Von Florian Ehrhardt

„Um 00:07 Uhr bricht der letzte Bus von der St. James Street in Bridgetown in die umliegenden Dörfer auf. Das ist praktisch, erlaubt es doch den Gelegenheitstrinkern, Partymenschen und Säufern, zur Sperrstunde um Mitternacht aus den Pubs zu torkeln, um den unendlich erscheinenden Weg vom Tresen zur Bushaltestelle zu bezwingen. Viele scheitern an diesen 50 Metern, doch im Mutterland des Fußballs ist Rücksicht fast genauso wichtig wie die Queen. Deshalb hilft man sich gegenseitig, doch ich muss zugeben, dass ich einer derjenigen bin, denen geholfen werden muss. Aber wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Oder?“

Der Busfahrer deutet nur auf das Schild über seinem Kopf: Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen.

Doch so leicht lasse ich mich nicht entmutigen. „Oder?!“

„Ey, Mann, kannst du nicht lesen? Ich bin der Busfahrer, mit mir wird nicht gesprochen!“

Auf seinem Namensschild steht zwar Mickey und nicht Busfahrer, aber das lasse ich durchgehen. „Weil Sie sich sonst nicht auf die Straße konzentrieren und uns alle in den Tod fahren?“

„Nein, weil du nervst! Damit mein Bus um 0:07 an deiner dämlichen St. James Street sein kann, muss ich um 22:30 in Havenport losfahren. Und weißt du was?“

„Was?“

„Damit ich um 22:30 dort losfahren kann, muss ich um 19:15 in Rottingswell losfahren und…“

„Warte, ich will doch nach Rottingswell!“

„Mein Bus fährt zwischen Rottingswell und Havenport hin und her, geht das nicht in deinen betrunkenen Schädel rein? Setz dich nach hinten zu den anderen Alkis!“

Widerwillig gebe ich meinen Platz in der ersten Reihe auf. Nach hinten will ich trotzdem nicht. Die Gruppe italienischer Austauschschüler sieht nämlich gefährlich aus. Und der Typ ein paar Reihen weiter vorne macht den Eindruck, als ob er gleich über mehrere Reihen durch den Bus kotzen wird. Also werde ich nochmal abenteuerlustig und beschließe, die Treppe hochzuschwanken. Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Bus Nummer 12 von Bridgetown nach Rottingswell ist ein echter Doppelstockbus. „Very Britishhhhh!“ Habe ich das etwa laut gesagt?

„Schnauze!“, ruft Mickey von vorne.

Offensichtlich ja. Egal. Ich habe das Unmögliche geschafft und bin oben angekommen. Ich lasse meinen Blick durch die leeren Reihen schweifen und setze mich wieder da hin, von wo ich vertrieben wurde. Ganz vorne. Nur jetzt ein Stockwerk höher. Ich blicke durch die riesige Scheibe vor mir auf die Sterne. Wie schön die doch heute leuchten! So rot! Moment. Das sind keine Sterne. Das sind Warnblinklichter eines Baustellenkrans. Vielleicht ist mein Zustand doch schlechter als gedacht. Ich beschließe, dass ein bisschen Schlaf nicht schlecht wäre, immerhin ist es noch eine Dreiviertelstunde bis Rottingswell. Ich lasse mich vom Rumpeln der Schlaglöcher in den Schlaf wiegen.

 

„Ist hier noch frei?“

Ich schrecke hoch. „Wie? Wo? Was?“

„Na, ob hier vorne noch ein Platz frei ist. Oder störe ich Sie beim Schlafen?“

Ich blicke einer jungen Blondine ins Gesicht. „Sind wir schon in Rottingswell?“

„Nein, noch lange nicht. Gerade eben waren wir in Racing Mills. Ich bin dort eingestiegen. Bis Rottingswell brauchen wir noch mindestens eine halbe Stunde.“

„Dann hätten Sie mich schlafen lassen können.“

„Woher sollte ich denn wissen, dass Sie auch nach Rottingswell müssen?“ Die Blondine lächelt mich verschmitzt an. „Also, ist der Platz frei oder nicht?“

„Klar!“

Die Blondine setzt sich auf die andere Seite des Gangs und starrt in die Nacht. „Mein Name ist übrigens Anna.“

„Freut mich, Anna.“ Ich drehe mich wieder um.

