Von Andreas Schröter

Richard Schwarz war der Star seines Sportvereins. Im Mittwochs-Workout verging keine Trainingseinheit, in der Vanessa, die überaus attraktive Trainerin mit dem sehr knackigen Gesäß, ihn nicht über alle Maßen lobte: „Nehmt euch ein Beispiel an Richard und was er mit seinen 85 Jahren noch kann! Das schafft ihr alle auch, wenn ihr dranbleibt!“ Bei den Hanteln griff er keinesfalls zum leichtesten Set, und beim anfänglichen Lauf ums Stadion kam er nie als Letzter an – und das, obwohl der Kurs ansonsten aus Teilnehmern und Teilnehmerinnen bestand, die im Schnitt 40 Jahre jünger waren als er. Er winkte bei Vanessas Lob immer bescheiden ab, platzte innerlich aber geradezu vor Stolz.

Das alles änderte sich, als er beim Gardinen-Abhängen in seiner Wohnung ganz oben auf der Leiter das Gleichgewicht verlor, weil er sich, um die letzte Öse zu erreichen, zu weit vorbeugen musste, und mit dem Rücken auf den Boden knallte. Die MRT-Aufnahme zeigte eine zwar noch nicht gebrochene, aber sichtbar angeknackste Wirbelsäule. Der behandelnde Arzt im Krankenhaus redete nicht lange um den heißen Brei herum: „Herr Schwarz, es tut mir leid, aber ich gehe nicht davon aus, dass Sie wieder in der Lage sein werden zu laufen. Bitten Sie Ihre Angehörigen, sich um einen Rollstuhl für die Zeit nach Ihrer Entlassung zu kümmern.“ Dann war er weg, weil er sich um den nächsten Patienten kümmern musste.

„Ich werde wieder bei Vanessa mitmachen“, sagte Richard trotzig, aber das hörte der Arzt nicht mehr. Richard kämpfte mit den Tränen, nicht nur wegen der Nachricht vom Arzt, sondern vor allem, weil die Schmerzen extrem heftig waren.

Bereits am dritten Tag nach seinem Sturz versuchte Richard, die Beine aus dem Bett zu heben, um zu prüfen, wie es sich anfühlte, wieder auf ihnen zu stehen. Es fühlte sich grauenhaft an. Der Schmerz war so stark, dass sich Richard nahe einer Ohnmacht befand, sich in sein Bett zurücksinken und um mehr Schmerzmittel bitten musste.

Der siebte Tag war der erste, an dem es dem muskulösen Pfleger Rolf gelang, Richard vorsichtig in einen Krankenhaus-Rollstuhl zu hieven, ohne dass der vor Schmerzen laut schrie. Dann schob er den Patienten etwas über den Flur und sagte: „Ein bisschen Abwechslung muss sein, Herr Schwarz, oder? Sonst wird man ja verrückt. Wir machen jetzt mal unsere Tour de France den Flur runter, damit Sie nicht völlig einrosten und Ihr Kreislauf wieder auf Touren kommt.“

Bei dieser ersten „Tour de France“ von vielen weiteren erspähte Richard etwas, das er fortan als sein Ziel auserkor. Am Ende des Gangs – vielleicht 20 Meter entfernt vor Zimmer 129 – stand ein Tischchen mit einer Bonbonschale, aus der sich die Patienten bedienen durften. „Ich will von meinem Bett bis zur Schale laufen“, sagte er zu dem Pfleger, der ihn schob.

„Sicher, sicher“, sagte der, doch es klang wie: „Niemals wirst du das in diesem Leben noch schaffen.“

Ganz anders Kurt von Zimmer 119 schräg gegenüber. Kurt gab vor, Richard von früher zu kennen, aber Richard konnte sich partout nicht an ihn erinnern. Aber das machte nichts. Es tat gut, in dieser tristen Umgebung jemanden zu haben, mit dem man mal reden konnte. Immer häufiger kam der noch rüstige Kurt aus seinem Zimmer und setzte sich für einen Moment an Richards Bett. „Natürlich schaffst du es bis zur Bonbonschale“, sagte Kurt, „du machst die Tour de France zu Fuß, nicht im Rollstuhl. Ich kenne jemanden, der mit einer angebrochenen Wirbelsäule nach drei Monaten wieder seine Radtouren aufgenommen hat.“ Sicher, Kurt war etwas einfach strukturiert – er redete ansonsten fast ausschließlich über den Tabellenstand in der Fußball-Bundesliga, wie er am Ballermann auf Mallorca vor 50 Jahren mal eine üppige Brünette aufgerissen hatte und dass er nach seinem Krankenhaus-Aufenthalt in seinem Stammlokal „Zum Postillon“ als Erstes Eisbein mit Pommes bestellen würde. Aber das alles machte nichts. Kurt tat Richard gut. „Ich steh Schmiere, wenn du deine Tour zur Bonbonschale machst“, sagte er jetzt, „und lenk die Schwestern ab.“

Und später lassen wir davon Francis Ford Coppola ein oscarprämiertes Roadmovie drehen, dachte Richard. „Richard auf seinem Weg zur Bonbonschale“. Er musste lachen, und Kurt schaute jetzt etwas irritiert, aber immerhin hatte er jetzt einen Plan.

