Von Lauretta Hickman

 

Ein Wagnis. Arbeit und privat soll man ja trennen.

Tara nippte am noch zu heißen Kaffee. Im Hinterhof ihrer Hamburger Altbauwohnung badete die Morgensonne das erste Frühlingsgrün. Unter der Alufolie brannte sich die Tönung sanft in ihre Kopfhaut: Teil der Einstimmung, die an diesen speziellen Tagen morgens begann. Heute mit Störgefühl.

Warum muss Doro auch krank werden. Nun habe ich ein herrinnenloses Ticket.
Sie lächelte über ihr Wortspiel.

Weitere Schlucke Kaffee. Sie dachte an Annis Anfang. Als eine der „JuniorAdmins“ letztes Jahr unter der eisenhart gewordenen Chefassistentin, der einzigen, die es seit mehr als vier Jahren unter Rogorchin aushielt.

Bis auf mich. Als Front Desk Senior bin ich weit genug weg, sollte man meinen. Aber nein. Wenn er mich nicht einmal täglich rundmacht mit seinem detailverliebten Perfektionismus, stimmt sein Tag nicht. Was ich auch „proaktiv“, mag das Wort nicht mehr, gestalte – es ist „immer noch nicht gut genug“.
Tara unterbrach sich.
Nicht in Rage denken. Die Bezahlung ist exzellent. Nach vier Jahren. Er weiß es selbst.

Anni war näher, somit schlimmer dran. Sie gaben sich öfter Überlebenstips. Und lachten über den Nobelterror bei Rogorchin, Paul & Partner.

Sie hat mich auch nie verurteilt, wenn ich ihr häppchenweise erzählt habe. Schien eher neugierig zu sein.

Sonst fiel ihr niemand ein. Wer davon wusste, war desinteressiert. Oder irritiert.
Tara nahm ihr Telefon.

„Schönen Samstagmorgen, liebe Anni! Sag – warst du nicht immer neugierig auf meine – speziellen Vergnügungen? Ich habe ein zweites Ticket für die CFNM in den Hadeshallen heute Abend. Lust?“

Kurzes Zögern. Senden.
Tara trank ihren Kaffee aus und stand auf. Das vertraute Bitzeln im Solarplexus setzte ein.

 

Als Anni rotwangig und aufgekratzt mit Koffer zur Türe hereinkam, hatte Tara ihr Outfit bereits gewählt. Dieses Mal war ihr nicht nach Rüschen und Knopfstiefeletten.

Anni sagte: “Wow, Tara! Ich glaube, wenn ich dich so träfe – ich würde dich nicht erkennen.“

Tara lächelte. Sie umarmten sich zur Begrüßung. Es war 15:30 Uhr. Genug Zeit.

„Ich bin so aufgeregt. Ich will mich nicht blamieren, du musst mich unbedingt briefen!“, sagte Anni lachend.

„Kein Problem.“ Tara nickte, sich unversehens wie ein Profi fühlend. „Zuerst werden wir dich richtig schön herrichten. Ladylike, ja?“ Tara grinste. „Dann lass mal sehen, was du mitgebracht hast.“

 

Im Taxi nahmen sie den Rest vom Sekt. Sie fühlten sich ausgesprochen wohl: mit sich selbst, miteinander. Tara honigblond, Alabasterhaut, hohe Wangenknochen, blutrote Lippen, Leder, Thigh-High-Heels. Anni schwarzhaarig, romantisch, edel, subtil-feminines Makeup in Rosatönen. Sie stahlen sich nicht die Show, sie verstärkten einander. Perfekt.

„Ich bin lose mit Hermann verabredet, das ist aber nicht bindend. Auf jeden Fall gehen wir zuerst auf die Empore und sehen uns die Pracht von oben an. Ich verspreche dir – diesen Anblick wirst du so schnell nicht vergessen.“

 

Das Taxi rollte auf dem hinteren Teil des riesigen Industriegelände aus, wo sich die Hadeshallen befanden. Klinkergebäude, spätes 19. Jahrhundert, einstige Eisengießerei. Nun Location für Großevents. Eine kleine Schlange von Menschen stand bereits vor dem Eingang.

