Von Irmi Feldman
Natürlich regnete es. Ausgerechnet heute. An dem einzigen Tag im Jahr, an dem Krantz eine Reise antrat, musste es regnen. Herrgott nochmal.
Er hat ja gewusst, dass diese Reise ein Fehler war. Aber sein Freund hatte ihm monatelang mit dieser Ausstellung in den Ohren gelegen. Das seltene Schriftstück aus der späten Römerzeit, an dem Krantz schon so lange interessiert sei, werde im Original in Dresden am 9. April 1839 ausgestellt. Er, als Schriftgelehrter, müsse unbedingt zu dieser Ausstellung.
Krantz war stur geblieben. Eine beschwerliche Zwei-Tagesreise von Leipzig nach Dresden sei auch dieses Schriftstück nicht wert. Gehe es nach ihm, so war nichts wichtig genug, um sich tagelang, geplagt von Rückenschmerzen und Hämorrhoiden, in einer Kutsche durchschütteln zu lassen. Er sei doch nicht verrückt. Eine Abschrift des Originals, wie immer per Post zugesandt, sei ihm auch diesmal vollauf genug.
Überhaupt, warum das Gedränge? Sein Freund wisse doch, dass er das Reisen hasste.
Doch diesmal hatte sein Freund nicht lockergelassen. Krantz müsse wieder mal aus dem Haus. Das ewige Stubenhocken täte ihm nicht gut. Das Alleinsein sei Gift für ihn. Er müsse wieder heiraten.
Krantz widersprach. Vehement. Seine Schwester Clara führe ihm den Haushalt. Er brauche keine neue Frau. Er habe eine Frau gehabt, und die sei ihm gestorben.
Nach langem hin und her hatte Krantz dann doch zugesagt. Es war erst Januar gewesen und der Reisetag lag noch in weiter Ferne.
Doch jetzt war er da. Um sicherzugehen, dass Krantz keinen Rückzieher machte, war sein Freund am Tag zuvor vorbeigekommen. Er habe eine Überraschung, hatte er Krantz bei dieser Gelegenheit auch mitgeteilt.
Auch das noch. Die beschwerliche Reise und dazu die Überraschung? Krantz beschloss zu streiken.
Am nächsten Morgen blieb er einfach liegen. Doch seine Schwester, verwitwet wie er, hatte nicht nachgegeben. Bestimmt zehnmal war sie in sein Zimmer gestürmt, hatte ihm die Bettdecke weggezogen, das Kissen vom Gesicht gerissen und ihn wie einen kleinen Jungen ausgescholten.
Nur weil er ihr Gezeter nicht mehr hören wollte, stand er auf, zog sich an und stand nun fröstelnd vor dem Haus. Im Regen. Natürlich im Regen. Herrgott nochmal.
Umständlich stieg Krantz in die Kutsche und ließ sich auf der Holzbank nieder. Sein Freund gab dem Kutscher das Zeichen zur Abfahrt. Zufrieden, dass sein Freund, allem Anschein nach, die angedrohte Überraschung vergessen hatte, schaute Krantz aus dem Fenster.
„Das ist nicht der Weg nach Dresden“, rief er aus.
„Nein, das ist der Weg zum Bahnhof. Wir nehmen die Leipzig-Dresdner Eisenbahn, die heute das erste Mal fährt.“
Krantz schluckte. Das also war die Überraschung. Sein Freund hatte ihm eine Falle gestellt. Nie und nimmer werde er in diese Eisenbahn steigen, rief er aufgeregt. Er sei doch nicht lebensmüde. Ob sein Freund ihn umbringen wolle? So eine Eisenbahn sei doch noch gar nicht erprobt.
„Aber, nein“, warf sein Freund ein. „In England fahren die schon seit Jahren.“
„Ach, die Engländer! Höre mir bloß mit den Engländern auf. Von denen ist noch nie etwas Gescheites gekommen“, widersprach Krantz.
„Die Amerikaner haben auch schon Eisenbahnen“, warf sein Freund ein.
