Von Miklos Muhi

»Liebe Passagiere! Wir müssen Ihnen mit Bedauern mitteilen, dass unser Zug wegen unwetterbedingter Lok- und Waggonschäden den Bahnhof Landsberg am Lech vorerst nicht verlassen kann. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten. Ihre Reise wird mit einer Stunde Verspätung, vom Gleis 3, um 16:20 Uhr mit einem anderen Set von Waggons fortgesetzt werden. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«

 

Johanns Gesicht verfinsterte sich, sein Puls fing an zu rasen. Über einem Teil seines Blickfelds erstreckte sich ein dunkelgrauer Schleier. Das kam in der letzten Zeit öfters vor. Er atmete tief ein, denn das half üblicherweise, seine Sehkraft zurückzubringen. Dann sprang er auf und sah sich nach einem Schaffner im Waggon um.

»Himmelherrgott noch mal!«, brüllte er.

 

Diese Unterbrechung seiner Reise bedeutete, dass sein lukrativ anmutender Termin buchstäblich ins Wasser gefallen war.

 

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen zornigen Gedankenwirbeln. Nach einem kurzen Blick auf den Bildschirm setzte er sein haiartiges Lächeln auf und nahm den Anruf entgegen.

»Wie geht es, Hochwürdiger?«, fragte er und folgte den anderen Fahrgästen, die aus dem Zug stiegen. Das Unwetter war schon Richtung Osten fortgezogen. Die Schwüle der feuchten Hochsommerluft schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht.

»Ich schaffe es nicht zu unserer Besprechung heute. Bin an irgendeinem Provinzbahnhof gestrandet. Die Bahn meint, dass es vorerst kein Weiterkommen gäbe … Auch keine Busse … Ich habe die neuesten Kruzifixe, Heiligenstatuen, Rosenkränze und alles, was das gläubige Herz begehrt. Das kannst Du Dir nicht entgehen lassen. Habe sogar den Katalog des nächsten Jahres, Bezahlbare Heiligkeit 2026, dabei, damit … Was soll das jetzt heißen? … Doch, wir kommen ins Geschäft … Wer in einem Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Es wäre nämlich schade, wenn der Bischof erfahren würde, was Du sonst noch bei mir bestellst. Von Deiner letzten Reise nach Rom auf Firmenkosten ganz zu schweigen … Ich bin mir sicher, dass Seine Exzellenz erhebliche Zweifel an der Spiritualität Deiner Besuche in Schwulenbordellen haben würde. Und wenn ich damit ausrücke, was Du in Thailand nachts mit den hübschen Kanakenjungs angestellt hast … Oh doch! Noch dazu …«

 

Die Welt verdunkelte sich und es wurde still und eiskalt.

 

*

 

Seine Augen passten sich rasch an die Dunkelheit an. Das Erste, was er sah, war der Sternenhimmel über ihm. Johann erkannte kein einziges Sternbild. Die fremdartigen Formationen funkelten ihn mit majestätischer Indifferenz an.

 

Er stand auf.

 

Sein Verlangen, nach Hilfe zu schreien, unterdrückte seine Angst auf der Stelle. Die Dunkelheit war ein ausgezeichnetes Versteck für alles Mögliche. Jedes Geräusch hätte das Gesindel sofort zu ihm geführt.

 

Er drehte sich einmal im Kreis herum. Wenn es in dieser hinterteilmäßigen Kälte Menschen gab, hätten sie ein Feuer angezündet, so hoffte er.

 

Der kleine, schimmernde Lichtpunkt in der Ferne, kaum stärker leuchtend als die fremden Sterne, ließ Hoffnung in ihm aufkeimen. Einen Freudenschrei riskierte er nicht, sprintete aber Richtung Licht los.

 

Die Geräusche seiner Schritte über den feinkörnigen Sand waren kaum wahrnehmbar. Das dumpfe Rascheln ließ ihn gelegentlich anhalten und sich umschauen. Nichts und niemand folgte ihm.

 

Das mulmige Gefühl verließ ihn trotzdem nicht.

