Von Kai Braddick

Die Flammen des Kamins ließen trübe, bedrohliche Schatten über den Boden tanzen. Im wilden Reigen vollführten sie Pirouetten, krochen flackernd an Wänden empor und huschten bis zur Decke. Ihr spärliches Licht vermischte sich mit dem der rußigen Flammen der Kerzen, die in schweren Kandelabern aus Silber auf einer breiten Tafel standen. Der Ruß zog über den Tisch. Der Wachsgeruch vereinte sich mit den Aromen der heißen Gemüsesuppe.

Zwei wache, entsetzte Augen fixierten die Flüssigkeit aus Möhren, Kartoffeln und Brühe, in der einige Hühnerbeine schwammen. Doch die Augen starrten nicht wegen der Hühnerbeine, obwohl die eklig anzusehen waren. Die Augen konzentrierten sich auf etwas, das zwischen dem Gemüse und den Fettaugen schwamm.

Ein Haar. 

Nicht nur irgendein Haar. Das letzte Haar.

Von Altersflecken übersäte Hände strichen behutsam über eine kahle Kopfhaut, als könne sie jeden Moment in tausend Teile zerspringen, wie Glas, das auf den Boden fiel.

Trockene, spröde Lippen, die von einem dichten, grauen Bart eingerahmt wurden, zitterten, formten Worte und brachten nur ein heiseres Krächzen hervor. Die Hand, griff zum Weinglas und spülte das trockene Gefühl aus der Kehle.

„Fidelius!“

Der König schrie selten, denn der König war selten entsetzt, doch dies hier war ein Moment zum Schreien.

„Fidelius!“, wiederholte die, trotz des hohen Alters, kräftige Stimme des Herrschers der drei Lande.

Von irgendwo kamen Schritte und man konnte ihnen ihre Eile anhören.

Ruckartig schwang die große Tür des Thronsaals auf und in ihrem Rahmen stand ein kleiner, gedrungener Mann, ganz in weinrotem Samt gekleidet. Er trug eine Jacke mit versilberten Knöpfen und sein Hemd hatte einen so hohen Stehkragen, das man seinen Hals nur erahnen konnte. Die weichen Lederstiefel, in denen eine leichte Stoffhose steckte, verursachten kaum Geräusche auf dem grauen Steinboden. Seine blonden Strähnen klebten an seiner Stirn und die dicke, wilde Mähne hing ihm bis zu den Schultern. Blaugraue Augen lagen unter einem hohen Haaransatz. Ein schmaler Mund verzog sich zu einem unsicheren Lächeln, als der Mann vor dem König auf die Knie fiel und versuchte, den Siegelring des Königs zu küssen, den der Herrscher an der rechten Hand trug.

„Eure Majestät.“

„Fidelius!“, sprach der König, während er versuchte, seinen Hofmarschall abzuschütteln. „Da bist du ja endlich.“

„Eure Majestät hat gerufen und ich bin geeilt.“

„Ja, ja. Genug der Demut“, fuhr ihm der König ins Wort.

„Sieh her!“ Die rechte Hand des Königs fuhr hektisch über die Suppe.

„Eine Suppe, mein Herr“, bemerkte Fidelius, der nicht so recht verstand, was der König von ihm wollte.

„Ist sie nicht nach eurem Geschmack? Soll ich den Koch foltern lassen?“, fragte er nicht ganz ohne Hoffnung. So eine Folter war immer etwas Besonderes, auch weil sie über einen der fähigsten Folterknechte diesseits des Flüsternden Flusses verfügten.

„Sieh genau hin!“

Wütend riss der König an Fidelius Schopf, sodass dieser fast mit der Nasenspitze in der heißen Flüssigkeit steckte.

Da bemerkte der Hofmarschall etwas, dass ihn erstarren ließ. Irgendwo zwischen Möhren, Sellerie und Zwiebeln schwamm ein einzelnes, graues Haar.

„Oh!“, war das Einzige, was er aus seiner trockenen Kehle drücken konnte.