Beschwipst wiesen sie ihre Tickets vor. Hübsche lackbekleidete Lakaien ließen sie ein. Lichteffekte schufen ein historisches Flair aus Kirche, Schloss und Kerker. Dumpfe Drone-Ambient-Beats erregten eine erwartungsgeladene Herzklopfspannung. Es roch nach Räucherwerk. An der Garderobe hinterließen sie die Mäntel, ihre Spielzeugtasche behielt Tara. Mit dem angereichten Sekt stiegen sie Hand in Hand die helle geschwungene Steintreppe nach oben.

Auf der rund um den Saal laufenden Empore standen, saßen, lachten und redeten eine Menge Ladies. Alle Stile waren vertreten: elegant, bizarr, hardcore, altertümlich. Zwischen den Säulen gab die Galerie den Blick auf die 2000 m² große Halle unter ihnen frei. Fackeln an den Wänden, Trockeneis und die auch hier geschickte Beleuchtung gaben den bisher etwa dreihundert nackten Männerkörpern aller Altersstufen und Fitnessgrade eine filmreife Kulisse.

„Wie im alten Rom. Wenn man runter auf die Sklaven geschaut hat“, sagte Anni mit großen Augen, unter ihrem Make-up sichtlich rotwangig.

„Das ist die Idee“, sagte Tara. „Wir die Herrinnen, sie die Sklaven. Nochmal zur Erinnerung: Das Ganze ist consensual. Heißt: alle machen das freiwillig und gerne.“

„Und was passiert jetzt?“

„Das liegt bei dir. Du kannst den Abend hier oben verbringen. Du kannst durch die Räume streifen und Paaren oder Gruppen beim Spielen zusehen. Es gibt viele Spielräume. Mittelalterliche Kerker mit Käfigen und Folterinstrumenten. Andreaskreuze. Boudoirs. Klinikräume. Für jede Neigung etwas. Du kannst dir natürlich auch jemanden zum Spielen suchen. Wenn ich das richtig sehe, sind heute diejenigen mit rosa Armbändchen vergeben. Das bedeutet, sie haben eine Herrin und spielen nur exklusiv.“

„Und die Männer da unten sind wirklich alle devot?“

„Ja! Ist das nicht erstaunlich? Das war eines meiner größten Aha-Erlebnisse – wie viele submissive Männer es gibt. Viel mehr, als man glauben möchte. Gut, manche davon sind auch masochistisch. Mit denen hab ich nicht so gerne zu tun. Die dürften heute allerdings eher in der Minderzahl sein. Das ist eine reine Femdom-Veranstaltung. Keine gemischte.“

„Ist das nicht das Gleiche? Sado, Dom? Sub, Maso?“

„Nein“, sagte Tara. „Masos wollen ihren Schmerzkick befriedigt haben. Zu ihnen passt am besten eine Sadistin. Devote Männer oder Subs wollen dienen, verehren, sich hingeben, Verantwortung abgeben. Eine reine Sadistin würde einen Sub kaputtmachen. Übrigens sind unter den Subs viele, die im realen Leben Manager- und sonstige Toppositionen bekleiden. Und hier entweder ihre andere Seite oder ihre eigentliche Natur ausleben.“ Tara lächelte. „Wenn ich mich hier austobe, denke ich manchmal: wer weiß, vielleicht habe ich hier gerade einen Rogorchin vor mir. Das gibt mir den Extrakick.“

Anni hatte offensichtlich zu tun, die Information, die Eindrücke und den Sekt zu verarbeiten.

„Vorschlag: ich geb dir jetzt aus meinem Spielzeugsack Leine, Gerte und Handschellen. Wir gehen nach unten. Ich würde sagen, wir treffen uns wieder in zwei Stunden an der Bar in der Halle. Den Barkeeper kenn ich gut. Peter, eigentlich ein Dom, reißt sich immer um den Bardienst bei Femdom-Events. Vielleicht, weil es bei uns viel fröhlicher, lockerer und verspielter zugeht als bei den Maledoms. Die sind oft so bierernst gravitätisch. Du kannst ihm gerne sagen, dass du meine Freundin bist. Und wenn dir einer der freien Subs gefällt, leinst du ihn einfach an. Sie tragen, wie du siehst, alle ein Halsband. Aber sieh erstmal etwas zu. Ok?“

Unten angelangt, machten sie einen kurzen Streifzug durch die Räume. Es herrschte bereits emsiger Spielbetrieb. Eine Gruppe von Ladies „verwöhnte“ einen Sub mit Wachs. An einem Andreaskreuz stand ein Bodybuilder in Römerstiefeln und wurde von seiner Herrin gepeitscht. Ein echter Krieger: Stoische Miene, kein Schmerzenslaut.
Die Käfige im Kerker waren alle besetzt.

