Von Daniela Seitz

Ich erinnere mich. Der Hausschuh in der Hand meiner älteren Schwester. Er trifft meine Mutter am Rücken. Immer und immer wieder. Trotzdem hört meine Mutter nicht auf. Sie steht mit dem Rücken zu meiner Schwester. Kassiert Treffer um Treffer. Lässt sich nicht aufhalten. Kein Wunder. Meine Schwester ist kleiner als meine Mutter. Wie eine nervige Fliege, die nicht einmal verscheucht werden muss. 

Ich höre die Schläge in den Magen, die Brust und …. auch auf den Kopf. Das Knacken ihrer Fingerknöchel. Lässt meine Mutter sich etwa auch von Ihren eigenen gebrochenen Fingern nicht aufhalten?

Sie schreit außer sich vor Wut. Meine Schwester auch. Ich schweige verängstigt. Bin erstarrt. Hör auf, hör doch auf. Dieser Moment dauert keine ganze Minute. Doch Gewalt scheint eine Ewigkeit auszulösen. Wann entlässt mich diese Minute endlich aus ihrer Gefangenschaft?

Ich sehe Blut. Überall. Es tropft aus der Nase. Aus dem Mund…

Mein Vater wehrt sich nicht. Stöhnt nur bei jedem Treffer. Ich sehe von der Treppe auf das Ganze herab. Ich bin zehn Jahre alt. Meine Schwester ist dreizehn und kämpft im Flur um das Leben unseres Vaters. Als er zu Boden geht, dreht meine Schwester durch. Sie greift nach dem Schirm und gibt den Pantoffel auf. Meine Mutter dreht sich um, sieht es und endlich lässt sie von unserem Vater ab.

Der Schirm kommt nicht zum Einsatz. Meine Schwester ist im Gegensatz zu meiner Mutter nicht vom Alkohol aufgeputscht. Sie legt den Schirm weg und wählt den Notruf.

 

***

„Was haben Sie empfunden, als sie es schafften, dies aufzuschreiben?“

Mein Therapeut nervt. Erst darüber reden, dann verarbeiten, dann tiefer verarbeiten durchs Aufschreiben und dann wieder drüber reden. So eine hoffnungslose Endlosschleife. Danke Mutter, für dieses und weitere Erlebnisse. Die werde ich bestimmt auch noch aufschreiben, um dann darüber zu reden. Ich bin jetzt 24 und immer noch ohne Ausbildung.

„Wut!“

„Auf wen?“

Eigentlich nur auf mich, weil die Idee des Aufschreibens von mir selbst kam. Dabei bin ich eher handwerklich geschickt. Aus Holz mache ich mit dem entsprechenden Werkzeug alles. Egal was. Ich habe immer etwas zum Schnitzen dabei. Ich greife ganz intuitiv danach.

„Schnitzen Sie ruhig, während Sie mir antworten. Es hilft Ihnen doch sich zu konzentrieren oder?“, bietet er mir an. Dankbar lege ich los. Er weiß, dass ich keine Gefahr bin, auch wenn wir anfangs deswegen echt aneinandergeraten sind.

„Also schön: Ich bin wütend auf meine Mutter. Warum ist sie keine fürsorgliche Mutter, sondern eine Gefahr für uns? Eine wahnhafte Episode. Dass ich nicht lache über so viel Unverfrorenheit. Ich möge ihr ihre Krankheit verzeihen? Niemals!

Ich bin wütend auf meinen Vater. Klar, er hat die Schläge eingesteckt, damit meine Mutter nicht sagen kann, er würde sie schlagen. Aber sich selbst dann nicht zu wehren, wenn er durch die Schläge sterben kann, dass ist doch kein Vorbild. Einfach nur ein Feigling! Und erst meine Schwester, sie…“.

Ich halte inne.

„Was ist mit Ihrer Schwester?“

Ich will nicht darüber reden. Sie ist mein wunder Punkt. Meine Schwester.

„Warum sind sie wütend auf Ihre Schwester?“

Ich höre auf zu schnitzen, denn meine Hände fangen an zu zittern. Ich kann kaum noch mein Werkzeug festhalten. 

„Brauchen Sie eine Pause?“, bietet mein Therapeut mir einen Ausweg an.

