen Advent rief Stefán uns auf, unsere Sünden zu bereuen.
Zu Weihnachten schicktest Du einen Sturm, sodass niemand es zur Kirche schaffte. Was wolltest Du uns sagen, oh Herr? Dass unsere Gebete Dir gleichgültig sind?
Gott, was ist dieser Weg schwer. Ich habe höchstens ein Drittel der Strecke zurückgelegt, meine Knie zittern, die Füße schmerzen, aber ausruhen kann ich nicht, denn wenn ich mich setzte, würde mir die Kälte die letzte Kraft aus den Gliedern saugen. Kein Obdach. Die wenigen Höfe aufgegeben, ausgestorben. Still und weiß liegt das Land, wie ein Leichentuch.
Ich habe seit Tagen kaum etwas gegessen. Wahrscheinlich werde ich umfallen und erfrieren, und im Sommer finden sie mich und Stefán schreibt in sein Kirchspielbuch: Frau mittleren Alters, im Schnee gefunden.
Dein Wille geschehe. Lieber sterbe ich hier draußen, als im Haus auf den Hungertod zu warten und zuzusehen, wie Ófeigurs Leichnam zerfällt – ich bin zu schwach, ihn aus der Stube zu tragen. Aber wenn Du mich hier abberufen willst, bitte ich Dich: Schicke jemanden nach Oddsstaðir, um Ófeigur zur Kirche zu bringen.
Nach dem Weihnachtssturm sandtest Du uns Schnee und Frost.
Die Schneedecke wuchs und lastete auf Häusern und Wiesen und die Schafe konnten den Schnee nicht mehr wegscharren, um das Stoppelgras zu fressen, der Heustapel schwand dahin und wir mussten notschlachten. Die Zwillinge weinten vor Furcht und meine Mutter ließ sie zu sich ins Bett kriechen und tröstete sie: „Nicht bange sein, Kinder. Ein paar Wochen Schnee gibt es jeden Winter…“
Sie steckte ihren Enkeln ihr Abendessen zu und starb Ende April.
Ist es Dir recht, wenn ich schweigend bete?
Ich habe keine Kraft mehr zum Sprechen. Der Weg wird steiniger, hier und da vereist, ich ringe um Atem. Seit einer halben Meile habe ich einen bittersüßen Geschmack im Mund, wie von Blut. Warum sollte der Skorbut ausgerechnet mich verschonen.
Hattest Du uns nicht genug geprüft im vorletzten Jahr? Was hatten wir verbrochen, dass Du uns letzten Juni den Höllendunst schicken musstest?
Graublau zog der Nebel heran und erstickte Licht und Hoffnung mit schwefligem Würgegriff. Die Sonne kroch mühsam über den Himmel, blutrot selbst am Mittag. „Kann die Sonne verbrennen, Mutter?“, frugen die Zwillinge. „Sieh nur, Flocken ihrer Asche fallen auf die Erde wie schwarzer Schnee!“
Manche sagten, der Vulkanausbruch in Síða sei schuld, andere meinten, der Nebel sei aus dem Norden gekommen, aber alle waren sicher, dass Du den Dunst gesandt hast, um uns zu strafen.
Was hatten wir verbrochen?
Das junge Gras verwelkte. Luft und Boden waren voll Gift.
Schafe verreckten. Kühe erkrankten. Pferde siechten dahin.
Eine Hoffnung blieb uns. Ófeigur und Marteinn nahmen unser letztes Pferd und reisten zum dänischen Handelsposten in Húsavík, um ein paar Säcke Mehl als Darlehen zu erbitten. Der Händler lachte. „Ihr habt schon Schulden genug. Bringt Heu für unsere Pferde, dann sollt ihr Mehl haben.“
Hast Du ihn auch gestraft, Herr? Oder war er nur Dein Werkzeug, um uns zu strafen?
Ich kann nicht mehr.
Vor meinen Augen flackern schwarze Punkte. Ich lasse den Sack mit dem letzten Trockenfisch zu Boden fallen und sinke darauf nieder.
Es ist so kalt. So still. Weiß die Felsen um mich her, weiß die eisbedeckte See, und weiß der klirrend kalte Himmel.
Das erste Missjahr leert die Fässer, das zweite füllt den Kirchhof.
Hätten wir um ein Wunder beten sollen? Es heißt, der Glaube könne Berge versetzen. Hättest Du Deine Engel mit Trockenfisch und Butter geschickt, wenn wir nur innig genug darum gebetet hätten? Alles, worum ich zu bitten wagte, war ein milder Winter, sodass die Männer noch etwas Fisch fangen würden. Deine Antwort war harsch wie zuvor. Die Vorräte schmolzen dahin vor dem Frost und der Hunger schritt über das Land, reicher Ernte sicher.
Marteinn war der Erste, der krank wurde. Ich wollte tun, was meine Mutter getan hatte, gab ihm von meinem Abendessen, aber er wurde immer schwächer.
Er versuchte, tapfer zu sein, aber ich habe die Angst in seinen Augen gesehen, riesige blaue Augen im Gesicht eines Greises, und da wusste ich, dass Du Deine Kinder nicht liebhast.
