Von Michael Kothe
Kosten Sie!
»Ich rufe ihn jetzt.« Seine Stimme ist fest, der Ärger nicht zu überhören.
»Bitte, Schatz, nein! Es soll doch ein romantischer Abend werden.« Sie greift über den Tisch, legt beschwichtigend ihre linke Hand auf seine rechte.
Er zieht sie darunter hervor. »Es wird ein romantischer Abend, wenn ich bekomme, was mir zusteht.«
»Mach doch deswegen nicht so ein Aufhebens! Du kannst meinen haben, ich bin gleich fertig. Wir teilen doch alles miteinander!«
»Es geht hier ums Prinzip! Jemand muss dem Personal Bescheid stoßen. Schließlich leben sie von uns. Und in einem solch teuren Restaurant …«
Ihr Blick streift, durch seinen Kommentar inspiriert, von den schweren Vorhängen neben den ewig hohen Fensternischen zu den runden, opalisierenden Deckenlampen und von dort herab zu der antiken Anrichte, auf der edles Porzellan und silbernes Besteck auf ihre Verwendung warten. Dezent mischt sich klassische Musik mit leise geführten Gesprächen, irgendwo schlägt sachte ein Besteckteil an zartes Bleikristall. Gerüche von erlesenen Gerichten schweben hauchzart durch den Saal.
Sein Rufen reißt sie aus ihrer Betrachtung.
»Herr Ober!«
Der dienstbeflissene Geist eilt herbei, nimmt an Tisch 14 Aufstellung und macht einen Bückling, den linken Arm mit dem Damasttuch vor den Bauch gepresst, den rechten hinter dem Rücken verborgen.
»Herr Ober, bitte kosten Sie meine Suppe!«
Der Ober lächelt säuerlich, unterstreicht damit seine berufsmäßig zur Schau getragene Zerknirschtheit in Erwartung einer Reklamation, die ihm sicherlich gleich vorgetragen wird.
»Oh, ist vielleicht ein Haar …«
»Bitte probieren Sie einfach!«
»Oder hat der Koch zu viel Salz …«
»Bitte probieren Sie!«
»Ist sie Ihnen vielleicht nicht heiß genug?«
In dem Maße, wie die Aufforderungen an Länge verlieren, nimmt ihre Heftigkeit zu. »Kosten Sie!«
»Aber bei Ihrem Gedeck fehlt der Löffel.«
Zufrieden lehnt sich der Gast zurück, nickt dem Livrierten gönnerhaft zu. Seine Stimme wird wieder zahm. »Hätten Sie gleich getan, worum ich Sie bat, wäre Ihnen das sofort aufgefallen!«
Der Ober macht einen Diener und einen Schritt zurück, bevor er sich umdreht und auf die Anrichte zusteuert.
Triumphierend blickt der Gast zu seiner Frau. »Siehst du, so macht man das und nicht anders.«
Sie schaut auf den Ober, der gerade wieder an den Tisch tritt und vom Teller in seiner Linken einen Suppenlöffel ergreift und ihn mit einem gehauchten »Verzeihung, es wird nicht nochmals vorkommen« neben dem Teller ihres Gatten ausrichtet. Der Gatte nickt dem Ober zu, der sich auf den Weg zurück zur Anrichte macht, um von dort sein Revier zu überwachen und bei Bedarf dahin zu eilen, wo seine Dienste benötigt werden.
Mit Genuss versenkt der Gast den Löffel im Teller und hebt ihn gefüllt wieder heraus. Befriedigt schaut er auf die Brühe mit den Fadennudeln, bläst zweimal auf den Löffel und schiebt ihn in den Mund.
Der Ober kommt drei Tische weit.
»Kellner!«
Der Gast ruft ihn zurück. Der Ober schickt ein Stoßgebet zum Himmel und seinen Blick hinterher. Weiße Wolken schweben auf dem kräftigen Hellblau der Deckenmalerei, die sich mehrere Szenen von Schäferstündchen miteinander teilen. Eine Deckenleuchte flackert leicht und haucht dem Bild über Tisch 14 Leben ein. Zwei liegende Schönheiten, die Rubens´ Pinsel geboren haben mochte, schauen mit schmachtenden Blicken auf einen Satyr, warten darauf, dass er seine Flöte beiseitelegt und sie sich ihm hingeben dürfen.
»Mein Herr?«
»Sie haben vorhin so lange rumgeredet, dass meine Suppe nun kalt ist.«
Mit einem »Natürlich, ich werde Ihnen sofort …« nimmt der Ober den Teller fort und eilt mit federnden Schritten auf eine Türe zu, hinter der sich wohl die Küche befindet.
Die Frau des Gastes seufzt und blickt in stummer Verzweiflung zur Decke. Die beiden Frauen dort oben warten noch immer geduldig auf das Ende des Liedes.
Diesmal ist es der Ober, der ihre Gedanken an den Tisch zurückholt, indem er vor ihren Gatten einen Teller mit dampfender Suppe stellt. Er wartet, bis der Gast probiert hat und ihm mit einem triumphierenden Lächeln zunickt. Dann dreht er sich um und eilt seinem Ausguck zu, nicht ohne vorher noch einmal die Szene über sich zu betrachten. Die Rubensweiber sind ungeduldig. Haben sie sich aufgerichtet, um die Aufmerksamkeit des Fauns zu erregen? Er schüttelt den Kopf.
Der Gast hat scharf beobachtet, die Bewegung ist ihm nicht entgangen. Wieso schaut heute scheinbar jeder nach oben? Welcher Geist ist dort, der ihnen ihre Geduld, ihre Selbstbeherrschung und Zuversicht beschert? Dort ist nichts! Doch, zwei Nackte lauschen dem Flötenspiel eines behaarten Bocksfüßigen mit Hörnern. Er zuckt mit den Schultern. Da ist ihm seine Suppe wichtiger. Er taucht wieder den Löffel ein und schenkt seiner Frau ein Siegerlächeln.
Angewidert erstarrt sie, würgt und schaut, um sich abzulenken, kurz auf zu dem Bild, auf dem sich Rubens´ Dicke resigniert zurückgelehnt haben. Das hat er nun von seiner Überheblichkeit! Das Universum vergisst eben nichts. Im Innern lacht sie vor Schadenfreude, sie muss aber der sich anbahnenden Gefahr zuvorkommen und ergreift sein Handgelenk.
»Sag bloß keinen Ton!« In ihrer Stimme schwingt aufkommende Panik mit. »Ein einziges Wort von dir, und ich gehe! Ich will mich nicht nochmals dieser Peinlichkeit aussetzen. Die anderen Gäste tuscheln auch so schon über uns.«
Überrascht schaut er sich um. Täuscht sein Eindruck oder haben an den Nachbartischen die Leute tatsächlich die Köpfe zusammengesteckt und unterhalten sich im Flüsterton über ihn und seine Frau? Zwei Tische weiter drehen die Gäste ruckartig ihre Gesichter von ihm weg und konzentrieren sich auf ihre Teller. Er hat sie ertappt. Na und? Missmutig blickt er seiner Frau in die Augen.
Sie hält ihn weiterhin fest. So kann er nicht essen. Ihr Blick zwingt den seinen auf das Besteck. Nun bemerkt auch er, was sie gleich gesehen hatte: das dicke schwarze Haar, das lang von beiden Seiten des Löffels herunterhängt.
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