Von Armin Kahn
Bettina schreckte hoch als das Telefon klingelte. Sie hatte so tief geschlafen, dass sie im ersten Moment gar nicht wusste, wo sie sich befand und was für ein hässliches Geräusch das war. Dann dämmerte es ihr: heute am 3. Juni sollte sie das erste Mal mit einer Schulklasse auf Klassenfahrt gehen. Ein flüchtiger Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch ließ sie hochschrecken. Es war zehn nach sieben!! Um halb acht fuhr der Zug am Hauptbahnhof ab – das war auf keinen Fall mehr zu schaffen. Jetzt war sie vollkommen wach, das Telefon, gleich neben dem Wecker klingelte nochmal. Sie ging ran.
„Mensch Bettina, wo bleibst Du denn?“ Ihr Lehrerkollege Lothar war dran, mit ihm zusammen wollte die 5 A ihrer Schule heute nach Schleswig-Holstein fahren. Dort gab es ein sehr nettes Landschulheim auf einer Hallig. Salzhaltige Luft, Meeresrauschen den ganzen Tag und blökende Schafe am Deich. Für die Kids vermutlich eher langweilig, aber, wie sie sich an ihre eigene Kindheit erinnerte, würde das dort kaum eine Rolle spielen. Denn die Luft dort macht sehr früh am Tag müde und man hat ständig einen Bärenhunger. Zudem sind elfjährige Kinder dermaßen mit sich selbst und den anderen Gleichaltrigen beschäftigt, das man nicht jeden Tag Programm machen musste. Der Sinn der Reise bestand eher darin, die Klassengemeinschaft zu festigen, einzelne, tiefe Freundschaften zu bilden.
„Ähh“ antwortete sie mit krächzender Stimme „ich hab tatsächlich verpennt, sorry!“ – Stille, dann Lothar „Ach Du Scheiße! Was sag ich denn jetzt den Eltern? Es sind schon fast alle da und der Zug, für den wir Platzreservierungen haben, fährt um 7:32 Uhr ab, Gleis 3 – schaffst Du das noch?“. Bettina schluckte. „Nee!“ sagte sie trocken „Ich würde mit einem Taxi mindestens 30 Minuten brauchen, ich wohn doch in Reichelsdorf. Was für ein Mist! Duschen und anziehen müsste ich mich ja vorher wohl auch noch, zum Glück habe ich schon gestern alles gepackt.“ Sie wartete etwas ängstlich und ratlos auf Lothars Reaktion.
„Na, dann muss ich den Eltern wohl reinen Wein einschenken! – Oder hättest Du eine plausible Ausrede?“ Bettina überlegte, ihr fiel aber nichts Konkretes ein, was man da sagen könnte. Das würde ihr jahrelang nachschleichen, wenn dann irgendwann herauskäme, dass sie eine erfundene Ausrede benutzt hätte. „Nee, sag denen mal ruhig die Wahrheit, Lothar. Ich werde mich nachher in aller Form bei allen Eltern entschuldigen und wir nehmen dann halt den nächsten ICE, der fährt, soweit ich weiß, dann um 8:32 Uhr. Wir kommen dann auch noch zurecht, mit dem Umsteigen in Hamburg müssen wir dann mal sehen, aber das wird schon irgendwie klappen…“ Lothar seufzte. „O.k., ich kläre das hier jetzt hier auf dem Bahnsteig. Aber bitte beeil dich, ich habe keinen Bock, mich hier allein von den Eltern und Schülern fertig machen zu lassen. Schließlich hast du uns das eingebrockt!“ Er legte auf, war wohl etwas genervt. Konnte Bettina nachvollziehen, sie stellte sich mal kurz vor, Sie würde da auf dem Bahnsteig stehen mit sechsundzwanzig Schülern und über vierzig erwachsenen Begleitpersonen und Lothar hätte verschlafen. Oh Gott, wie peinlich. „Der Arme!“ dachte sie und füllte die Kaffeemaschine und sprang dann rasch unter die Dusche.
