Von Sabrina Rüdebusch

„Ich freue mich auf dich”, hatte Mareike gesagt. Ich freue mich auf dich. Und später: Ich kann es kaum erwarten. Und er hatte es kaum glauben können. Ihre Augen hatten geleuchtet und ihre Wangen waren so rosig gewesen. Wie frische Äpfel. Das waren sie heute wieder. Nur dass ihre Vorfreude nun jemand anderem galt.

 

Jannis Enders stand vor dem größten Spiegel in seiner geräumigen Loftwohnung und warf einen letzten prüfenden Blick auf sein geschniegeltes Äußeres. Die Kombination aus maßgeschneidertem Anzug und farblich abgesetzten Sneakers: professionell und souverän, das Haar: lässig und frisch in Form gebracht. „Und erst mein Lächeln“, dachte er und zwinkerte seinem Spiegelbild zu, „so charismatisch, Gewinnertyp durch und durch.“ Es würde bei der Gründermesse heute auf jedes Detail seines Auftretens ankommen. Inhaltlich gab es nichts mehr zu optimieren. Die Maschine war perfekt. Anfänglich hatte er hier und dort Hilfe in Anspruch nehmen müssen, vor allem was die Programmierung anging. Neider hatte es immer gegeben, aber so war das eben, wenn einer sich im Erfolg sonnte. „Erfolg ist doch nicht alles, Jannis.“ Da war sie wieder, jene empörte Stimme seiner Mutter, dieses personifizierten Gewissens. Sicher, das eine Mal war er zu weit gegangen, hätte nicht nur seinen eigenen Namen unter das Ideenpapier setzen dürfen. Aber musste sie direkt behaupten, er hätte ohne seinen besten Freund zuvor nicht einmal das Studium geschafft? Schließlich war Jannis der kreative Kopf hinter dem ganzen Geschäftsmodell, hatte sich um Organisation, Sponsorengelder und das Design gekümmert. Die paar fachlichen Einzelheiten – „Das gesamte technische Konzept, Jannis!” – waren ihm eher wie ein Freundschaftsdienst vorgekommen. Aber gut, es würde sich schon eine hübsche Summe abzweigen lassen, und dann könnten sie doch wieder beste Freunde sein, wie früher. Nur musste er dafür jetzt wirklich los und pünktlich den einen Zug erwischen, der sonntagmorgens nach Köln fuhr. Eilig nahm er seinen Koffer und machte sich nach einem wirklich letzten Kontrollblick auf den Weg zum Bahnhof.

 

