Von Julia Kalchhauser

Als Shanti die leere Tasse wieder auf den Tisch stellt, weiß sie schon, dass das Zwicken im Bauch in Kürze einsetzten wird. Weil es jeden Morgen so ist. So sehr sie den Geschmack von Kaffee liebt, so sehr verabscheut sie die negative Wirkung des Nervengifts auf manche ihrer Organe.

Im Spiegel betrachtet sie ihr Gesicht, sieht kleine Rötungen, wo gemeine Unreinheiten lauern, begutachtet die feinen Fältchen um die Augen, die sich nun nicht mehr leugnen lassen.

Aus dem Schrank nimmt Shanti die kleine Dose Nahrungsergänzung und fischt eine der winzigen Linsen heraus. Komisch, denkt sie, die sind doch immer dunkelgrün, eine in hellrosa hat sie noch nie gesehen. Sie überprüft und, ja richtig, alle anderen, noch in der Dose verbliebenen Linsen, sind dunkelgrün, die Farbe der Algen, die sie angeblich beinhalten. Aber die zwischen ihren Fingern ist eindeutig pink. Nette Abwechslung, denkt Shanti, zuckt mit den Schultern und spült das Ding mit einem Schluck Wasser runter.

 

Kurze Zeit später sitzt sie, wie jeden Tag, mit einem Haufen mürrisch dreinblickender Menschen in der U-Bahn, alle wie Zombies in ihre Handys versunken, alles vollautomatisiert, kein Augenkontakt, kein Lächeln, kein Leben.

Shanti tut es den anderen gleich, sie scrollt auf ihrem Handy durch die Headlines der Nachrichten, wechselt dann zu Instagram, scrollt durch Bilder von schönen Menschen in schönen Landschaften, die schöne Mahlzeiten in schönen Küchen zubereiten. Shanti liebt das sensorische Abschotten beim U-Bahnfahren: die Kopfhörer dürfen nie fehlen, die Lautstärke hoch genug, um weder die rauschenden Ansagen aus den Lautsprechern, noch das Zuknallen der automatischen Türen zu hören. Einzig Klänge der E-Gitarren, Drums und Bässe tanzen zwischen ihren Ohren. Als sie aufblickt, um zu sehen, in welcher Station sich der Zug gerade befindet, stellt sie verwundert fest, dass kaum noch jemand im Wagon sitzt. Ungewöhnlich in der morgendlichen Rush-Hour. Geistesabwesend scrollt sie weiter, wechselt zu Facebook, ärgert sich nach wenigen Sekunden über die Dummheit sogenannter „Freunde“ und deren Selbstsicherheit solche Dummheit auch noch zu veröffentlichen. Also zurück zu Instagram.

 

Als sie erneut aufblickt, befindet sich im Wagon außer ihr selbst nur noch eine weitere Person. Die junge Frau auf dem Sitz gegenüber trägt einen eng anliegenden Ganzkörperanzug in Pink. Ziemlich schräges Outfit, denkt Shanti und wundert sich eine Nanosekunde lang, welcher Arbeit man wohl in solch einem Aufzug nachgehe, bevor sie ihren Blick wieder auf‘s Display heftet und den Lärm in ihrem Kopf genießt.

 

„Komm, wir steigen hier aus“, sagt die pinke Erscheinung, die ihre Hand auf Shantis Schulter gelegt hat, woraufhin diese fragend ihre Kopfhörer abgenommen hat.

„Aber, ich muss doch …“, Shanti blickt sich um, „wo sind wir eigentlich?“, sie steht langsam auf, immer noch dabei zu erkennen, in welche Station sie gerade einfahren. „Wer sind Sie eigentlich und warum sollte ich Ihnen folgen?“ Verwirrung in vollem Maße. Dennoch steht sie bereits vor den Türen und lehnt sich gegen die Fliehkräfte des bremsenden Zuges.