„Oh? Mehr hast du dazu nicht zusagen?“

Das Gesicht des Königs nahm eine äußerst ungesunde Farbe an. Er kochte buchstäblich und wirkte heißer als die Suppe, die er beabsichtigt hatte zu essen.

„Ihr seht mich verzweifelt und erstaunt“, versuchte sich der Hofmarschall herauszureden, dem ganz und gar bewusst war, was dieses Haar in des Königs Suppe zu bedeuten hatte.

„Seid ihr sicher, dass es das Letzte war?“, fragte er wenig hoffnungsvoll, während seine Augen verzweifelt die kahle Kopfhaut des Herrschers absuchten, doch nicht mal eine Fluse befand sich dort.

Das war das Ende!

Der König stand schwankend auf und fiel auf seinen Thron. Matt, erschlagen, überwältigt von der Erkenntnis, dass seine Regentschaft beendet war. Seine Stimme brach.

„Ihr wisst, was das bedeutet, Hofmarschall! Ihr kennt die Gesetze.“

„Vielleicht hilft ein Hut?“, versuchte Fidelius die Situation zu retten.

„Mach dich nicht lächerlich. Die einzige Kopfbedeckung, die ich je trug, war die Krone, doch das ist nun vorbei.“

Hilflos blickte Fidelius auf den alten Regenten herab, der jammernd und wimmernd im Thron lag. Hier bot sich wahrlich ein Bild des Elends.

„Mein Sohn wird König!“, diese Erkenntnis traf den Herrscher wie ein Blitz.

„Dieser nichtsnutzige Säufer und Raufbold. In weniger als drei Wochen wird er das Königreich verspielt haben.“

Fidelius überlegte einen Moment, dann hob er den Finger und deutete auf das kahle Haupt des Königs.

„Das Gesetz will, dass ihr abdankt, sobald euer Haar gänzlich verschwunden ist.“

„Ja, ja ich kenne die Bedingungen nur zu gut.“

„Vielleicht gibt es eine Lösung, die das verhindert.“ Mit einem Satz, den Fidelius dem alten König nicht zugetraut hätte, stand dieser auf den Beinen. Er ergriff den Hofmarschall und schüttelte ihn.

„Los sprich, sprich schon!“

„Wir könnten die alte Minerva um Rat fragen“, antwortete Fidelius, der sichtlich nach Luft und Fassung rang.

 

Bunter Qualm stieg aus dem brodelnden und blubbernden Kessel auf.

„Und du bist dir sicher, dass er keinen Verdacht geschöpft hat?“

Die Stimme der alten Frau klang hoch und verzerrt.

Fidelius hasste es, wenn sie so sprach und Minerva wusste, dass er es hasste.

Minerva, Hexe in dritter Generation, schlurfte zu einem kleinen Regal, holte ein paar Flaschen hervor und goss deren Inhalt in den großen, runden Kessel. Gelbe, grüne und rote Flüssigkeit spritzte über den hohen, gusseisernen Rand.

„Und der junge Bursche, der Thronerbe?“

„Um den müssen wir uns keine Sorgen machen“, beruhigte Fidelius Minerva.

„Ein paar Flaschen Wein, ein zwei Nächte im Hurenhaus und tagelanges, aus der Staatskasse finanziertes Glücksspiel werden ihn den Thron schon vergessen lassen. Und wenn nicht, werden wir ihm die Sache“, Fidelius deutete auf das kleine Fläschchen, das Minerva jetzt in der Hand hielt, „in die Schuhe schieben.“

Grünlich schimmerte die Flüssigkeit, während Minerva sie vorsichtig schüttelte.

„Gib dem König das und wir werden beide glücklich sein.“

Sie grinste ein breites, zahnloses Grinsen und Fidelius begleitete es mit einem dumpfen Kichern.

 

Der König betrachtete die Flasche, in der eine seltsame Flüssigkeit schwamm.

„Und das soll helfen, meine Haarpracht zurückzugewinnen?“

Skeptisch wog er das Glas hin und her und beobachtete, wie das Gemisch mal grün, mal rot leuchtete.

„Ihr müsst es in einem Zug trinken und es wird sofort wirken“, versprach Fidelius, wobei er arg darauf achten musste, nicht zu grinsen. Der König würde sein blaues Wunder erleben oder besser gesagt sein grünes.