„Pah! Ein Volk ohne Kultur und ohne Geschichte.“
Frierend zog Krantz seinen Mantel fester um sich. Der Wind peitschte ihm den Regen ins Gesicht, denn natürlich war das Kutschenfenster undicht. Außerdem tat ihm der Rücken schon jetzt erbärmlich weh. Dabei standen sie erst am Anfang der Reise. Und für seine langen Beine war in diesen engen Kutschen sowieso nie Platz.
Als sie am Bahnhof ankamen, war dieser berstend voll von Neugierigen und Fahrgästen. Krantz weigerte sich aus der Kutsche zu steigen.
Er solle kein Theater machen, schimpfte sein Freund. Die Leute schauten schon. Die Eisenbahn sei ein sicheres Verkehrsmittel. Wisse Krantz eigentlich, dass die Eisenbahn zehnmal so schnell sei wie eine Kutsche? Die Fahrt werde nicht länger als drei Stunden dauern.
„Drei Stunden näher am Tod“, brummte Krantz. Dann stieg er aber doch aus und in den Zug ein.
Erschöpft ließ er sich auf eine Sitzbank nieder, die zwar auch aus Holz war, aber weitaus bequemer als die Sitzbank in der Kutsche.
Nachdenklich schaute er aus dem Fenster auf die vom Sturm gepeitschten Baumwipfel und die kämpfenden Vögel, die sich kaum in der Luft halten konnten. Der Regen prasselte gegen die soliden Glasscheiben. Krantz hätte es nie zugegeben, aber jetzt war er froh, dass er dem Unwetter entkommen war. Genüsslich streckte er seine Beine aus und schloss die Augen. Das regelmäßige Rattern der Räder schläferte ihn auf angenehme Weise ein.
Plötzlich riss er die Augen auf. Er habe nachgedacht, eröffnete er seinem Freund. Vielleicht sei so eine Eisenbahn doch nicht so gefährlich wie er zuerst angenommen habe. Das Rattern sei angenehm, man bleibe trocken und die Sitzbänke seien wider Erwarten gar nicht so schlecht. Und dass die Reise schneller vorbei sein werde, gefalle ihm außerordentlich.
„Und schau nur, wie viele Menschen in einer Bahn transportiert werden können“, rief sein Freund und zeigte in die Runde.
„Nicht unbedingt ein Vorteil“, murrte Krantz. „Wer möchte schon zusammengepfercht wie die Schweine reisen.“
Sein Blick fiel auf die elegante Dame auf der anderen Seite des Ganges. Angewidert drehte diese sich weg.
Trotzdem, sagte Krantz, könne die Eisenbahn Zukunft haben. Man werde sehen. In hundert Jahren etwa, könne man vielleicht sogar nach Italien oder Frankreich reisen. Das heißt, wenn man zu den Verrückten zählte, die reisen. Hundert Kilometer wären dann mit Sicherheit keine Zwei-Tagesreise mehr. Und wer weiß, die Wissenschaft könne so weit voranschreiten, dass man sogar autonome Gefährte erfindet. Jeder Tölpel könne dann mit so einem Gefährt herumkutschieren und die Wege blockieren. An die Unfälle wolle er gar nicht denken. Hoffentlich gebe es bis dahin bessere Straßen, auf denen man nicht im Schlamm steckenblieb. Womöglich könnten diese Gefährte auch fliegen, sinnierte Krantz. Wer weiß, vielleicht schafften es die Verrücktesten dieser Welt eines Tages sogar auf den Mond.
Krantz gab sich so lange seinen Tagträumen hin, bis die Eisenbahn ohne Vorwarnung stehenblieb. Verwirrt schaute er aus dem Fenster. Das war nicht Dresden. So viel wusste er.
Er gehe nachschauen, sagte sein Freund und stieg aus.
Vielleicht sei er mit seinem Lob zu voreilig gewesen, rief Krantz ihm hinterher. Er habe es ja gewusst. Man könne sich auf die Eisenbahn nicht verlassen.
Ein Baum sei auf die Schienen gefallen, berichtete sein Freund, als er gleich darauf wiederkam. Das könne schon mal passieren in so einem Sturm.
„Ach was“, sagte Krantz. Es sei ein Fehler gewesen, die Eisenbahn zu nehmen. Wären sie in der Kutsche geblieben, so könnten sie jetzt ungehindert weiterfahren.