Wir fanden ein paar Bretter für einen Sarg, aber kein Geld für die Begräbnisgebühr, nur einen alten Kochtopf, und der Sarg sank in die Grube und unsere Tränen gefroren auf ihm, ehe das Grab geschlossen war.
Zwei Wochen später erkrankten die Zwillinge. Da ging Ófeigur hinaus und schlachtete das Pferd. Er sagte es mir erst nach getaner Arbeit und beschwor mich, den Zwillingen nichts zu erzählen. „Die Kinder müssen essen, aber ich will nicht, dass sie mitschuldig werden an meiner Sünde. Ich allein will diese Schuld auf mich nehmen.“
Trotz des verbotenen Fleisches siechten die Zwillinge dahin und ich suchte sie zu trösten, dass sie ja in den Himmel kommen und es gut haben würden, aber sie weinten und Katrína streckte die dürren Ärmchen aus und sagte: „Ich will nicht in den Himmel, nicht ohne euch!“
Sie starb am Abend und Helga zwei Tage später. Wir legten sie zusammen in einen Sarg und zogen ihn auf dem Schlitten zur Kirche, und an ihrem Grab konnte ich nicht einmal mehr weinen.
Nach unserer Rückkehr legte Ófeigur sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Er sprach kein Wort mehr, bis gestern früh. Ich verstand ihn kaum, denn er hatte die Hälfte seiner Zähne verloren.
„Hallbera, ich glaube, ich werde sterben. Ich hoffte, Gott würde uns vergeben… Pferdefleisch zu essen in schlechten Zeiten… aber jetzt zeigt sich, was Er davon hält… Bete für mich armen Sünder!“
Am Abend sprach er noch einmal. „Hallbera, sorg dafür, dass ich in geweihter Erde ruhe. Lass mich nicht hier liegen!“
Ich habe es ihm versprochen. Darum muss ich weiterlaufen, ehe die Kälte meine Glieder lähmt.
Warum hast Du mich bis heute leben lassen?
Ich bin nicht Hiob. Ich kann Dich, meinen Gott, nicht mehr lieben!
Vielleicht könnte ich Dir vergeben, was Du mir angetan hast. Aber dass Du meine Kinder so hast leiden lassen, kann ich Dir nicht vergeben.
Ich fürchte, es macht mich zu einer verstockten Sünderin, dass ich an der Schwelle des Todes solche Gedanken hege. Ich wünschte, es wäre anders. Ich will so gern meine Kinder und Ófeigur im Himmel wiedersehen! Aber ich kann Dich nicht mehr lieben.
Vielleicht vergibst Du mir um ihretwillen. Ich bitte Dich, Gott. Vergib mir um meiner Kinder willen.
Vergib mir, Herr, um meiner Kinder willen.
Es dämmert. Ich spüre den Schmerz in den Füßen nicht mehr, weiß nicht mehr, was die Worte bedeuten, die durch meinen Kopf kreisen:
Vergib mir, Herr, um meiner Kinder willen.
Da vor mir, Schatten im Schnee – die Kirche von Presthólar und Stefáns Hof. Mit letzter Kraft hebe ich die Rechte, klopfe dreimal. Ich habe es geschafft, Ófeigur –
Dann geben meine Knie nach und mir wird schwarz vor Augen.
„Hallbera, hörst du mich?“
Ich liege auf einer Schlafbank unter rauen Wolldecken, aber mir ist kalt, furchtbar kalt.
„Sie kommt zu sich! Sie hat die Augen offen!“
Ist das Stefán? Dieser ausgemergelte Greis?
„Gott sei Lob und Dank für dieses Wunder!“, sagt er, und seine Stimme klingt voll und tief wie früher.
Er hält mir einen Löffel an die Lippen. Die Brühe riecht ranzig, aber sie ist heiß. Ich schlürfe ein paar Löffel, und mir wird ein wenig wärmer, aber das Kauen fällt mir schwer. Halbrohes Fleisch, zäh wie Leder. Und dann irgendetwas Haariges. Ich wusste nicht, dass Menschen Wolle fressen –
Die Schafe heute früh. Der Fußmarsch. Ófeigur.
Ich muss würgen, fühle Stefáns Hand auf der Schulter.
„Ruhig, Hallbera. Du kannst es dir nicht leisten, deine Suppe auszuspucken.“
„Stefán, Ófeigur ist tot. Wir haben kein Pferd mehr, du musst mir helfen, ihn zur Kirche zu bringen!“
„Gott hab ihn selig.“ Er faltet stumm die Hände. „Aber ich kann dir nicht helfen.“
„Stefán, du musst! Es war sein letzter Wunsch, in geweihter Erde zu liegen! Ich bin den ganzen Weg gelaufen…“
„Es tut mir so leid. Aber ich habe auch kein Pferd mehr, Hallbera. Und selbst wenn wir ihn holen könnten, brächten wir ihn nicht unter die Erde. In der Kirche liegen schon vierundzwanzig Tote. Niemand hat mehr die Kraft, in der gefrorenen Erde Gräber auszuheben.“
Der Lakiausbruch von 1783 verursachte in Island, vor allem im Nordosten, Hungersnot.
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