 

Je weiter er kam, desto unwiderstehlicher wurde die Anziehungskraft des Lichts und desto stärker erschien das kalte Leuchten, das so gar nicht nach dem heimeligen Schein eines Feuers aussah.

 

Die Bilder in seinem Kopf über Mitmenschen, die ihm aus der Patsche helfen würden, wurden vom grellen Schein, der alles andere verdunkelte, verdrängt. Seine Beine schienen nie müde zu werden, trotz der Anstrengung, die das Laufen auf dem Sand mit sich brachte. Sein gescheiterter Versuch, anzuhalten oder zumindest langsamer zu rennen, brach die Dämme, die sein blankes Entsetzen zurückhielten.

 

Er ließ sämtliche Drohszenarien über in der Dunkelheit lauernde unaussprechliche Wesen, die er selbst aufgebaut, gepflegt und gehegt hatte, ziehen und schrie auf.

 

Der Griff zweier kräftiger Hände an seinen Oberarmen brachte ihm fast schon Freude. Man hob ihn hoch. Sein Danke hörte sich in den eigenen Ohren als ein kaum wahrnehmbares Brabbeln unter Wasser an.

 

Sterne und Licht verschwanden und ein bestialischer Gestank erfüllte, gefolgt von erneuter Dunkelheit und Stille, seine ganze Welt. Diesmal waren sie von der heilsamen Sorte.

 

*

 

»Herr Prexler? Können Sie mich hören?«

Johann öffnete die Augen. Die schemenhaften Gestalten in seinem Blickfeld nahmen langsam Form an. Drei Männer schauten ihn an. Einer trug weiße Ärztekleidung, die anderen zwei sahen wie Pfleger aus.

 

»Können Sie mich hören, Herr Prexler?«, wiederholte der Arzt seine Frage, holte eine Taschenlampe von außerhalb Johanns Blickfeld und leuchtete in seine Augen.

 

Das Licht blendete ihn.

 

»Bitte schauen Sie mich an«, sagte der Mann und beugte sich über Johann. Sobald die Blendung durch das Licht der Taschenlampe nachließ, fokussierte er die Augen des Arztes.

»Wo bin ich?«, fragte Johann.

»Sie sind in der Abteilung für Traumatologie des Kreiskrankenhauses Landsberg am Lech und werden vorerst hierbleiben. Ich bin Kemal bin Zayid, Traumatologe und Ihr behandelnder Arzt.«

»Was ist passiert?«, fragte Johann.

»Sie sind vor dem Bahnhof verunglückt, durch ein beschädigtes Kanaldeckels in die Kanalisation gefallen. Dabei haben Sie sich mehrere Knochen gebrochen und ein Trauma erlitten.«

»Was wird jetzt passieren?«

»Die Kollegen werden Ihre gebrochen Knochen mithilfe einer Osteosynthese verbinden und fixieren. Nach der OP bekommen Sie einen Gipsverband. Die Brüche heilen in spätestens zwei Monaten, aber …«

»Aber was?«, fragte Johann.

»Wir haben Ihnen Schmerzmittel verabreicht, Sie vom Kopf bis Fuß geröntgt und dabei eine Raumforderung in Ihrem Schädel entdeckt.«

»Eine was?«

»Man kann das auch als Tumor bezeichnen. Jemand aus der Onkologie wird Sie genauer untersuchen. Es tut mir leid. Ich freue mich, dass Sie wieder bei Besinnung sind. Ich muss jetzt los. Die zwei Jungs werden sich des Weiteren um Sie kümmern«, antwortete Kemal und verließ den Raum.

»Herr Prexler, ich werde Sie in einer Stunde abholen und in die Onkologie bringen. Wenn Sie bis dahin etwas brauchen, drücken Sie den roten Knopf auf dem Nachttisch. Jetzt muss ich aber los. Bei uns gibt es viel Arbeit und wenig Personal.«

Die Stimme des Pflegers nahm Johann kaum wahr. Die aufkeimende Enge der Angst in seiner Brust füllte seine ganze Welt aus.

 

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