Von Franck Sezelli

Weil ihr gerade über den alten Film sprecht, ihr meint wohl den amerikanischen von 2005. Mit genau demselben Titel Das verbotene Zimmer gab es schon früher einen deutschen Fernsehfilm und später mehrere Bücher. Ich habe keinen dieser Filme gesehen und auch die Bücher nicht gelesen, die alle unterschiedliche Geschichten erzählten, meist als Thriller aufgemacht. Aber interessanterweise hatte ich selbst eigentlich mein ganzes Leben lang mit diesem Thema zu tun. Das muss ich euch erzählen.

Ich war so neun oder zehn Jahre alt, vielleicht auch erst acht, als ich in den Sommerferien das erste Mal zu Tante Martha und Onkel Gerhard geschickt wurde. Wir wohnten in der Großstadt und meine Eltern meinten, ein paar Wochen auf dem Land täten mir gut. Tante Martha war die Schwester meines Vaters und sie lebte mit ihrem Mann in einem ehemaligen Gutshaus in Alt-Kletzow. Ich glaube nicht, dass es ihnen gehörte, sie hatten es nach dem Krieg einfach zugewiesen bekommen. Egal, damals und auch später war ich in den Sommerferien immer in Mecklenburg. Wir, das heißt mein Cousin Heinz und ich, hatten da viel Freiheit und konnten eigentlich den ganzen Tag machen, was wir wollten. Es gab da auch noch Barbara, die große Schwester von Heinz, mit der hatten wir nicht viel zu tun, wir waren ihr wohl einfach zu jung. Obwohl sie uns viel Freiheit ließen, waren Onkel und Tante aber irgendwie auch recht streng. Im Haus, beim Essen und so, hatten wir uns ordentlich zu benehmen. Und eines hat mir Onkel Gerhard schon am ersten Tag klar gemacht: Das hintere Zimmer im Obergeschoss durfte ich nicht betreten. Übrigens auch Barbara und Heinz nicht. Ob das auch für Tante Martha galt und sogar für Onkel Gerhard selbst, weiß ich gar nicht. Seltsamerweise steckte immer ein Schlüssel im Türschloss, aber die Tür war abgeschlossen. Warum es dieses Verbot gab, erklärten mir Onkel und Tante nicht. Sie ließen aber keinen Zweifel daran, dass das unbedingt einzuhalten war.

Natürlich habe ich Heinz danach gefragt, aber der interessierte sich überhaupt nicht dafür. »Das war doch schon immer so«, war seine Erklärung, die er mir schulterzuckend gab.

Ich wäre gar kein richtiger Junge gewesen, wenn mich das nicht beschäftigt und meine Neugier gereizt hätte. Jedenfalls bin ich so spätestens nach einer Woche bei Onkel und Tante eines Tages ins Obergeschoss geschlichen, um mir das Zimmer mal anzusehen und vielleicht sogar hinter das Geheimnis zu kommen. Denn dass damit ein Geheimnis verbunden ist, war mir bei diesem strikten Verbot von Anfang an klar. Schon in den ersten Tagen dieser Ferien bin ich zu dem Zimmer geschlichen und habe versucht, die Tür zu öffnen. Da habe ich dann gemerkt, dass sie abgeschlossen war. Vorsichtig habe ich den Schlüssel im Schloss gedreht, was zwar nicht ganz leicht ging, aber ich hörte und merkte, wie das Schloss schnappte. Dann verließ mich mein Mut und ich drückte die Klinke nicht wieder herunter, sondern drehte den Schlüssel zurück.

