Von Simone Tröger
„Schau mich endlich an!!“, rief der Spiegel. Sie hörte nicht auf ihre innere Stimme. Sondern stellte sich mit geschlossenen Augen vor das Glas über dem Waschbecken im Bad. Ihr Sehorgan öffnete sie erst dann, wenn sie ihre Bemalung künstlerisch vollbringen musste. Ihre Gedanken schweiften in der Zwischenzeit zu einem Ehemann, der mit einem Strauß Rosen in der einen Hand und Konzerttickets in der anderen bestens gelaunt von der Arbeit kam. Das war Illusion.
Rosen, Konzerttickets – in keiner Ehe war das regelmäßig der Fall. Auch nicht, wenn man in Geld schwamm. Statt der Blumen und der Harfenklänge setzte es eine links, eine rechts und mehrere dazwischen. Also doch den Blick zu ihrem Portrait und Schminkutensilien aus dem Schrank holen, damit das Bild schön werde… Sie traute sich nicht, so zugerichtet durch die Stadt zu gehen. Wohin auch? Es gab keinen Grund dazu, sagte ihr Gatte. Die Zwillinge bekamen von Papa zu hören, sie sollten ihr Spielzeug aufräumen, damit Mami nicht darüber stolperte und hinfiel. Ob die beiden zu ihr hielten, wenn sie von den Missetaten erfuhren? Sie waren doch erst 6 Jahre alt, Erstklässler.
„Ruhe dich endlich aus!“, befahl die Sofalandschaft. Ihr Gatte war Geschäftsführer der Firma „Groß und größer“. Der Betrieb stellte Rasentraktoren in verschiedenster Ausführung her und verkaufte diese. Arbeit hatte sie nicht nötig. Im Grunde war es immer ihre Absicht, etwas zu schaffen, unter Leute zu gehen, ihr eigenes Geld zu verdienen, mit ihrer imaginären Freundin den Verdienst zu verschlemmen. Doch all das war ein Verbot ihres prügelnden Mannes. Die Schläge wären aufgefallen, unter Umständen verhindert und er selbst bestraft worden.
So begann der Tag, wie der Abend vorher endete – auf dem Sofa. Nicht relaxed, wie es die Stimme in ihrem Kopf befahl. Sondern aufgeregt, wie ein beflügeltes zwitscherndes Elternpaar, dessen Gelege Räubern zum Opfer gefallen war. Wütend, wie die Fußgänger, die dem durch Matsch fahrenden Bus nicht ausweichen konnten. Angstvoll wie ein Kätzchen, das zu hoch auf einen Baum kletterte.
Also saß sie, stand auf, ging im Zimmer umher. Nur, um sich erneut zu setzen und wieder nervös aufzustehen.
Der Prügler ruhte zu dieser Zeit im Slow-Wave-Schlaf. Logischerweise kam ihm dabei die Idee nicht, dass sich seine Frau nicht an die Schläge gewöhnt hatte oder gewöhnen wollte und nach einem Ausweg suchte.
„Serviere endlich den Kuchen!“, bestimmte der Tisch. Anstatt sich mit der erdachten Freundin zum Kaffeekränzchen zu treffen und sorglos zu plaudern, bemühte sie sich um die Aufmerksamkeit ihrer Kinder. Obwohl die der Hexe, die sich im Kinderzimmer versteckt hielt, den Garaus machen wollten. Da waren sie wieder, die Spielsachen, bei denen Mami immer wieder das Gleichgewicht verlor. Sie hasste es, den Sprösslingen Schuld einzureden und die eigenen Unzulänglichkeiten auf sie abzuwälzen.
Dann ließ sie ihren Nachwuchs gehen. Sie selbst blieb sitzen und versuchte, den Kuchen nebst Kaffee im Kerzenschein allein zu genießen. Das gelang nicht. Sie starrte in die Flamme, die in ihrem verschwommenen Blick stetig höher züngelte wie eine Kobra, die den Kopf aus ihrem Korbgefängnis emporhob. Dabei ergründete sie das aggressive Verhalten ihres Gemahls. Sie kam zu dem Schluss, dass seine Kindheit Schuld daran hatte. Vielleicht bekam er zu wenig Aufmerksamkeit, eventuell zu viel davon. Ihr fehlte jedoch der Mut, sich gegen seine Anweisungen zu stellen. Das Nachsehen hatte sie, indem sie bei der kleinsten Verfehlung Prügel bezog. Nach eigenem Dafürhalten machte sie keinen Fehler, ihn störte die Fliege an der Wand. Dann war alles falsch.