Gut zehn Minuten später saß sie in einem Taxi, unterwegs zum Hauptbahnhof. Als sie dort am Gleis drei ankam, leicht schwitzend, mehr vor Angst als vor Anstrengung, wurde sie von einer großen Schar böser Gesichter empfangen. Alle riefen durcheinander und schimpften auf sie ein. Selbst etliche Schüler machten schadenfroh mit. Lothar zuckte mit den Schultern und breitete entschuldigend die Arme aus. Bettina hob ihre beiden Arme über den Kopf und bedeutete mit einer Geste ruhig zu sein, genau so wie vor einer laut lärmenden Klasse, die das Eintreffen einer Lehrperson noch nicht bemerkt hatte. Tatsächlich wurde es beinahe still.
„Liebe Eltern, liebe Schüler!“ begann sie mit laut erhobener Stimme „es tut mir wirklich leid, das ich verschlafen habe – ausgerechnet heute! Ich will auch gar nicht drum herum geben, es gibt keinen triftigen Grund für mein Versäumnis. Es ist mir wirklich peinlich“ und sie wurde tatsächlich rot bei diesen Worten und sah auch schon einige, wenige mitleidige Gesichter unter den aufgebrachten Eltern „aber es lässt sich nun leider nicht mehr ändern. Damit die schöne Klassenreise nun meinetwegen nicht ins Wasser fallen muss, schlage ich vor, wir nehmen den nächsten ICE nach Hamburg, der genau hier von diesem Gleis um 8:32 Uhr abfährt. Ich erkundige mich jetzt sofort bei den Bahnleuten, wie das dann mit dem Anschluss in Hamburg klappt. Ich hoffe, sie alle können mir meinen Fauxpas nachsehen. Ich entschuldige mich dafür in aller Form bei ihnen und hoffe gleichzeitig, dass ich das irgendwann einmal wieder gut machen kann“. Murmeln unter der versammelten Elternschaft, schon nicht mehr ganz so böse, einige aber noch immer ein wenig aufgebracht.
Bettina wandte sich an Lothar und sagte leise zu ihm „Scheint ja nochmal gut gegangen zu sein. Ich geh jetzt zum Bahnhofsbüro und frage mal, ob das so einfach geht, den nächsten ICE zu nehmen und wie das mit dem Anschluss in Hamburg dann wird, o.k?“ Lothar nickte, „Gut, ich halte hier solange die Stellung. Hoffen wir mal, dass das alles so klappt!“. Bettina lief los, ließ Ihre große Reisetasche bei ihrem Kollegen stehen und suchte das Büro der Bundesbahn. Dort angekommen erklärte sie den Bahnern die peinliche Situation, was dem Mann hinter dem Schaltern ein mitfühlendes Grinsen entlockte. Aber er schaute in seinen Unterlagen und auf dem Monitor nach und schrieb dann auf einen Zettel alles auf, was sie wissen musste. Erleichtert verließ sie das Büro und kehrte zum Gleis drei zurück. Dort konnte sie den Eltern verkünden, dass nun glücklicherweise alles geklärt sei. „Wir können den ICE682 nehmen, der hier auf diesem Gleis“, sie schaute auf die große Uhr oben unter der Decke, „in zwölf Minuten abfährt. Der Anschlusszug in Hamburg passt auch, ich habe das eben mit der Bahn geklärt. Also halten Sie sich bitte alle bereit!“. Sie wandte sich an Lothar: „Sind denn alle Schüler da? Fehlt keiner?“ – „Nein“ antwortete der Kollege „sind alle vollzählig da und sehr aufgeregt. Deine Verspätung hat nicht gerade beruhigend gewirkt!“ Bettina wurde wieder etwas rot: „Ja, schon gut, ich weiß, dass ich Mist gebaut hab’, du musst mich nicht ständig daran erinnern!“.