Aber so leicht gibt Anna nicht auf. „Und wie heißen Sie?“

„Joachim. Aber wenn Sie mich schlafen lassen, können Sie auch Joe…“

„Joachim? Das ist kein besonders englischer Name. Kommen Sie nicht aus Rottingswell?“

Ich gebe den Versuch zu schlafen auf. „Na ja, momentan lebe ich dort, aber ich bin Deutscher.“

„Oh, dafür ist Ihr Englisch aber verdammt gut!“ Sie zwinkert mir zu. „Haben Sie Mein Kampf gelesen? Wir haben das in der Schule…“

„Was? Nein! Wir haben dieses Kapitel abgeschlossen! Das Buch ist verboten.“

„Tut mir leid, falls ich Ihnen zu nahegetreten bin.“

„Schon gut.“

„Also, was hat Sie nach Rottingswell verschlagen?“

„Naja, eigentlich sollte ich nur für eine vierwöchige Fortbildung in der Zentrale meiner Firma nach Bridgetown kommen. Das war Ende Februar, aber wegen diesem dämlichen Virus komme ich jetzt nicht mehr zurück. Die Flüge sind immer noch ausgesetzt. Anscheinend ist meine Ausreise erst möglich, wenn es einen Impfstoff gibt.“

„Das muss ja schrecklich sein!“

„Naja,“ – ich bringe ein Lächeln zustande – „wenigstens haben die Pubs geöffnet. Gefeuert werde ich auch nicht, aber mir wurde ein Laptop geschickt, mit dem ich hier arbeiten soll.“

Das ruft bei Anna ein Lachen hervor. „Richtig. Bier und Arbeit, das ist alles, woran ihr Deutschen denken könnt!“

„Du hast Mein Kampf vergessen!“

Der unangebrachte Hitler-Witz sorgt dafür, dass Anna in schallendes Gelächter ausbricht. „Ach, es ist schön, mit jemandem gemeinsam lachen zu können!“

Jetzt ist mein Gehirn voll im Flirtmodus: „Du hast ja auch das schönste Lachen, das man sich nur vorstellen könnte!“

„Findest du?“

„Aber sicher!“ Ich beschließe, aufs Ganze zu gehen. „Hast du am Samstag schon was vor?“

„Verdammte Scheiße, nicht auch das noch!“, flucht es von unten.

Anstatt meine Frage zu beantworten, sieht Anna mich ängstlich an: „Was war denn das?“

„Ach, das ist nur Mickey, unser Busfahrer, der…“

Weiter komme ich nicht, denn plötzlich ist es stockfinster. Alle Lichter sind ausgegangen, die Straße vor uns liegt in Dunkelheit.

Ganz kurz ist es still. Schließlich flucht Mickey unten weiter: „Jetzt klemmt auch noch das verdammte Bremspedal!“

Der Bus rollt weiter. Oder besser gesagt: Er hüpft von Schlagloch zu Schlagloch. Oder sind wir schon von der Straße abgekommen?

Ich spüre, wie Anna über den Gang hinweg zu mir rutscht. Plötzlich umklammert sie meinen Arm. „Joe, halt mich!“

Ich klammere zurück und schließe die Augen. Warte auf den Crash. Unten knallt es. Ich spüre noch, wie mein Schädel und die Scheibe miteinander Bekanntschaft machen, dann schaltet mein alkoholisiertes Gehirn in den Standby-Modus.

 

Eine Hand rüttelt an meiner Schulter. Versucht mich aufzuwecken. Doch ich würde viel lieber weiterschlafen, denn in meinem Traum fliege ich gemeinsam mit Anna durch die Windschutzscheibe. Wir landen unbeschadet in einem Heuhaufen und knutschen uns – noch in Unfallnähe – durch die Nacht, bis die Polizei kommt.

„Jetzt mach doch endlich die Augen auf, sonst kommen wir hier nicht weiter!“

Ich erkenne die Stimme von Anna. Das motiviert mich dazu, immerhin das rechte Auge aufzumachen. Gleißend helles Licht blendet mich.  „Was? Wo?“

„Sehen Sie, es geht im gut!“

Der Wunsch, herauszufinden, wen Anna versucht zu überzeugen, wiegt stärker als die Müdigkeit. Mir gelingt es, auch das linke Auge zu öffnen und ich erblicke Mickey.

