Von Andreas Schröter
Es war einmal – und dieses „Es war einmal“ liegt schon 150 Jahre zurück – ein neunjähriges Mädchen namens Margarete. Es erfreute sich in dem Örtchen Rosenhausen, in dem es lebte, großer Beliebtheit. Margarete liebte es, nachmittags über die Felder zu rennen und zu springen und dabei lauthals ein Liedchen zu singen. Ihre Fröhlichkeit war so ansteckend, dass ältere, vom Schicksal gebeutelte Menschen sie nutzten, um ein wenig davon abzubekommen. Nicht wenige von ihnen holten sich ein Kissen, legten es auf die Fensterbank und stützten sich darauf stundenlang ab, um Margarete bequem bei ihrem Spiel zusehen zu können. Alle im Ort wussten, dass Margarete die Farbe Rot über alles liebte. Und so schenkten sie ihr bei allen Gelegenheiten rote Blumen, mal ein rotes Mützchen oder etwa Socken und Handschuhe in dieser Farbe.
Einmal im Sommer kam es in Rosenhausen zu einem großen Unwetter. Wassermassen stürzten innerhalb kürzester Zeit vom Himmel herab und sorgten im Ort für wahre Sturzbäche, wo es vorher vielleicht ein kleines Rinnsal gegeben hatte. Das brachte es mit sich, dass große Mengen an Geröll und Erde die Hänge hinunterflossen. Damit kamen Dinge ans Tageslicht, die vielleicht schon seit Tausenden von Jahren in der Erde vergraben gewesen waren. Hermann, der Schmied, fand einen uralten Speer, und auch Töpfe oder anderes Geschirr mit interessanten Bemalungen traten zutage.
Für die neugierige Margarete war es natürlich ein Fest, durch die Geröllberge zu stromern und zu schauen, was die kleine Sintflut zutage gefördert hatte. Und sie wurde tatsächlich fündig. Am zweiten Tag nach dem großen Regen fand sie etwas, das gerade für sie ein großer Schatz war: ein silbernes Kreuz mit einer Kette daran, sodass das Mädchen es sich umhängen konnte. Was man dazu wissen muss: Margarete war ausgesprochen religiös. Sie betete jeden Morgen und jeden Abend jeweils eine halbe Stunde zum lieben Gott. Margarete würde dieses Kreuz nie mehr ablegen, und sie wurde 104 Jahre alt. Natürlich hatte sie damals, als sie es fand, keine Ahnung, wie alt dieses Kreuz war, aber auf sie wirkte es sehr alt. Als sie es aufhob, musste sie etwas daran ruckeln, so als sei es an etwas befestigt, aber schließlich hielt sie es doch in den Händen. Im selben Moment ertönte in der Erde darunter ein Geräusch, das man als eine Art aggressiven Schrei der Freude hätte deuten können. Aber Margarete maß dem keinerlei Bedeutung bei, zumal es unmittelbar danach wieder still war.
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Was Margarete nicht wusste – und was niemand im Ort wusste: 1000 Jahre zuvor – im Jahre 875 nach Christus – hatte es in dem Marktflecken, der später Rosenhausen heißen sollte, eine schlimme Epidemie gegeben. Die Menschen wurden reihenweise von einem immer größer werdenden Heer von Vampiren dahingemetzelt, nur um sich kurz darauf als Widergänger zu erheben und ihrerseits auf die Jagd nach frischem Blut zu gehen. Weil das eine nicht enden wollende Kettenreaktion mit exponentieller Steigerung hervorrief und sich die Bevölkerung des Ortes schon nach zehn Tagen um die Hälfte reduziert hatte, bestand bald die Befürchtung, dass der Ort innerhalb kürzester Zeit aufhören würde zu existieren – zumindest dann, wenn man „existieren“ damit definierte, dass es dort noch lebende Menschen gab. Wer irgendwie die Möglichkeit dazu hatte, floh.