Wie oft noch? Es ist hoffnungslos. Wie oft noch werde ich an diesem Punkt kneifen. Immer wieder muss ich genau an diesem Punkt abbrechen, weil ich in Tränen ausbreche, zittere, Panikattacken bekomme und einfach nicht loslassen kann. Ich sehe es auch in seinen Augen. Er will abbrechen, weil ich nicht belastbar bin. Weil alles immer zu viel ist. Weil ich der Sohn meines Vaters bin.

Da klopft seine Sekretärin und unterbricht uns. Er wendet sich von mir zu ihr hin.

Ich sammle mich. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Das Zittern wird schlimmer.

Das Holz an dem ich mich festhalte, fällt zu Boden. Plötzlich bricht es aus mir heraus.

„Sie hat getan, was ich nicht tun konnte! Ich bin nutzlos!“

Beide starren mich schockiert an. Muss wichtig gewesen sein ihre Unterhaltung. 

Sorry, but not sorry! Endlich habe ich losgelassen! Das Zittern ist weg.

***

Nach meiner Sitzung laufe ich zum Bus. Mit dem fahre ich zum Bahnhof, um mit dem Zug nach Hause zu kommen. Es ist alles sehr weitläufig und ländlich hier. Mein Handy klingelt. Ich bleibe stehen um nachzusehen wer mich anruft und meine Laune sinkt. Mein Arbeitsvermittler ist immer hochmotiviert und höflich, aber zuletzt hatten wir besprochen, dass ich mehr Vorstellungsgespräche in kürzerer Zeit wahrnehmen soll. Das ist aber ohne Auto in dieser Weitläufigkeit hier nicht zu bewerkstelligen.

Wegen der Unmöglichkeit dieser Forderung bin ich ausfallend geworden und haarscharf an einem Hausverbot beim Jobcenter vorbeigeschlittert. Und jetzt nicht erpicht darauf das gleiche noch mal zu hören. Trotzdem nehme ich den Anruf meines Arbeitsvermittlers an. Wird schon schiefgehen.

„Herr Müller, erinnern Sie sich an unser letztes Gespräch?“

„Ja…“, antworte ich zurückhaltend und frage mich ob ich wegen rumschimpfen sanktioniert werden kann.

„Sie haben recht. Ohne Auto scheitert es an der Weitläufigkeit der Infrastruktur mehrere Vorstellungsgespräche an einem Tag wahrnehmen zu können.“

„Ach so?“, frage ich verdutzt.

„Haben Sie morgen Zeit für einen Trip mit unserem Arbeitsvermittlungstaxi? Wenn Sie bei uns einsteigen, können wir Sie morgen zu drei Arbeitgebern mitnehmen. Dort würden Sie vor Ort direkt Ihren Ausbildungsplatz kennen lernen und die Arbeitgeber sehen Sie und nicht nur Ihren Lebenslauf.“

„Äh, also Sie fahren mich mit dem Auto dreimal hin und her und ich darf mir alles ansehen?“

„Ja genau so ist es gedacht!“

„Ist das wie ein Vorstellungsgespräch?“

„Es ist formloser. Sie werden es sehen. Dann holen wir Sie morgen um 7:30 Uhr ab?“

„So früh … ach nein schon gut. Morgen passt schon. Und bei wem darf ich schnuppern?“

„Haben Sie sich schon bei unserem Online Portal eingerichtet?“

„Ja, habe ich.“

„Moment, dann schicke ich Ihnen alle Daten jetzt zu. Dann bis morgen.“

„Äh, ja, bis morgen.“

So schön das mit diesen Online Portalen ist, irgendwie überrumpelt mich jetzt die Schnelligkeit dieser Informationen. Während der Busfahrt und auch noch während der Zugfahrt gehe ich über mein Handy alles durch, was mir online zugeschickt wurde.

Formloser als ein Vorstellungsgespräch? Mit einem potenziellen Arbeitgeber? Soll ich da etwa in Jeans und T-Shirt auftauchen?

***

„Guten Morgen!“, schallt es mir entgegen.

Immer so hochmotiviert, als gäbe es keinerlei Hindernisse. Ich möchte um diese Uhrzeit noch nicht reden. Ist das so außergewöhnlich?

