Von Volkmar Klundt
Häuser wie dieses gibt es in jeder Stadt. Sie widersetzen sich unwillig jeglicher Veränderung. Wenn man nach Jahren zurückkehrt und sich kaum noch zurechtfindet, stellen sie einen Fixpunkt dar. Sie ducken sich, mit sich selbst im Einklang, wie schon immer, hinter Rhododendronbüschen in ihre weitläufigen, verwunschenen Gärten, so dass von der Straße aus oftmals nur einer der mindestens zwei Kaminzüge zu sehen ist. Manchmal lugen auch die Lamellen altmodischer Fensterläden, vielleicht in taubenblau, hervor, oder es fällt, wie in diesem Fall, warmes Licht aus einem Fenster im oberen Stockwerk.
Man näherte sich ihnen keinesfalls beiläufig. Man gehörte hierher, hatte ein echtes Anliegen oder entschuldigte sich glaubhaft für die Störung.
Hoffmann drückte die Messingklingel, die, eingelassen in den roten Backstein des Pfeilers, im Zwielicht der Dämmerung dunkel schimmerte. Auf das Summen hin, öffnete er das schmiedeeiserne Eingangstor, welches, nachdem er hindurchgetreten war, quietschend hinter ihm ins Schloss fiel.
Er ging den kleinteilig gepflasterten Weg entlang. Der Garten, als habe man es nicht nötig, zeigte Zeichen ungezwungener Vernachlässigung. Hier und dort spross Unkraut zwischen den Blumen und herabgefallene dürre Ästchen lagen auf den Rabatten.
Nun, da er nähergetreten war und eben im Begriff stand, einen Fuß auf die Freitreppe vor der Villa zu setzen, bemerkte er auch hier die Zeichen der Gleichgültigkeit. Dem Fensterrahmen hätte ein Anstrich gutgetan und vor der Treppe spross aus einer Fuge abgeblühter Löwenzahn. Der nächste herbstliche Windstoß würde die Kugel zerzausen und die Flugsamen mit sich nehmen.
Hoffmann betätigte den Klopfer.
Die Dame, die ihm nach angemessener Zeit öffnete, trug ihren dunkelblauen Rock und die weißgestärkte Bluse wie eine Uniform. Die Perlenkette um ihren Hals trug sie wie ein Ordensband und die straff nach hinten zu einem Knoten zusammengefassten blonden Haare wirkten wie ein Kriegshelm. Einige Falten kräuselten sich diskret in ihren Augenwinkeln, andere deuteten rechts und links der Nasenflügel auf die unbestimmbaren Jahre jenseits der Dreißig.
In der linken Hand hielt sie ein Klemmbrett und darüber schwebte schreibbereit der Stift in ihrer Rechten. Sie musterte Hoffmann, kritisch wie er meinte, denn zwischen ihren hellen blauen Augen hatten sich zwei senkrechte Falten gebildet.
“Sie sind nun endlich gekommen”, sagte sie. Ihre Stimme war wie ein Dreiklang aus Beklommenheit, Ärger und Erleichterung.
Hier müsse ein Irrtum vorliegen, sagte Hoffmann.
“Das Auto funktioniert nicht mehr. Ein Stück die Straße herunter.”
Sie zeichnete einen Haken aufs Papier.
“Nun, das müssen Sie natürlich selbst entscheiden, für mich sind Sie ein Volontär“, sagte sie, als wäre ihr die Beschäftigung mit seinen Problemen zuwider und die Angelegenheit damit erledigt.
Sie führte ihn in die Halle und überließ ihn sich selbst.
“Ich muss Ihr Zimmer vorbereiten”, sagte sie und war bereits verschwunden, bevor Hoffmann zu einer Entgegnung ansetzen konnte.
Er blickte sich um.
Beiderseits schwang sich eine Treppe aus dunklem Holz symmetrisch empor zur Galerie. Zwei dunkle Durchgänge deuteten rechts und links an, dass dahinter wohl die Zimmer des oberen Stockwerks zu finden sein würden.