„Gut aussehen tut er nicht mit seiner Beule, aber wer sich bei einer Vollbremsung nicht festhalten kann, ist selbst schuld. Wenn er in den Bus kotzt, putzen Sie das auf!“ antwortet er Anna.

„Wenn es das ist, was ich tun muss, um endlich nach Hause zu kommen, dann gerne.“

„Ich kotze seit ich 17 bin nicht mehr in Fahrzeuge!“, wende ich ein.

„Das bleibt besser so!“ Mickey scheint mir zuzutrauen, alles drinzubehalten, er begibt sich auf den Weg nach unten.

„Na endlich,“, meint Anna, „wir haben fast fünf Minuten gebraucht, bis du wach warst.“

„Echt?“

„Ja.“

Die Lautsprecherdurchsage von Mickey durchbricht die peinliche Stille: „Liebe Fahrgäste, nachdem unsere Probleme mit dem Licht und den anwesenden Alkoholikern beseitigt sind, fahren wir mit exakt 23 Minuten Verspätung weiter. Im Namen der Royal Bus Fleet bitte ich um Entschuldigung. Wir werden in 25 Minuten in Rottingswell ankommen.“ Der Bus setzt sich langsam wieder in Bewegung. Unten wird auf italienisch und besoffen gejubelt.

„Ich war für 23 Minuten weg?“, frage ich Anna verdutzt.

„Ja und du hast ziemlich oft meinen Namen gemurmelt.“

„Oh.“

„Keine Angst, es ist erst komisch geworden, als du dir dabei mit der Hand durch die Hose gefahren bist.“

„Was?!“

Anna lächelt mich süffisant an: „Möchtest du das Video sehen, bevor ich es hochlade?“

„Bitte was?!“

Anna lächelt müde. „Ihr Betrunkenen seid so einfach hinters Licht zu führen. Denkst du wirklich, ich würde so etwas tun?“

Ich schaue nur betreten zu Boden.

„Machst du das eigentlich immer?“

Ich blicke auf. „Was?“

„Feuchte Träume mit Frauen haben, die du fünf Minuten vorher kennengelernt hast?“

„Ich…Du…“ Ich spiele meine letzte Karte aus: „Du möchtest am Samstag also nicht mit mir ins Café gehen?“

„Nein.“

„Oh.“

Ich versuche es nochmal: „Aber als das Licht ausging, da hast du doch…“

„…gerochen, wie sehr du nach Alkohol stinkst? Gefühlt, dass du mir an den Arsch greifst?“

Ich merke, wie ich rot werde. „Ich…“ Ich gebe auf. Die längste Busfahrt meines Lebens nimmt ihren Lauf. Angestrengt starre ich geradeaus. Obwohl ich vor Scham im Boden versinken möchte, hat sich der Traum von vorhin in meinem dämlichen Hirn eingebrannt. Ich bin ein lüsterner Vollidiot.

Wir kommen in Rottingswell an. Der Bus brettert durch die Straßen der Kleinstadt. Ich drücke den Halteknopf. Die letzten drei Stationen kann ich auch laufen. Hauptsache, diese peinliche Episode ist beendet. Weit gefehlt.

Anna steht auf und sieht mich verdutzt an. „Ach, wir wohnen sogar in der selben Straße?“

„Ich…“

Sie starrt mich wütend an. „Stellst du mir etwa nach? Komm bloß nicht auf dumme Gedanken.“ Sie dreht auf dem Absatz um und verlässt den Bus.

 

Kurze Zeit später darf ich endlich auch aussteigen. Ich bedanke mich bei Mickey und wünsche ihm eine gute Nacht.

Er grummelt ein genervtes „Passt schon.“ in seinen Bart und fährt ab.

Die letzte Lektion des Tages erteilt mir die Haustür. In meinem Zustand brauche ich fünf Minuten, um das Ding aufzubekommen. Irgendwann ist auch diese letzte Hürde genommen und ich taumele in mein wunderbar weiches Bett. „Nie wieder Alkohol!“, murmele ich mir selbst zu, doch diese Resolution ist am nächsten Abend vergessen.

Keine 24 Stunden später schütte ich den nächsten Busfahrer mit meinen betrunkenen Weisheiten zu.