Sie war nicht der Psychologe. Aber sie wusste selbst, dass es nicht mehr lange so weiterging und die Reißleine von ihr gezogen werden musste.
„Nimm deine Kinder und geht endlich auf Entdeckertour!“, ordnete der Herbstwald an.
Dem Käfig aus glänzendem Edelmetall entkam sie dadurch für einen Moment. Es war Sonnenbrillen-Wetter. Perfekt, um die Kriegsbemalung zu übertünchen. Da um diese Zeit die meisten Menschen arbeiteten, würde sie höchstwahrscheinlich auf niemanden treffen. Da Leo und Lea zur Oma wollten, spazierte sie dahin und ließ sie zurück in der Obhut der nichtsahnenden Großmutter. Dann lief sie Richtung Wald, der wunderschön belaubt ausschaute. Gelb, Grün und Rotbraun. Der Herbst konnte in Sachen Farbe mit dem Sommer mithalten. Die Schönheit der Natur nahm sie zum Anlass über die Schönheit, beziehungsweise Hässlichkeit, ihres Lebens nachzudenken.
Dirk, ihr Angetrauter, erledigte alle Wege. Sie durfte nicht einkaufen, kein Elterngespräch in der Schule führen, nicht zum Sport gehen, keine Freunde haben, keine Nachbarin zu sich nach Hause einladen. Bei einem Arzttermin war er immer der treusorgende Begleiter an ihrer Seite. Ausgehen durfte sie nur, liebevoll Hand-in-Hand, wenn die Hand ihm gehörte.
Langweilen konnte sie sich den Tag lang. Das genügte ihm. Ihr nicht!
Urlaube waren Schwerstarbeit, weil sie den Schein wahren und für die Kinder kein Spielverderber sein wollte.
Warum?
Das „warum?“ war das Dokument, war die Anweisung, wo geschrieben stand:
„W-A-C-H E-N-D-L-I-C-H A-U-F !“
Endlich wachte sie auf!
Sie wandte sich von der Sonne ab, lief sehr selbstsicher zum nächsten Polizeirevier und präsentierte den Beamten ihr buntes Auge, dass ihr Antlitz farbig zierte wie eben das Laub an den Bäumen. In diesem Moment dachte sie nicht an ihren Wohnort. Sie verschwendete keinen Gedanken an die Bleibe der Kinder. Die finanzielle Abhängigkeit von ihrem Noch-Ehemann war kein Thema.
Sie vertraute und verließ sich vollends auf die Gesetzeslage im Rechtsstaat.
Tatsächlich, allein die Scheidung brachte ihr Vermögen, zumindest für sie war der Geldbetrag ein kleines Vermögen. Ebenso erhielt sie das geteilte Sorgerecht für die Kinder. Dabei half die Arbeit in der Steuerkanzlei einer früheren Freundin, die sie beim Einkaufen traf. Im Lehrberuf als Steuerfachangestellte war zwar eine Menge aufzuholen. Fortbildungen waren zunächst an der Tagesordnung. Auf diese Weise gewöhnte sie sich Stück-für-Stück an verschiedene Menschen. Für die Arbeit konnte das nur nützlich sein. Sie profitierte in allen Belangen von der neu gewonnenen Freiheit.
Es war, als stand sie mit ausgebreiteten Armen hoch oben auf dem Felsen und ließ sich vom Wind durchpusten. Das verstand sie unter Wohlbefinden.
Das Wohneigentum der kleinen Familie gestaltete sich nicht zu mächtig, aber es war gemütlich. Das wollten die drei so. Auf das Haus verzichtete sie sehr gern, obwohl es ihr Ex-Mann hätte hergeben müssen. Die Kinder vermissten den großen Garten anfangs schon, fanden aber Ablenkung bei neuen Freunden. Bei Freunden überhaupt in ihrem kindlichen Leben. Da sich der Papa mit dem halben Sorgerecht begnügen musste, machte er Anstalten, die Mutter seiner Kinder zu manipulieren. Das alleinige Sorgerecht beantragte er, um der Mama eins auszuwischen. So etwas ging über seine Ehre. Bei seinem Arbeitspensum hätte er das aber keinesfalls ausführen können, und den Kleinen wäre allein die Nanny geblieben. Die Sache landete vor Gericht, dass konnte sich Dirk nicht nehmen lassen. Es machte die Mama mitunter heftig fertig, und sie wollte alles rückgängig machen. Doch da waren jetzt Freunde, Arbeitskollegen und die Unabhängigkeit, mit der sie Bekanntschaft machte. Alles sprach dagegen.
Nach vier Jahren Krampf und Kampf lebte sie mit den Kindern endlich das Leben, für das sich zu leben lohnte.
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