In dieser Situation beschloss der himmlische Vater, etwas zu tun, was er nur sehr selten tat. Genaugenommen hatte er es bislang nur einmal getan – 875 Jahre vorher, als er seinen Sohn auf die Erde geschickt hatte. Diesmal war es jedoch nicht Jesus, den er schickte, sondern den Erzengel Gabriel.
Gabriel brauchte zehn Tage, um alle Widergänger – und diesmal für immer – ins Jenseits zu schicken. Was ihm allerdings nicht gelang, war, die drei Mächtigsten der Altvampire ebenfalls zu vernichten. Sie standen unter dem direkten Schutz von Satan. Immerhin konnte Gabriel sie in einer Höhle unter der Erde festsetzen. Den Eingang sicherte er mit einem mächtigen Silberkreuz, das ihm sein Auftraggeber persönlich mitgegeben hatte. Es besaß derart viel Macht, dass die Vampire niemals daran vorbeikommen würden. Mit einem Gefühl, im ewigen Kampf Gut gegen Böse zumindest einen 80-Prozent-Sieg davongetragen zu haben, machte er sich zurück auf den Weg in den Himmel (wo er eine Belobigung in Form eines silbernen Lorbeerblattes erhielt – und es ärgerte Gabriel auch nur minimal, dass Jesus damals ein goldenes Lorbeerblatt erhalten hatte).
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Nun, in dem Punkt, dass die Vampire die Sperre niemals würden überwinden können, irrte sich Gabriel, auch wenn ihnen das lediglich mit Hilfe Margaretes gelang. Doch schon nach einer knappen Stunde – es war inzwischen dunkel geworden –, nachdem das Mädchen das Kreuz an sich genommen hatte, pflügte sich die erste Vampirklaue durch die lockere Erde, gefolgt von der gesamten widerwärtigen Gestalt des höllennahen Wesens. Seine beiden Genossen, die mit ihm etwa 1000 Jahre in der Erde eingeschlossen gewesen waren, folgten ihm auf dem Fuß.
Als die Vampire ihr erstes Opfer fanden – es war einer der Saufbrüder, die gegen zehn Uhr abends aus der Schankstube des Ortes torkelten – stand Margarete, die eben ihr Gebet beendet hatte, am Fenster. Das Blut des Opfers spritzte erst auf den Gehsteig, und später rann einiges davon die Mundwinkel des Vampirs hinab. Margarete war keineswegs aufs Tiefste erschrocken, wie es eigentlich für ein Kind ihres Alters normal gewesen wäre – nein, im Gegenteil, sie war aufs Höchste fasziniert, denn, wir erinnern uns, sie liebte die Farbe Rot.
Nach dem Festmahl der Vampire, das lediglich fünf Minuten gedauert haben konnte, wirkte das Opfer so tot, wie man nur tot sein konnte. Seine Arme und Beine waren verrenkt, die Kehle so weit aufgerissen, dass der Kopf nur noch am berühmten seidenen Faden zu hängen schien, die lila angelaufene Zunge hing ihm weit aus dem Hals, und sein starrer Blick aus toten Augen richtete sich gen Sternenhimmel.
Margaretes sich widersprechende Gefühle waren in Aufruhr. Einerseits, weil sie noch nie zuvor einen Toten gesehen hatte, andererseits, weil ihr die Farbe des Blutes als das schönste Rot erschien, dessen sie jemals ansichtig geworden war. Und so konnte sie sich nicht vom Anblick des Toten lösen.
Umso überraschter war sie, als der nach einer Weile begann, seine Finger zu bewegen – und schließlich seine Arme und Beine folgen ließ. Margarete tat wieder etwas, das untypisch für ein junges Mädchen war. Sie schlich sich, peinlich darauf bedacht, ihre Eltern nicht aufzuwecken, aus dem Haus und ging auf den Saufbruder zu, der sich inzwischen trotz seiner sichtlich gebrochenen Beine halb aufgerichtet hatte. Als er Margarete sah, hielt er sich mit einer ruckartigen Bewegung die Hände vor die Augen und schrie panisch „Nimm das weg!“, während er auf Margaretes Kreuz deutete.