„Mit der Kutsche wären wir schon fünfmal im Schlamm steckengeblieben“, warf sein Freund ein. „Und wir wären noch nicht so weit gekommen.“
„Eben“, sagte Krantz. „Dann wären wir schon längst wieder auf der Rückreise und bald zuhause.“
Er müsse jetzt Wasser lassen, sagte Krantz und stieg aus. Sein Freund tat es ihm gleich. Und weil sie nun anderweitig beschäftigt waren, sahen sie nicht, wie ein paar kräftige Männer den Baum von den Schienen räumten, die Lok pfiff, der Schaffner schrie, die Fahrgäste klatschten und die Eisenbahn ruckartig anfuhr.
„Lauf“, rief sein Freund, und machte einen Versuch die Eisenbahn einzuholen.
Krantz rührte sich nicht. Laufen werde er nicht. Ihm sei das jetzt alles ganz egal. Von ihm aus konnten sie hier in der Wildnis verrecken. Er habe doch gewusst, dass auf die Eisenbahn kein Verlass sei.
Sein Freund schaute sich um. Sie waren in Wurzen. Nicht weit von hier befinde sich das Haus eines ehemaligen Bekannten von ihm. Der Weg sei nicht zu weit. Etwa eine halbe Stunde Fußmarsch. Dort könne man anfragen, ob man die Nacht verbringen könne. Morgen sehe man weiter.
Missmutig stapfte Krantz durch Regen und Sturm hinter seinem Freund her. Er hätte es ums Leben nicht zugegeben, aber jetzt säße er viel lieber in der Eisenbahn. Im Trockenen.
„Benimm dich“, raunte sein Freund ihm zu, bevor er an die Tür klopfte.
Eine Magd öffnete ihnen. Sein Freund bat um Einlass.
Madame Balthus, die Hausherrin, war eine bezaubernde Dame, etwas jünger als Krantz. Sie lud sie ein näher zu treten, ihre tropfnassen Mäntel abzulegen und sich zu Tisch zu setzen, wo gerade das Abendbrot serviert wurde.
Madame Balthus war, ebenso wie Krantz, eine Schriftgelehrte. Sie habe diese Tätigkeit von ihrem verstorbenen Mann übernommen, erzählte sie ihnen. Genau wie Krantz hasste Madame Balthus das Reisen. Sie hätte aber eine Ausnahme gemacht und wäre mit der Kutsche nach Dresden gefahren, um dieses altrömische Schriftstück zu begutachten. Doch der Sturm habe ihre Pläne umgestoßen.
„Und die Eisenbahn?“, fragte Krantz‘ Freund.
„Gott bewahre“, rief Madame Balthus aus. Sie würde sich nie und nimmer in dieses neumodische Gefährt setzen. Sie sei doch nicht lebensmüde.
Krantz, bis dahin unbeteiligter Beisitzer, Griessuppe löffelnd und abwägend, ob sie mit der seiner verstorbenen Frau auch nur im Entferntesten standhalten könne, horchte auf.
Eine Gleichgesinnte? Eine Seelenverwandte? Und, – verstohlen betrachtete er sie von der Seite – ansehnlich noch dazu.
Madame Balthus drehte den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Sie errötete. Krantz wurde warm ums Herz, was schon lange nicht mehr geschehen war.
„Madame, ich stimme Ihnen völlig…“ begann Krantz, als er einen Stoß gegen das Schienbein verspürte.
Ärgerlich schaute er auf seinen Freund.
„Madame, ich bin absolut Ihrer…“
Weiter kam er nicht, weil er schon wieder getreten wurde. Erst da bemerkte er den eindringlichen Blick seines Freundes.
Krantz stutzte. Runzelte die Stirn. Er war sich nicht sicher, ob er den Blick richtig deutete. Eine Weile überlegte er. Endlich nickte er. Er hatte verstanden.
„Madame“, begann Krantz nun ein drittes Mal. „Die Eisenbahn ist ein sicheres Transportmittel. Erlauben Sie uns, dass wir Sie morgen nach Dresden begleiten. In der Eisenbahn. Es wäre uns eine Ehre, Madame.“
V2; 9990z