Hätte es vor der Abfahrt eines Fernverkehrszugs Gepäckkontrollen wie am Flughafen gegeben, wäre Anneliese vermutlich für eine übereifrige frischgebackene Oma gehalten worden. Windeln, Milchpulver und Flaschen mit verschiedenen Saugermodellen, mehrere Garnituren Kleidung, hygienische Unterlagen und Wundschutzcreme – sogar eine Babytrage hatte sie dabei. Sie wollte ja mit der Zeit gehen. „Mehr Wärme“ wurde gefordert von den jungen Kolleginnen. Anneliese verdrehte genervt die Augen. Bei so viel innerer Wärme vergaßen diese Neulinge über ihre klimapolitische Borniertheit die Bedeutung einer gut aufgedrehten Heizung im Winter für die Gesundheit der Kinder. Ein warmes Herz, aber chronisch verschnupfte Nasen. Sie hingegen hatte in ihrer Zeit als Einrichtungsleitung doch immer wieder gezeigt, dass ihr pädagogisches Konzept aufging. Hatte sie nicht alles gegeben für diese armen Kinderseelen? Ihre ganze Zeit war in die Organisation eines Heims geflossen, in dem ihre Schützlinge eine echte Chance erhielten. Eine Chance auf ein sinnerfülltes und produktives Leben. Unabhängig sollten sie werden – nicht verweichlicht –, engagiert und gebildet. Die Ergebnisse sprachen für sich, meinte Anneliese. Die allermeisten selbst der hoffnungslosesten Fälle hatten unter ihrer Obhut etwas aus sich gemacht. Natürlich konnten nicht alle von ihnen Anwalt oder Ärztin werden. Von diesen zierten zwar auch genügend Fotografien ihr Wohnzimmer, immer mit der stolz dreinblickenden Anneliese neben sich, aber auch ein gewandter Fremdsprachenkorrespondent, eine hingebungsvolle Tierpflegerin und die vielen ehemaligen Heimkinder, die sich nun in handwerklichen Berufen verdingten, konnten sich als Referenz sehen lassen. Sie gehörte doch nicht zum alten Eisen. Wollte das Landesjugendamt sie nicht mehr in solch einer öffentlichkeitswirksamen Position, so würde sie sich nun eben um die Allerkleinsten kümmern. Als Bereitschaftspflegemutter war sie mit Kusshand angenommen worden. Wer wollte heutzutage schon für die verwahrlosten Sprösslinge drogenabhängiger oder delinquenter Minderjähriger sorgen, noch dazu spontan, zeitlich flexibel und bereit, das kleine Würmchen wieder herzugeben, wenn das Jugendamt eine geeignete dauerhafte Pflegefamilie gefunden hatte. Annelieses eigener Sohn war längst erwachsen, vielbeschäftigt und pflegte wenig Kontakt zu seiner Mutter, obwohl er doch als Kind so überaus anhänglich gewesen war. Es war auch bei ihm nicht leicht gewesen, einen eigenständigen Charakter zu fördern. Jedenfalls hatte sie die nötige Zeit und Erfahrung und würde heute das erste Baby in Empfang nehmen. Sie stand mehr als pünktlich am Bahnsteig und wartete darauf, dass der Zug einfahren würde.

 

Die kleine Hand, die ungeduldig an seiner großen zerrte, war klebrig, und Herbert wurde sich wieder einmal bewusst, wie wenig er dieser kleinkindlichen Hektik abgewinnen konnte, noch dazu an einem zugigen Bahnhof inmitten der Provinz. „Warum genau nochmal müssen wir sie hier abholen? Mir scheint das zeitlich recht knapp. In der Einladung steht 13:30 Uhr.“ Ilse lächelte ihrem Mann aufmunternd zu. „Ach, du kennst sie doch. Es ist irgendeine Tradition, die sie aufgeschnappt hat. ‚Die drei Nächte vor der Hochzeit muss die Braut allein verbringen und sich mit innerer Einkehr auf ihren neuen Lebensabschnitt besinnen. Das bringt Glück, Mama.‘ Dieses Mal meint sie es wirklich ernst, du wirst schon sehen.“ Herbert grummelte etwas Unverständliches. Maxi, der unterdessen begonnen hatte, seine Langeweile zu bekämpfen, indem er seine große Schwester in die Seite knuffte, wollte wissen, ob die Mama denn ein weißes Kleid tragen werde. „Im Prinzessinnenkleid hat sie es schon mal versucht, du kleine Nervensäge“, sagte Lila und schubste Maxi zurück gegen Opa Herbert, woraufhin dieser sich missmutig hinter seiner Zeitung verschanzte, „ich rechne eher mit einem Raumanzug oder vielleicht einem Nachthemd, oder gibt es keine solchen Hochzeitsbräuche, Oma?“ Ilse konnte sich ein kleines Auflachen nicht verkneifen, dann aber bedachte sie ihre Enkelin mit einem ernsten Blick. „Eure Mama hat mit ihren Verehrern bisher wenig Glück gehabt. Vielleicht stürzt sie sich auch manchmal etwas zu sehr in ihre spontanen Ideen. Ich glaube aber fest daran, dass sie heute keinen Rückzieher machen wird. Also verkneif dir die spöttischen Kommentare, wenn sie ankommt.“ 

 