Der König zögerte nur kurz, brach dann den Korken und kippte den Inhalt der Flasche schnell herunter. Süßlich und würzig zugleich, verbreitete sich der Geschmack in seinem Mund. Es kribbelte leicht in seinem Rachen. Fast gleichzeitig begann seine Kopfhaut zu jucken.

Gebannt starrte Fidelius auf den König. Würde es wirken? Und was genau würde geschehen?

Und dann, begleitet von einem Geräusch, als würde man eine Flasche Wein entkorken, sprossen die ersten Haare.

Ungläubig starrte Fidelius auf das Haupt des Königs.

„Hat es funktioniert?“, fragte dieser aufgeregt.

„Ja, ja. Irgendwie schon.“

Fidelius musste sich ein Lachen verkneifen.

Der König fühlte seine Haare, die immer noch wuchsen.

„Ich brauche einen Spiegel“, murmelte er, doch Fidelius hatte aus unverständlichen Gründen laut zu lachen begonnen.

„Kammerdiener!“, brüllte der König.

Die Tür ging auf und ein Livrierter trat ein. Der Diener erstarrte vor Schreck. Wie angewurzelt stand er im Eingang und fing plötzlich ebenfalls an zu lachen, im vollen Bewusstsein, was für einen Affront er gegenüber seinem König begann.

Der König aber stürmte an Fidelius und dem Diener vorbei, in den Flur, denn dort hing ein großer Spiegel. Als der König sich sah, traf ihn der Schlag. Seine Haare erschienen in voller Pracht. Dicke Locken wallten über seine Schulter. Doch das war nicht das Problem. Die Haare des Königs erstrahlten in dem grünsten Grün, das man sich nur vorstellen konnte.

Der König wollte etwas sagen, doch versagte seine Stimme. Nur ein Röcheln drang aus seinem Hals.

Fidelius kam lachend um die Ecke und bedachte den König mit einem diabolischen Blick.

„Nun, Exzellenz. Seid ihr zufrieden mit eurem neuen Haar?“

„Was, was habt ihr getan?“, stammelte der Herrscher, der jetzt alles andere als herrschaftlich aussah.

„Oh, ich habe nur die Thronfolge geregelt.“

„Was?“

Der König fasste sich an die Brust. Er spürte einen unwahrscheinlichen Druck auf seiner Brust. Japsend und keuchend, wollte er sich auf seinen Hofmarschall stürzen, doch der trat nur beiseite und der König stolperte ins Leere.

Fidelius beugte sich über den König.

„Das Blut des versurischen Pfeilfrosches hat wundervolle Eigenschaften.“

Der Hofmarschall grinste den König böse an.

„Es lässt deine Haare wachsen. Das Dumme ist nur, in der richtigen Mischung ist es überaus tödlich.“

„Damit kommst du nicht durch.“ Verzweifelt und im Todeskampf brach die Stimme des Königs.

„Oh doch“, triumphierte Fidelius.

„Euer Leibarzt wird feststellen, dass euer Herz versagt hat. Und was eure Haare betrifft. Die fallen gleich wieder aus. Niemand wird etwas merken.“

„Der Prinz“, flüsterte der König, während das Leben langsam aus ihm entwich.

„Oh, um den macht euch mal keine Sorgen. Er wird in tiefer Trauer über euren Tod in einem Wirtshaus enden, in dem er sich leider zu Tode saufen wird.“

Fidelius beobachtet, wie die Verzweiflung über des Königs Antlitz kroch, während der letzte Lebenshauch ihn verließ.

Der Hofmarschall beugte sich zum König herunter und fühlte seinen Puls.

Tot.

Das Gesetz sah nicht nur vor, dass ein König abdanken musste, wenn ihm das Haupthaar fehlte. Gab es keinen legitimen Nachfolger, wurden die Staatsgeschäfte an den Hofmarschall übertragen.

Der Hofmarschall erhob sich grinsend und betrat den Thronsaal. Langsam schlenderte er zum Thron und setzte sich.

 

Ende

V2