 

Mit einem lauten Zischen öffnen sich die Türen und Shanti folgt der pinken Figur. Auf dem Schild steht Zentrum. Shanti kennt diese Station nicht. Nicht auf dieser Linie, nicht in ihrer Stadt. Auf dem Bahnsteig sieht sie nun weitere Figuren aus den anderen Wagonen steigen, alle in einem gleichen hautengen Anzug wie das pinke Fräulein, hinter dem sie hergezogen wird. Die anderen tragen aber unterschiedliche Farben. Sie queren den Bahnsteig, nehmen die Treppe und stehen einen Stock tiefer erneut auf einer Warte-Plattform.
„Wo führen Sie mich hin? Was soll das hier? Wo sind wir?“ Shanti versucht abermals Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bringen.
„Wir sind in deinem Körper. Jetzt gerade im Zentrum, von Yogatanten auch gern Körpermitte genannt.“ Die pinke Person rollt amüsiert mit den Augen. „Und ich finde du solltest mich duzen, in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden.“ Sie lächelt Shanti schelmisch zu, als bereits ein Zug in die Station braust. „Komm, wir fahren zuerst hinunter. Nenn mich einfach Flo.“ Sie zieht Shanti in den Zug und die Türen schließen sich.

 

Aus den Lautsprechern kracht es: Nächster Halt: Unterleib. Umsteigen zu Gebärmutter, Blase, Eierstock, Nieren, Becken und Enddarm. Shanti weiß nicht recht, wie ihr geschieht, aber sie spürt eine vertraute Sicherheit bei Flo.
„Steigen wir hier aus?“, fragt sie.

„Nein, noch nicht, ich will dir was zeigen, etwas Geduld.“

 

Nach der Station, in der hauptsächlich Figuren in orangen und dunkelroten Anzügen ausgestiegen sind, rollt der Wagen weiter. Nächster Halt: Knie. Umsteigen zu Meniskus, Oberschenkelknochen, Kniescheibe, Waden- und Schienbein.

„Komm, hier wollen wir raus.“ Flo hüpft auf und zieht Shanti mit sich aus der Tür.

„Großartig, ich wollt‘ immer schon wissen, wie mein Meniskus von innen aussieht“, meldet Shanti wenig begeistert. Flo scheint immun gegen den Sarkasmus.

„Das dachte ich mir schon.“ Die Begeisterung spiegelt sich in ihrer Stimme wieder. Das Augenrollen von Shanti sieht sie nicht. Die beiden verlassen die Station und folgen den Figuren in grauen Anzügen.

„Das sind die Knorpelbauer. Sie arbeiten konstant daran, den Schaden in Grenzen zu halten, den du mit jeder Stunde auf dem Tennisplatz verursachst. Manchmal kommen sie mit der Arbeit leider nicht ganz nach, wie du ja sicher bemerkt hast.“

Manche der grauen Figuren füttern weiß-gelbes Material in Geräte, die an alte Webstühle erinnern. Die Masse wird auf der anderen Seite als dicht verwobene Platten wieder aus den Geräten geschoben und von anderen Graumännchen weggetragen.

„Die Schmerzen im Knie …“, sagt Shanti mehr zu sich selbst als zu Flo, und fühlt sich schuldig. Speziell das linke Knie macht immer wieder Probleme, „… aber ich liebe den Sport nun mal.“

„Das wissen wir.“ Flo scheint es ihr nicht übel zu nehmen. „Und es ist auch deren Job, versteh‘ mich nicht falsch. Aber ab und zu ein Tennismatch gegen ein paar Längen im Pool einzutauschen, würd‘ dir hier unten bestimmt ein paar Fans bescheren.“ Sie zieht Shanti weiter, wieder die Treppen hinab. „Jetzt geht es wieder in den Norden.“

 

Nächster Halt: Oberbauch. Umsteigen zu Magen, Niere, Milz, Gallenblase und Leber.

„Komm, hier schauen wir uns kurz um.“ Flo hüpft leichtfüßig aus dem Zug, Shanti folgt ihr nun auch ohne gezogen zu werden.
„Das sind die Salzsäuren“, Flo zeigt auf die Figuren in neongrünen Anzügen, „unangenehme Zeitgenossen. Die kommen, nur um Krawall zu machen. Stellen das friedliche Gleichgewicht hier im Magen auf den Kopf.“ Shanti sieht orange Figuren, die alle emsig mit Schaufeln kleine Häufchen einer grüngelben Masse zusammentragen. Sind die Salzsäuren also die Hooligans des Magens? Sie treten willkürlich auf die Häufchen ein, verteilen die Masse wieder überall in der Gegend, und machen sich einen Spaß daraus die anderen Arbeiter niederzustoßen oder festzuhalten. Shanti kann kaum zuschauen.