Die Stirnwand der Halle zog sich bis hinauf unters Dach, denn als Hoffmann den Kopf in den Nacken legte, konnte er oberhalb des Mauerwerks die Dachbalken sehen, die sich dort in erheblicher Höhe abstützten. Auf diese Art wurde das Haus in zwei Hälften geteilt und die Stirnwand der Halle trug die gesamte Last des Bauwerks.
Diese Bauweise konnte nur auf die kauzigen, freigeistigen Ideen eines exzentrischen Menschen zurückzuführen sein, der in der Lage gewesen war, den Fachleuten diese Konstruktion abzutrotzen. Denn so sehr Hoffman sich auch bemühte, er konnte sich kaum eine unpraktischere und groteskere Bauweise vorstellen.
Dann fiel sein Blick auf das Gemälde und er wich unwillkürlich zurück.
Seine Beine stießen an einen der beiden Chesterfield Sessel, die man im hinteren Drittel der Halle, gegenüber der Stirnwand, platziert hatte. Zwischen den Sesseln stand ein Rauchertischchen und Hoffmann ahnte, dass hier vor kurzem jemand, versunken in die Betrachtung des Bildes gesessen hatte, dann, einem plötzlichen Entschluss folgend, aufgestanden und gegangen war. Im Kristallascher, der auf der reich ornamentieren Tischplatte stand, befand sich eine hastig ausgedrückte Zigarette. Aus einem Glutrest stieg ein zarter Rauchfaden empor.
Sein Blick fiel erneut auf das Gemälde, welches einer seltsamen Vorliebe für Größe direkt auf den gesamten Putz der Stirnmauer aufgebracht war.
Auf den Zinnen und Türmen einer Stadt wehten bunte Fahnen.
Umgeben von einer himmelhohen starken Mauer, fugenlos und uneinnehmbar, fast weiß im hellen Sonnenlicht, trotzte sie dem strömenden Angriff der dunklen Gestalten, die sich diagonal, aus einer leicht erhöhten Perspektive, von rechts unten kommend, hin zur Stadt in die obere Bildhälfte ergossen. Dort brandeten sie wellengleich gegen die Mauern und lösten sich wie Gischt in der Art eines Bruegelschen Wimmelbildes in einzelne Szenen des Angriffs auf.
Hoffmann trat nun näher. Er sah unzählige Leitern, die die Angreifer an die Mauer lehnten, sah hinabgeschleuderte Steine, stürzende Menschen und verkrümmte Körper am Mauerfuß. Er ging hinüber zum rechten Bildrand. Sein Blick fiel auf einen der vordergründigen Krieger, der zum Betrachter hingewandt, verdrossen aus dem Bild herausblickte, als wollte er ihn auffordern, nicht zurückzustehen und sich endlich zu beteiligen.
Hoffmann ging zur linken Bildseite herüber. Die Tür war so raffiniert in das Bild eingearbeitet, dass er sie erst bemerkte, als er nur wenige Zentimeter davorstand. Die Klinke verbarg sich hinter einem Trommelstock, mit dem ein bärtiger Tambour auf das Fell einer bunten Pauke schlug.
Es schien nur folgerichtig und natürlich, die Klinke zu drücken und durch die Tür hindurchzugehen. Zugleich aber wusste er, dass er das keinesfalls tun durfte, dass es ihm als Fremdling verboten war und ihm unvorstellbarer Verdruss drohte, sollte er sich seiner inneren Stimme widersetzen.
Auch wäre es gegen jede Konvention gewesen, sich in einem fremden Haus, in dem er wohl zu Gast war, in einer solchen Art daneben zu benehmen. So etwas tat man einfach nicht.
Tatsächlich war sein Status noch in keiner Weise geklärt und Hoffmann versank in Grübeleien über die Art und Weise der seltsamen Aufnahme in die Villa, als die Dame erschien und ihn zu seinem Zimmer geleitete, welches im hinteren Teil des Erdgeschosses gelegen war.
An Schlaf war nicht zu denken. Karg und kühl, wie das Zimmer war, bot es seinem Blick keinen Fixpunkt und den Gedanken keinerlei Ablenkung. Hoffman lag auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte auf die Decke.
Was war das nur für eine Stadt und welches Schicksal drohte ihr, wenn es den Angreifern gelang, die Mauern zu erstürmen?