„Auch einen Kaffee?“, fragt ein Kollege meines Fahrers vom Rücksitz.

Klar, würde einer alleine fahren, könnte ich ja gefährlich werden, denke ich verschnupft. Doch der für mich mitgebrachte Kaffee ist ganz klar ein Friedensangebot und lässt mich mitmachen.

„Morgen, ja danke!“, antworte ich den Kaffee nehmend. Ich steige ein und schnalle mich an. Ich bin tatsächlich in Jeans und T-Shirt unterwegs. Sollte das ein Problem werden, sollen die mir nicht noch einmal mit dem Wort formlos kommen.

Und schon geht es los zu unserer ersten Station. In nur zwanzig Minuten schaffen wir den Weg, der mich mit Bus und Bahn eine gute Stunde kostet. Gerade die frühen Termine ab 8:00 Uhr waren für mich deshalb ein Problem. Oft kam ich zu spät und wurde deshalb als nicht verlässlich aussortiert und nicht in Betracht gezogen. Ist irgendwie schön, diesmal pünktlich zu sein.

Der Mann der uns begrüßt ist freundlich, aber hat irgendwie sehr kalte Augen. Er löst ein Unwohlsein in mir aus. Mach das du wegkommst, denke ich und greife instinktiv zu meinem Schnitzwerkzeug in meiner Tasche. Das beruhigt mich und ich bekomme den Kopf frei um mich ganz der Führung durch die Abteilungen widmen zu können.

Trotz dieser tiefen Einblicke, die es normalerweise erst gibt, wenn man das Bewerbungsverfahren überstanden hat, scheinen weder ich noch der Arbeitgeber zueinander zu passen. Wir verabschieden uns höflich.

„Also auf zu unserem 11:00 Uhr Termin.“, meldet sich mein Vermittler immer noch hochmotiviert.

Ich bin da nicht ganz so zuversichtlich. Aber es ist echt entspannt einfach wieder ins Auto zu steigen und zu wissen, dass man gleich nochmal mehr vom potenziellen Arbeitsplatz sehen wird, als es mit dem üblichen Bewerbungsverfahren möglich wäre. So entspannt, dass ich meine Hand aus meiner Tasche ziehe und versehentlich mein letztes Schnitz Projekt auf den Boden werfe.

„Wird das ein Gesicht?“, fragt der Kollege meines Vermittlers und reicht mir meinen nur halbfertigen Holzscheit.

„Ja!“, murmele ich verlegen.

„Das haben Sie ja gar nicht als Fähigkeit in ihren Unterlagen angegeben. Na sehen Sie, da lernen nicht nur Arbeitgeber und Arbeitnehmer dazu. Da hat sich unsere Fahrt doch gleich doppelt gelohnt!“, freut sich mein Arbeitsvermittler und seine authentische Freude wirkt so entwaffnend, dass ich während der Fahrt zum nächsten Termin anfange von meinen Schnitzereien zu erzählen.

Mein Arbeitsvermittler hört aufmerksam zu. Doch der Kollege fängt an auf der Rückbank zu telefonieren. Fragend schaue ich meinen Arbeitsvermittler an.

„Sie haben uns auf eine Idee gebracht. Das ändert aber unsere Planung. Und der Kollege organisiert das gerade.“, lacht er mich aufrichtig an.

„Eine Idee?“

„Ja eine, die zu Ihnen passen sollte wie angegossen.“

****

Das Ende vom Lied vorwegnehmend habe ich eine neue Familie gefunden. Die Ausbildungsleiterin zu der meine Vermittler mich umorganisierten, war so warmherzig, so angetan von meiner Schnitzkunst und so unterstützend wie es zuvor nur meine Schwester gewesen war, bevor diese den Kontakt zu mir abbrach. Das hatte ich verdrängt, weil der Verlust der einzigen Unterstützung die ich je erlebt hatte, zu weh getan hatte. Die Ausbildungsleiterin war darüber hinaus meiner Schwester so ähnlich, dass ich sogar einen Umzug mithilfe des Jobcenters in Kauf genommen habe, um mit ihr arbeiten zu können.

Denn hier passe ich nicht nur rein. Ich bin wertvoll und nützlich.

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