Wieder in der Halle, zeigte Tara Anni noch Peter und die Bar.
„Bis später, viel Spaß!“, sagte Tara lächelnd.

 

Hermann hatte sie nicht getroffen. Dafür einen wunderhübschen aufgeregten Kerl namens Tim. Sie fand einen freien Galgen für ihn. Und begann, langsam und genüsslich, ihr Spiel mit ihm. Kratzen, zwicken und vor allem: beißen. War der Sub appetitlich, mochte sie das am meisten. Und das war er. Sie streichelte ihn mit der Whip. Erfreute sich an seiner Gänsehaut. Mokierte sich über seine Erektion, bestrafte ihn zum Schein dafür. Was es nur „schlimmer“ machte. Sie glitten in ihren ganz eigenen geschmeidigen Tanz aus Zart und Hart. Genossen ihn mit allen Sinnen. So wie die Zuseher ihr Spiel.

Bis Peter sie unterbrach.

„Ehm – deine Freundin Anni…“

Tara, unversehens aus dem Flow gerissen, sagte: „Ja?“

„Sie blamiert sich gerade ziemlich. Schreit herum, fuchtelt mit der Peitsche. Der arme Sub weiß nicht, was er tun soll. Die Leute lachen bereits.“

Shit, dachte Tara.
„Ok, ich kümmer mich. Wo sind sie?“

Sie leinte Tim ab und ging mit ihm zum „Stall“. Eine schrille Annistimme war schon von weitem zu hören. Sie zu sehen, war unangenehm. Je mehr die Leute lachten, desto mehr geriet die völlig derangierte Anni außer sich. Unsouverän. Kapitalfehler einer Dom.

Entschlossen trat Tara zu ihr. Nahm ihr die unbekannte Peitsche aus der Hand und leinte den Sub an. Zu viert verließen sie rasch den Ort des Elends.

Später, bereits tief in die rote Plüschsofaecke versunken, begann Anni plötzlich zu zittern. War den Tränen nahe. Tara trug den Subs auf, Tapas, Wasser und Kaffee zu holen und ihnen diese auf allen Vieren, jeweils ein Tablett auf dem Rücken balancierend, zu servieren. Dann nahm sie Anni in den Arm.

„Contenance, meine Liebe. Atmen, lächeln. Wir reden morgen, ok? Nun komm runter. Entspann dich. Alles gut.“

 

In der bisweilen typischen Endphase aus Bällebad, Zirkus und Irrenhaus ging Tara zu den Toiletten.
Da stand Lady Kali Noir! Berühmte Dom mit eigenem Studio. Widmete sich aber nur noch äußerst ausgewählter Klientel. Und ihrem persönlichen Sklaven natürlich. Ex-Pilot, der ihr sein Vermögen übertragen hatte. Zu Recht, fand Tara. Unglaubliche Erscheinung.
Tara stand hinter ihr, sah sich und sie im Spiegel, als die Lady gerade zu einer Kollegin sagte: „Am meisten habe ich ja diese Hobbydomsen gefressen. Tagsüber als Tippse unter dem sadistischen Chef leiden. Und dann hier die Subs als Blitzableiter missbrauchen.“

Tara erstarrte. Ihr jäh eisentflammter Solarplexus ließ sie auf dem Absatz umdrehen.
Zurück beim Sofa, sagte sie: „Ich gehe. Kommst du mit?“

Anni, wieder recht aufgeräumt wirkend und hinreißend aussehend, sagte rotwangig:
„Ich würd gern noch bleiben. Ist das ok?“

Beide Subs knieten vor ihr wie aufmerksame Hündchen.

Tara nickte. Beherrscht ging sie zur Garderobe. Orderte ein Taxi.

Eine Hochstaplerin im Karnevalskostüm. Das bin ich. Ein Fake.

Breiige Müdigkeit, mit nadelfeinem Schmerz versetzt, ließ sie ins Taxi fallen.

Nachdenken.
Morgen.

 

 

 

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CFNM=Clothed female, naked male
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V3 9996Z