Die Schüler verabschiedeten sich bei Ihren Eltern, oder denjenigen, die sie zum Zug gebracht hatten, nahmen ihr jeweiliges Gepäckstück in die Hand und standen aufmerksam an der Bahnsteigkante und warteten. Der Zug lief in den Bahnhof ein und einige Leute stiegen aus. Auch der Zugführer stieg aus und beobachtete die Außenseite des Zuges. Bettina ging zu ihm und erklärte rasch, dass sie den Zug eine Stunde früher verpasst hätten und nun statt dessen diesen nehmen wollte. Auch, dass es sich um eine Schulklasse mit schwierigen Elfjährigen handelte und dass es um achtundzwanzig Sitzplätze ging, möglichst zusammenhängend, wegen der Aufsichtspflicht erläuterte sie dem jungen Mann in der blauen Uniform. „Sie haben Glück“ antwortete er „es ist nicht voll heute, Waggon vier, die ersten Reihen sind leer, da können Sie mit Ihren Schülern Platz nehmen, ich komme dann vorbei. Aber bitte rasch, wir fahren pünktlich ab!“. Bettina rannte zurück zu ihrer Klasse mit Lothar und zeigte schon von weitem, dass sie alle einsteigen sollten. Als alle im Zug waren, kletterte Bettina mit ihrer großen Reisetasche hinterher und rief laut aus, alle sollten sich in Waggon vier begeben, die ersten Sitzreihen dort seien für sie. „Wo ist Waggon vier?“ krähte einer der Schüler, der ziemlich weit vorne lief und sich nun ratlos umdrehte. Bettina zeigte mit der linken Hand in Richtung Zugende und brüllte: „Der nächste Waggon ist die Nummer vier! Alle in diese Richtung!“. Und alle setzten sich zügig in Bewegung. Im Waggon vier, gab es dann ein paar kleine Kabbeleien, wer mit wem in welcher Reihe zusammen sitzen wollte oder sollte oder aber eben gerade nicht. Lothar regelte das gelassen. Der Zug fuhr schon längst wieder richtig schnell als alle saßen und langsam Ruhe einkehrte.
Die Schüler holten Comics, Getränke und Süßigkeiten aus Ihren Rucksäcken und schnatterten laut durcheinander. Die verspätete Abfahrt war schon längst kein Thema mehr. Der Zug fuhr sehr schnell, es war schließlich der ICE und so kamen sie bereits um 11:32 Uhr in Hannover planmäßig an. Zu aller Erstaunen, endete die Fahrt hier, so wurde über Lautsprecher angesagt. „Aber wir sollten doch bis Hamburg fahren!“ quengelte einer der Schüler. „Stimmt!“ bestätigte Bettina und rief: „Bitte bleibt alle sitzen, ich frage mal, was da los ist. Bin gleich wieder da – alle sitzen bleiben!!“
Sie ging zu dem Zugführer, der neben dem Waggon auf dem Bahnsteig stand und wollte ihn gerade fragen, was denn los sei und wie sie jetzt nach Hamburg kommen sollen. Der Zugführer sah merkwürdig aus, ganz anders als vorhin in Nürnberg. Er war wirklich grau im Gesicht und schaute mit leicht glasigen Augen zu Bettina, die gerade auf ihn zu ging. „Warum fahren wir denn nicht weiter?“ fragte sie „wir müssen doch nach Hamburg unseren Anschlusszug erwischen!“ – Der Zugführer drehte langsam seinen Kopf und schaute sie etwas unkonzentriert an. Dann plötzlich änderte sich sein Blick, er blinzelte und stellte ihr dann die Frage: „Sind Sie nicht die Lehrerin, die in Nürnberg den ICE verpasste hat mit ihrer ganzen Schulklasse?“ – Bettina schnaufte, wollte der jetzt mit ihr flirten? „Ja“ gab sie ungeduldig zurück „aber nun geht es ja nicht weiter, was ist denn da bloß los?“. Der Zugführer schüttelte langsam den Kopf. „Seien Sie froh, dass Sie den ICE884 verpasst haben, der ist da vorn in Eschede verunglückt, da gab es unzählige Tote. Sie werden schon noch nach Hamburg kommen, momentan weiß ich allerdings noch nicht, wie, Aber das wird sich schon noch klären!“ Und damit drehte er sich um und ging weg. Bettina stand da wie vom Donner gerührt.
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