Das Mädchen schaute erst das Opfer, dann das Kreuz an und wurde sich langsam bewusst, dass das Fundstück ihm offenbar eine Macht gab, die es niemals zuvor besessen hatte. Doch bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, röchelte der Mann vor ihr: „Blut, Blut, ich brauche frisches Blut. Bitte hilf mir, es zu finden.“ Margarete dachte nur kurz nach, dann deutete sie auf ein Haus, das sich etwa 50 Meter die Straße hinunter befand. Dort wohnte der Dorfschullehrer, der Margarete am vorigen Tag mit dem Lineal eins auf die Finger gegeben hatte, weil sie ihre Hausaufgaben vergessen hatte. Der untote Saufbruder machte sich auf den Weg …
Margarete war keinesfalls eine so reine Seele, wie es die Dorfbewohner annahmen. Im Grunde mochte sie es nicht, nachmittags beim Spielen von den auf den Fensterrahmen lehnenden Weibern begafft zu werden. Und so waren seltsamerweise sie es, die als Nächstes der stetig größer werdenden Vampirschar zum Opfer fielen.
Im Laufe der Zeit verstand Margarete es, sich die Vampire untertan zu machen. Bei einigen der aufmüpfigeren musste sie ihr Kreuz einsetzen. Nur ein winziger Kontakt mit dem Widergänger genügte, um ihn unverzüglich in Flammen aufgehen zu lassen und zu vernichten. Nach nur einer Woche war Margarete die unumstrittene Anführerin der Vampire: Queen Margarete, die Königin der Vampire. Widerworte duldete sie nicht. Es wurde das gemacht, was sie sagte. Es wurde das Blut derjenigen oder desjenigen getrunken, den oder die Margarete dafür auserkoren hatte. Und: Sie bestand darauf, bei jedem Festmahl anwesend zu sein. Der Farbe Rot wegen.
Als sich die Anzahl der (lebenden) Bevölkerung Rosenhausens um die Hälfte reduziert hatte, wendete sich das Blatt, und Margarete war schlau genug, den Umschwung zu bemerken und richtig darauf zu reagieren: Der Himmel tat sich auf, und ein von gleißendem Licht umspieltes Wesen schwebte herab. Margarete warf die Krone, die die Vampire aus den abgerissenen Fingern ihrer Opfer für sie gebastelt hatten, weg und stürzte auf Gabriel zu (ohne zu wissen, dass es der Erzengel war). „Ich habe so sehr dafür gebetet, dass der Herr einen Gesandten schickt, der uns von diesem Grauen befreit. Danke, dass Du gekommen bist.“
Gabriel sah das Kreuz, das er vor 1000 Jahren an diesem Ort hinterlassen hatte, und wusste, dass das Mädchen ein Kind Gottes war. Diesmal brauchte er wiederum zehn Tage, Rosenhausen von den Widergängern zu befreien. Die drei Obervampire sperrte er in Bleisärge, die er mit jeweils sechs Kreuzen gesichert in einem 100 Meter tiefen See versenkte.
Margarete lebte die nächsten 95 Jahre völlig unbescholten ein ruhiges Leben in Rosenhausen. Was ihr stets Kraft gab, war das Wissen, wo genau die Vampire versenkt worden waren, und dass sie sie bei Bedarf an die Oberfläche würde holen können, um für sie unliebsame Zeitgenossen aus dem Weg zu räumen. Was aber nicht nötig wurde.
Sie starb 1979 in einem Altenheim in Rosenhausen. Auf ihrem Nachttisch stand ein Strauß atemberaubend roter Rosen, den ihr ihr sechsjähriger Urenkel Daniel geschenkt hatte. In seiner krakeligen Kinderschrift hatte er auf die beiliegende Karte geschrieben: „Für die liebe, liebe Uroma, die bestimmt in den Himmel kommt.“
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