Nach ein paar Tagen aber habe ich die Tür ganz geöffnet und bin schnell in das Zimmer geschlüpft. Vor allem auf der Treppe ins obere Stockwerk musste ich aufpassen, nicht erwischt zu werden. Denn da oben waren nur die Schlafzimmer, die der Kinder und der Erwachsenen außer dem von der alten Tante Hermine. Ihres befand sich im Erdgeschoss, weil sie zum Schluss nicht mehr die Treppe hochgehen konnte. Zu der Zeit war sie schon gestorben und ihr Schlafzimmer war jetzt zu einem Gästezimmer geworden. Als ich noch ganz klein war, habe ich sie mal zu Weihnachten erlebt, als meine Eltern mit mir zu den Verwandten gefahren waren. Sie war Onkel Gerhards Mutter und hieß deshalb bei uns Oma Hermine. Sie kam mir damals wie eine alte Hexe vor und ich hatte Angst vor ihr.

Nun war ich also in dem verbotenen Zimmer. Ganz allein. Denn Heinz konnte ich nichts sagen, der hätte mich vielleicht bei seinen Eltern verpetzt. Es war irgendwie ein bisschen gruselig, wohl wegen der Angst, erwischt zu werden, und vor allem auch, weil es ziemlich dunkel war. Schwere Vorhänge vor den beiden Fenstern waren zugezogen und es roch muffig. Das, was ich in dem schwachen Dämmerlicht sah, das durch die Vorhangritzen fiel, sah recht normal aus. Ein Bett, abgedeckt mit einer samtenen Tagesdecke, stand an der linken Wand. Gegenüber ein hoher Kleiderschrank, eine Kommode zwischen den Fenstern, und in der Zimmermitte ein Tisch mit drei Stühlen. Ja, drei, nicht vier wie vielleicht üblich. Neben dem Bett am Kopfende gab es noch einen Nachtschrank und über dem Bett wie auch links von der Tür waren Bücherregale.

Der erste Überblick genügte mir damals erstmal. Ich hatte nichts Besonderes, irgendwie Verdächtiges entdeckt und nahm mir vor, später den Schrank und die Kommode zu durchsuchen. Ob das früher Oma Hermines Zimmer war, fragte ich mich. Sie kann doch aber nicht dort gestorben sein, hatte doch im Erdgeschoss gelebt. Aber vielleicht ist sie ermordet worden? Vergiftet? Und sie war dort lange versteckt?

Ich habe es seinerzeit nicht herausbekommen. Auch in den folgenden Sommern nicht. Denn natürlich habe ich weiter gesucht und das Verbot missachtet. Einmal habe ich mich dabei fürchterlich erschreckt, weil sich auf der anderen Seite des Tisches eine dunkle Gestalt bewegte, als ich vorsichtig zum Bett schlich. Es dauerte kurz, bis ich erkannte, dass ich das war, der mir aus dem fast blinden Spiegel an der Kleiderschranktür entgegensah. Übrigens hat auch das Durchsuchen der Schränke nichts gebracht. Der Kleiderschrank war leer, die Kommode enthielt nur alte Handtücher.

Als ich in späteren Jahren so mutig war, das Bett ganz vorsichtig zu untersuchen, schlug mir das Herz bis zum Hals. Denn ausgerechnet da hörte ich Schritte im Flur. Zum Glück schaute aber niemand ins Zimmer – es war ja auch verboten! Ich hatte mich schnell an die Wand rechts von der Tür gedrückt, so dass ich durch das Türblatt verdeckt gewesen wäre, wenn jemand nur so durch die geöffnete Tür gesehen hätte. Beim Bett war ich besonders vorsichtig, es sollte ja nach meiner Untersuchung genauso aussehen wie zuvor.

Selbstverständlich habe ich mich in den Ferien in Alt-Kletzow nicht nur mit diesem vermaledeiten Zimmer beschäftigt, sondern auch mit Heinz und den Dorfkindern gespielt. Auch wenn das manchmal hart war. Denn sie hänselten mich gern wegen meines sächsischen Dialekts, der in Mecklenburg besonders herausstach. Am liebsten fragten sie mich: »Aus welcher Stadt kommst du? Aus Gorlmorks-Schtott?« Dann lachten sie sich immer scheckig. Aber sonst kam ich gut mit ihnen klar.