Wie lebendig das Gemälde ausgeführt war!
Er begann im Zimmer auf und abzugehen. Diese Tür im Bild. Wohin sie wohl führte? Es schien unwahrscheinlich, dass sich dahinter nichts als ein Regal mit Putzmitteln befand. Wozu hatte man es derart raffiniert in das Gemälde eingefügt. Oder war die Tür bereits vorhanden und der Maler, der jeden Kompromiss in Bezug auf die Größe des Gemäldes ablehnte, musste notgedrungen mit dieser baulichen Vorgabe zurechtkommen? Schließlich waren manche Künstler streitbar.
Hoffmann verließ seine Kammer und ging den dunklen Gang entlang zurück in die Halle.
Über dem Bild lag nun die Nacht. Biwakfeuer brannten dort, wo die Angreifer ihre Zelte aufgebaut hatten. Vereinzelt sah er erleuchtete Fenster in den Türmen der Stadt. Der Wind war eingeschlafen und die Fahnen hingen schlaff herunter.
Hoffmann setzte sich in einen der Clubsessel und betrachtete die Szene, bis er den Eindruck gewann, dass sich dem Gemälde die Dämmerung näherte, weil sich hinter den Mauern ein blasser Streifen zeigte.
Einer jähen Eingebung, einem Drang folgend, sprang er auf und schritt rasch zur Wand hinüber. „Jetzt nicht zweifeln.“
Er wischte alle Bedenken entschlossen beiseite. Eben fühlte er noch kühl die Klinke der seltsamen Tür in der Hand, da hatte er dieselbe schon aufgezogen, war hindurch geglitten und stand nun im Zwielicht eines dunklen Ganges an dessen Ende ihn Stufen erwarteten, die er Schritt für Schritt hinaufstieg.
Oben erwartete ihn der Blick von der Mauer herab über das weite Tal. Die Sonne war eben aufgegangen. Unten im Feldlager der Gegner sammelten sich die Angreifer. Zelte wurden verstaut, Belagerungsmaschinen heran gerollt und Leitern bereitgelegt. Erste Pfeile flogen die Mauer hinauf, spielerisch noch, wie um sich warm zu machen.
“Nun sind sie endlich hier. Helfen Sie mir”, sagte die Dame mit der Perlenkette und deutete auf die Steine. “Die hier müssen bis an die Mauer heran.”
Entsetzt zählte Hoffmann die wenigen Verteidiger. Auch die Mauern waren viel dünner und weniger massiv, als er angenommen hatte. Tatsächlich musste ein einziger entschlossener Angriff an der richtigen Stelle ausreichen, um sie zum Einsturz zu bringen.
Und was dann? Was würde mit ihm geschehen? Gäbe es Plünderungen? Was täte diese marodierende Horde über deren Entschlossenheit es keinerlei Zweifel geben konnte.
Voller Furcht drehte er sich um, lief zurück zur Treppe, hastete hinab, nahm springend mehrere Stufen auf einmal und erreichte schließlich den Ausgang, vor dem man nun einen Wächter postiert hatte.
“Du wolltest hinein und nun kannst du nicht hinaus”, sagte er, “es sei denn, Du weißt das Losungswort.”
“Das ist ein Irrtum”, rief Hoffmann, “es ist nicht meine Sache.”
Da war der Wächter besiegt. Er trat beiseite und gab den Weg frei.
Als Hoffmann in der Halle stand und über die Schulter blickte, war die Mauer bereits eingebrochen. Die Bresche war voller dunkler Gestalten. Man sah die Flammen lodern und Rauch lag über der Stadt.
Einer der Krieger blickte spöttisch und geringschätzig aus dem Bild heraus.
So schnell er konnte, verließ er die Villa und lief durch das Tor, hinaus auf die Straße. Irgendwie gelang es ihm, einen Wagen anzuhalten, der ihn einige Augenblicke später vor einem Hotel absetzte.
Als er Jahre später in die Stadt zurückkehrte, machte er sich auf die Suche nach der Villa. Aber jedes Mal, wenn er glaubte, sie gefunden zu haben, bemerkte er ein Detail, das mit seiner Erinnerung nicht in Einklang gebracht werden konnte.
Version 3