Von Simone Tröger

Dieser Highway ist noch mindestens fünf Kilometer lang. In der Dämmerung lässt sich das schwer einschätzen. Wenn man blinzelt, sieht man am Horizont eine große Ansiedlung von Gebäuden. Möglich, dass es sich um eine Fata Morgana handelt. Mit Sicherheit zieht sich die Route noch länger.

Sie wird wohl sieben bis acht Tage benötigen. In der Hoffnung, bei ihrer Cousine eine Bleibe finden zu können, setzt sie sich weiter in Bewegung. Klar, sie hätte hier nach einer Unterkunft suchen können. Nachdem die Bagger alles, was nach Wohnung aussieht, platt und unbesiedelbar machen, will sie sich das nicht antun. Wenngleich auch die Straße eine Gefahr bedeutet, mutig und forsch setzt sie ihren Weg fort. Auf ihr neues Leben ist sie gespannt! Von Zielstrebigkeit ist ihr Erdendasein schon immer geprägt. Glücklicherweise (so muss man in dem Fall sagen) hat sie keine Kinder.  Allein auf sich gestellt zu sein, erfordert 100 % Aufmerksamkeit.

Es wäre unvorsichtig, diese Wachsamkeit nicht walten lassen zu können. 

Da fängt es schon an:

Achtung! Eine Blindschleiche!

Jetzt heißt es klein machen und still sein. Kein Vibrieren hören lassen, außerdem ist die Echse außer Geruchsweite. „Du bist für sie ein Stein. Sie kann sehen, bestenfalls nicht besonders gut. Deine Körperwärme spürt sie auf die Entfernung nicht. Die innere Temperatur ist ohnehin gerade nicht besonders hoch.“

Puh, sie schlängelt sich vorbei. Bedrohung abgewandt. Gefühlt zwei Zentimeter ist sie jetzt gewachsen.

Es hat lange nicht geregnet, sonst würde sie schneller vorankommen. Nun, da es inzwischen völlig dunkel ist, muss sie aufpassen, nicht noch jemandem zu begegnen. Schleimige Kröten (nicht, dass etwa die Körperpflegemittel identisch sind) und manche Vögel treiben dann ihr Unwesen. Sehr nahe am Dickicht darf sie sich nicht fortbewegen, aber auch nicht zu weit unter dem freien Himmel. Etwa 30 Zentimeter hat sie seit dem Zwischenfall mit der Blindschleiche zurückgelegt. Dieses Tempo müsste zu halten sein. Denn dann benötigt sie nicht die veranschlagte Zeit.

Vergebliche Gedanken…

Da, schon wieder: 

Hilfe! Eine Feldmaus!

Ein Loch in der Erde zu finden; dazu ist es zu spät.

Nochmal Hilfe!

Die Maus wird verfolgt! Es sind zwei Mäuse, die sie auf dem Gewissen haben werden. Die eine wird links ziehen, die andere rechts…

„Puh!  Der zweite Nager ist der Mäuserich auf der Jagd nach seiner Braut. Weiter geht’s! Wieder ein Stück Selbstbewusstsein getankt.“

Bald darauf meldet sich der Hunger nach einem schmackhaften Löwenzahn. „Ach, was haben wir denn da? Dahlien und Rittersporn. Aber auch Knoblauch und Zwiebeln. I´gitt! Bei diesen Pflanzen sind auch Menschen nicht weit. Vor allem Autos. Bitte nicht so schnell!

Die Räder des Autos setzen zurück. Das letzte Stündlein hat geschlagen. Nicht doch! Cousinchen – leb wohl! Hallo? Hallo? Bin ich tot?“

Der Split, auf dem das Auto gebraust ist, hat sie wieder 20 Zentimeter zurückgeschleudert.

Auf diese Weise kommt sie nie voran. Doch sie lebt und nimmt Kurs zu einem Abfallhaufen hin.

Daran wird sie sich nun laben.

„Mist! Eierschalen! Sehr langsam passieren! Keine ruckartigen Bewegungen!  Ist doch nicht so ein Hindernis wie ein Zaun. Hmm! So gesättigt lebt es sich bestimmt ein Jahr länger.

Ein Igel! Was will der hier? Will er mich? Da! Er schnappt sich eine, die mir auch noch ähnlich sieht. Hatte er eigentlich mich im Visier?

Die Arme, die ermordet wurde! Hauptsache, ich bin davongekommen! Nun weg hier.

Bevor mich ein Sammler konservieren und ausstellen will, weil ich ein Prachtexemplar von fast 18 Zentimetern bin.

Cousine, ich komme! Dann machen wir beiden Wegschnecken die Gegend unsicher – und nicht die Gegend uns.“

 

(Und bevor jemand wissen möchte, woher eine Schnecke dies und das weiß… Nun, ihre Mama hat es ihr erklärt. Die weiß es von ihrer Mama; die von ihrer; die von ihrer; die von ihrer…)

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