Mit dem Alter wandelten sich meine Interessen. Das verbotene Zimmer war nicht mehr so interessant. Mit fünfzehn Jahren entdeckte ich ein anderes deutlich fesselnderes Abenteuer. Auch das war irgendwie verboten, ahnte ich, obwohl es niemand gesagt hatte. Ich bin ja auch nicht erwischt worden. Hinter dem Haus gab es eine Treppe, die hinab in einige Kellerräume führte. Wenn ich mich dort auf das zugehörige Geländer stellte, mich an der Hauswand festkrallte und den Körper etwas nach links bog, konnte ich in das Badfenster hineinschauen. So gelang es mir, Barbara des Öfteren beim Duschen zuzusehen. Zum Glück schlief sie länger als wir Jungen. Aber Heinz durfte das auch nicht erfahren. Ich habe keine Schwester, aber ich hätte auch keinem Jungen gestattet, sie heimlich nackt zu beobachten …

Als ich sechzehn war, hatte ich, so glaubte ich, die entscheidende Idee. Ich habe mich in das Zimmer geschlichen, um alle Wände und den Fußboden nach hohlen Stellen abzuklopfen. Das konnte ich nur unter allergrößter Vorsicht machen, weil man das Klopfen möglicherweise im ganzen Haus hören konnte. Also musste ich sehen, dass niemand sonst zu Hause war. Leider brachte auch dieses Vorgehen keine Aufklärung. Also habe ich Heinz nochmal ganz nebenbei nach dem Grund für das Verbot befragt. Seine Antwort: »Das will ich gar nicht wissen – und du vielleicht besser auch nicht. Lass mich damit in Ruhe!«

In den letzten Schulferien vor dem Studium war es Marlies, die Gastwirtstochter von Alt-Kletzow, der mein besonderes Interesse galt. Nach dem Motto Tausendmal berührt …, ihr wisst schon. Wir haben ja all die Jahre miteinander gespielt. Aber nun war es plötzlich anders. Wir waren ständig zusammen. Sie war es, die mich eines Tages dazu verführte, ihr das bewusste Zimmer zu zeigen. Offenbar wusste das ganze Dorf, dass es im ehemaligen Gutshaus ein verbotenes Zimmer gab.

Als ich mit Marlies in dem Schummerlicht vor dem Bett stand, gab sie mir plötzlich einen Schubs, sodass ich mit dem Rücken auf der Bettdecke landete. Im gleichen Augenblick nestelte sie mir schon am Hosenbund. Aber das war mir dann doch zu unheimlich. Wir sind dann schließlich in die Scheune gegangen …

Während des Studiums haben wir den Kontakt verloren, ich meine, zu Cousin und Cousine, zu Onkel und Tante, leider auch zu Marlies. Ich studierte in Darmstadt, Heinz in London. Während ich ein Auslandssemester in Boston absolvierte, verstarb Tante Martha, sodass ich nicht einmal zu deren Beerdigung da war.

Danach hat der Onkel das Haus aufgegeben und ist nach Neubrandenburg in eine kleine Stadtwohnung gezogen. Vor zehn Jahren ist auch er gestorben. Bei der Beerdigung bin ich nach langer Zeit wieder mit Heinz zusammengetroffen. Und natürlich habe ich mich an das Familiengeheimnis erinnert. Ganz vertraulich habe ich meinen Cousin darauf angesprochen. »Kennst du jetzt den Grund für das Verbot um jenes geheimnisvolle Zimmer?«

Er nahm mich beiseite und erzählte, dass sein Vater es ihm kurz vor seinem Tod verraten hat und meinte: »Wenn du es unbedingt wissen willst, so kann ich dich auch einweihen. Du gehörst ja gewissermaßen auch zur Familie. Aber du musst mir versprechen, dass du es für dich behältst. Du darfst es niemandem sonst erzählen. Wenn du alles weißt, wird dir auch klar sein, dass das ein Familiengeheimnis bleiben muss.«

 

Was schaut ihr so? Es ist doch selbstverständlich: Ich habe es ihm versprochen!

 

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