„Kann man denn nichts tun gegen diese Rowdies?“

„MAN nicht, aber du“, sagt Flo und beobachtet weiterhin das seltsame Spektakel. „Jedes Mal wenn du zuviel Kaffee trinkst, spornst du die Salzsäuren an und schon kommen sie, um Unfug zu treiben.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Einzig du hast es in der Hand.“

Flo schnappt sich nun wieder Shantis Arm und zieht sie weiter. „Wir haben nicht mehr viel Zeit, ich will dir noch etwas zeigen.“

 

Nächster Halt: Gehirn. Umsteigen zu Gedankenexperimenten, Zukunftsängsten, Depression, Selbstliebe, Selbsthass und Imagination.

„Das klingt ja furchtbar, wollen wir wirklich hier raus?“

„Komm schon, ist nicht alles furchtbar“, Flos Enthusiasmus ist ungebrochen, „du wirst sehn!“ Die beiden gehen auf mehrere Drehkreuze am Ende des Bahnsteigs zu. Über jedem hängt ein Wegweiser zu den oben genannten Orten und daneben stehen Figuren in neutral beigen Anzügen.

 

„Das sind die Rezeptoren. Wie der Name schon sagt, empfangen sie die Arbeiter und lotsen sie durch die Drehkreuze. Du kannst sie steuern. Wenn du, angetrieben durch unrealistische Bilder in deinem Telefon, zum Beispiel, in eine Welle von Selbsthass tauchst, dann stehen die Rezeptoren bei diesem Ausgang und die Mehrheit der Ankömmlinge strömt dann dorthin. Ein paar vereinzelte wählen zwar dennoch andere Ausgänge, können dort dann aber nicht viel ausrichten in so geringer Zahl. Wenn du dich selbst liebst, dir Gutes tust, dir was gönnst, immer dann stehen die Wächter beim Ausgang Selbstliebe und die Mehrheit der hier Ankommenden bewegt sich automatisch dorthin.

„Mir was gönne?“ Shanti scheint verwirrt. „Ich glaube nicht, dass sich die Magenmännchen über den Rotwein freuen, den ich mir am liebsten gönne.“

„Ja, das stimmt“, gibt Flo ihr recht. „Aber du gönnst dir ja auch substanzlose Belohnungen. Du weißt schon: Badewanne, Bücher, Natur, schöne Stunden mit speziellen Menschen und so …“, Flo zwinkert ihr zu.

„Wie sieht es hinter den Ausgängen aus?“, möchte Shanti wissen. „Können wir den Ausgang zur Depression nehmen?“
Eine dunkle Wolke schiebt sich kurz über Flos sonniges Gemüt. „Nein, besser nicht. Dahinter ist ein dunkles Labyrinth, aus dem manche nicht mehr herausfinden. Deswegen gilt es zu vermeiden, da jemals jemanden hineinzulassen.“
Shanti nickt. Es gab eine düstere Episode vor nicht zu langer Zeit, aus der sie tatsächlich nur schwer wieder heraus gefunden hat.

 

„Wir müssen los.“ Flo zieht Shanti wieder in die U-Bahn. Als sie sitzen, holt Shanti ihr Telefon aus der Tasche und stellt verblüfft fest, dass kaum Zeit vergangen ist.

Als sie aufblickt, ist nichts mehr zu sehen von Flo oder anderen Arbeitern in bunten Anzügen. Nur mürrisch dreinblickende Menschen, versunken in ihre Handys auf dem Weg zur Arbeit. Der Zug hält, Shanti springt raus und verlässt die Station. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, der Frühling naht. Sie geht geradewegs zum botanischen Garten. Die Arbeit im Büro wird schon nicht davon laufen. Beim Kiosk kauft sie sich einen grünen Smoothie, statt des sonst üblichen Kaffees, und zeigt in Gedanken den Neongrünen Rabauken in ihrem Magen den Mittelfinger.

 

V2