Mathis Marnow war keiner dieser Bahnbediensteten, die lustlos ihre Zeit absaßen und vor dem Kontakt mit Reisenden zurückscheuten, als wären diese auf der Jagd nach ihm. Auch im Kollegium wurde er geschätzt, weil es sowohl am Wagen selbst als auch im IT-Bereich kein Problem gab, das er nicht lösen konnte. Seine Gutmütigkeit schien ebenfalls keine Grenzen zu kennen. Wieder einmal hatte er ohne mit der Wimper zu zucken angeboten, den Dienst seiner Kollegin zu übernehmen, damit diese den Sonntag mit ihrer Familie verbringen konnte. Pünktlich um 10 Uhr gab er seine Login-Daten für den internen Bereich des Reisendeninformationssystems ein und aktualisierte die Verbindungsinformationen. Anschließend überprüfte er die Bahnsteige per Kameraüberwachung. Nummer 11 erregte seine Aufmerksamkeit. Geschäftiges Treiben gab es immer, wenn von einem gar nicht mal so großen Bahnhof ein Zug in eine Großstadt abfuhr, aber heute waren direkt mehrere Menschen scheinbar in heller Aufregung. Er sah die seriös gekleidete Frau um die sechzig, die sich beim ungeschickten Versuch, ein großes Stück Stoff um ihren Körper zu drapieren, in den unzähligen Schnallen und Riemen verhedderte, daraufhin ihre prallgefüllte Reisetasche auf den Boden warf und einen Rumpelstilzchen-artigen Wuttanz auf der Stelle vollführte. Nicht weit von ihr entfernt stand der Archetyp des hippen Geschäftsmannes. Fast noch jugendlich wirkte er mit seinen gegelten Haaren und dem Smartphone, das wohl mit seiner Hand festverwachsen sein musste. Vor lauter Wichtigkeit bemerkte er weder den Kaffeefleck auf seinem hellen Jackett noch, wie zwei seiner Notizblätter sich flatternd verabschiedeten, vom Wind bis über die Schienen hinweg getragen wurden und dort in einer Pfütze ihr aufgeweichtes Ende fanden. Demgegenüber wirkte die Frau im elfenbeinfarbenen Chiffonkleid, die gerade eilig die Treppen hinaufstürmte, sympathisch. Wie sie sich mit vor Anstrengung glühendem Gesicht umsah und schließlich nach kurzer Suche ihre Familie in die Arme schloss, ihre erleichtert aufatmenden Eltern, den kleinen Jungen von vielleicht vier Jahren und die gelangweilte Teenagertochter, ließ Mathis erst schmunzeln, dann innehalten. Doch nach einem kurzen Moment drückte er den Knopf und näherte sich dem Mikrofon.

 

„Durchsage zu IC 2044 nach Köln Hauptbahnhof von Gleis 11. Dieser Zug fällt heute aus. Grund dafür ist eine technische Störung.“

 

Welche Bandbreite an Gefühlen eine solche Durchsage hervorrufen konnte, war immer wieder bemerkenswert. Die meisten reagierten entnervt. Einige wenige zeigten Verständnis. Selbstredend war Mathis gern mit Alternativverbindungen zur Stelle. Auch die richtigen Formulare für Entschädigungen oder Fahrtkostenerstattung gab er bereitwillig heraus. Für die Enttäuschten von Gleis 11 war er heute allerdings nicht zu sprechen. Genüsslich beobachtete er, wie der Bahnsteig sich leerte. Den Zug in der Frühe fahruntauglich zu manipulieren, um sich an seiner kaltherzigen Mutter zu rächen, seinem ehemaligen besten Freund, dem Verräter, eins auszuwischen und Mareikes Liebesglück ebenso zu zerstören, wie sie es bei ihm getan hatte, – das war leicht gewesen. Der Anfang war gemacht. Aber die Liste der Treulosen umfasste noch weitere Einträge. Würde der Zufall ihm bei der Kombination seiner Vergeltungsschläge erneut in die Hände spielen oder würde er seinem Glück auf die Sprünge helfen müssen?

 

Version 2