Als Kurt zum ersten Mal den Notfallknopf drückte und alle Schwestern und Pfleger sofort in sein Zimmer stürmten, kam Richard genau bis Zimmer 121. Dann musste er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Wand abstützen. Er wusste, trotz aller Willensanstrengung würde es für ihn keinen Millimeter weitergehen. Er musste sich von einer laut schimpfenden Schwester in einem Rollstuhl in sein Zimmer zurückbringen lassen: „Herr Schwarz, Sie riskieren, dass die angebrochene Stelle nicht richtig verheilen kann und womöglich ganz durchbricht. Außerdem könnte Ihr Herzchen schlappmachen – wegen der ungewohnten Anstrengung.“

Es war ihm absolut schleierhaft, wieso sie von „Herzchen“ sprach. Sie möge doch bitte mal bei seiner Trainerin Vanessa nachfragen, zu was sein verdammt starkes Herz alles in der Lage war, dachte er, verkniff sich aber diesen Einwand.

Eine Woche später starteten Richard und Kurt den zweiten Versuch. Wieder betätigte Kurt den Notfallknopf und simulierte eine bevorstehende Ohnmacht. Richard kam diesmal bis Zimmer 127, als ihn eine Schwester erwischte, die nicht schnell genug in Kurts Zimmer gelangt war. „Was soll der Unsinn, Herr Schwarz?“, schrie sie unangemessen laut, „das ist lebensgefährlich, was Sie hier treiben.“ Sie brachte ihn im Rollstuhl zurück.

Richard war sich sicher, die Bonbonschale diesmal erreicht haben zu können. Wenn nur diese trantütige Schwester nicht gewesen wäre …

Eine weitere Woche später kam es zu einem Vorfall, der Richards ohnehin desolates Nervenkostüm weiter massiv schädigte. Er saß zufällig im Rollstuhl vor seiner offenen Zimmertür, als er bemerkte, dass über Kurts Zimmer die rote Alarmlampe aufleuchtete. Komisch, dachte Richard, wir haben doch gar keinen neuen Ausflug zur Bonbonschale geplant. Und da Kurt in einem Einzelzimmer untergebracht war, konnte nur er es sein, der den Knopf gedrückt hatte. Doch auf dem Flur blieb es seltsam ruhig. Keine Pfleger und keine Schwester ließen sich blicken. Erst – nach Richards Gefühl – nach fünf Minuten – wahrscheinlich waren es in Wirklichkeit weniger – begab sich ein Pfleger langsam schlurfend in Kurts Zimmer. „Der simuliert doch wieder nur“, sagte er beim Eintreten leise, aber für Richard gut hörbar. Doch plötzlich ging alles sehr schnell. Ärzte, Schwestern und Pfleger rannten im Laufschritt den Flur hinunter dem Pfleger hinterher …

Die Hilfe für Kurt war letztlich zu spät gekommen. Wenig später wurde sein Bett zusammen mit seinem von einem Tuch bedeckten Körper aus dem Zimmer gefahren. Schwer atmend und mit den Tränen kämpfend, rollte Richard zurück in sein Zimmer. Es war seine Schuld und sein vollkommen überzogener Ehrgeiz gewesen, der diese Tragödie ausgelöst hatte. Hätte Kurt niemals einen Schwächeanfall simuliert, wäre die Hilfe jetzt schneller dagewesen, und sein Freund würde vielleicht noch leben. Wie würde Richard sich das jemals verzeihen können?

Doch dieser Zustand hielt nur fünf Tage an. In einer Nacht um kurz nach Mitternacht, als die Chancen gut standen, niemandem auf dem Flur zu begegnen, stemmte sich Richard ein drittes Mal aus seinem Rollstuhl, öffnete seine Zimmertür und begab sich auf den langen, langen Weg zur Bonbonschale vor Zimmer 129. Seine ganz persönliche Tour de France, sein Roadmovie auf zwei Beinen konnte beginnen …

Als er von der Frühschicht um 5.30 Uhr gefunden wurde, schätzten die Ärzte, dass er seit etwa fünf Stunden tot war. Herzstillstand aufgrund ungewohnter Belastung. In der linken Hand hielt er ein zerknülltes Bonbonpapier, die rechte war seltsam verkrümmt – ein Pfleger in Ausbildung flüsterte einer jungen Schwester zu, in die er verliebt war, das sehe fast wie ein Victory-Zeichen aus. Außerdem schien es beinahe so, als würde Richard Schwarz im Tod lächeln.