Von Volkmar Klundt
Valerie holte tief Luft. Mit aller Kraft. So als wäre sie zu lange unter Wasser gewesen. Gleich würde ihre Brust platzen. Sie ersticken. Ertrinken. Wie tot hatte sie geschlafen. Wie ein Stein.
Nachdem sie sich verschwitzt voneinander gelöst hatten, flutete Chris sie mit seinen Gefühlen.
„Du musst mir glauben, ich liebe Dich, ich brauche Dich.“
Er hatte sich einen Moment an sie geklammert, als wollte er sie nie wieder loslassen.
„Wir trinken auf die Zukunft.“
Chris kam mit den Gläsern. Feierliches Anstoßen. Ein Kuss, ein Versprechen. Sie gähnte. Bin völlig fertig. Dann, so schnell wie ein Stein in den Brunnen fällt, überwältigt vom Schlaf, entglitt ihr das Glas und es bildete sich eine blasse Pfütze auf dem Teppich.
Die Oberfläche zerbarst mitten in ihrem Kopf in einem Scherbenregen. Das Licht des Vormittags legte harte Schnitte durch den Raum, zerrte klamme Decken, kalte Pizza, Tassen, Teller, Aschenbecher und Comichefte hervor, riss Valerie endgültig heraus ihrem Schlaf und sagte ihr, dass sie sich in seiner Bude befand. Dass es Chris war, der seinen Arm um ihre Körpermitte geschlungen hatte.
Er klammerte sich an sie wie an ein treibendes Wrackteil auf dem unendlichen Ozean, als müsste er abrutschen und ertrinken, wenn er den Griff nur für einen Moment lockerte.
Er hatte sich gedreht, sein Bein über sie geschlagen und sie dadurch geweckt. Jetzt pustete er ihr ins Ohr.
Valerie rutschte vorsichtig unter der Last hervor, richtete sich halb auf, blinzelte und kniff die Augen zusammen.
Chris hatte auf sie eingeredet: „Überleg es Dir. Ab ist ab.“
Dort drüben lagen jetzt, stumpf und fremd im Licht des angebrochenen Vormittags, die Schere und der Haufen ihrer abgemetzelten Haarpracht.
„Ich liebe Dich auch so.“
Ihre Hand tastete nach dem, was die Schere gestern Nacht verschont hatte.
Sie war nicht mehr in den Club gegangen. Sie kannte Chris seit einem halben Jahr und hatte es lange geplant. Vor einer Woche war sie abgetaucht und bei ihm untergekrochen. Sie hatte den Entzug, die Schmerzen, die reißende Leere, durchgemacht. Die Hölle, die sie in dieser Zeit durchlebt hatte, war eine Spur kühler als die, aus der sie geflohen war.
Jetzt war sie clean und erfüllt von der Erwartung. Das neue Leben. Dem würde sie sich mit der allerletzten Faser ihres Daseins widmen. Nie wieder.
Gestern hatte sie es ihm gesagt. Er hatte gestrahlt und gejubelt.
„Bist Du sicher?”
Sie verdrehte innerlich die Augen.
„Natürlich bin ich sicher.”
„Wie weit…bist du?”
Aber da war er voll drauf und in diesem Zustand traute er sich alles zu. Da schlugen die Wellen schäumend hoch. Er drehte mühelos das ganz große Rad. Leicht und easy. Die Welt aus den Angeln heben. Widerstände? Null Problemo. Der saure Geruch ihrer Zweifel hatte ihn beleidigt.
„Du hast es doch auch geschafft. Ich krieg das hin.“
Gekränkt hatte er seine Taschen nach außen gedreht, so dass neben dem zerknüllten Papiertaschentuch ein Haufen Krümel herausrieselte. Dazu hatte er treuherzig geguckt, so halbschräg, und gelächelt, denn er wusste, sie konnte diesem Blick nicht widerstehen.
„Guck, ich hab nichts mehr, total blank. Ich besorg auch nichts mehr. Ich bin für Euch da. Ich schwörs. Ich steh das durch.“
„14. Woche.“
„Wow, 14. Woche. Krass.“
Klar, Diona suchte nach ihr und wenn sie nicht verdammt aufpasste, war es nur eine Frage der Zeit, bis Ilex oder sonst einer von ihren Leuten sie in die Finger bekäme. Aber hier bei Chris war sie sicher. Zusammen hatten sie eine Zukunft. Er würde keine Drogen mehr anrühren. Ein neues Leben aufbauen! Wir werden das hinbekommen!
Wenn er schlief, war sein Gesicht ganz weich. Sie strich zärtlich eine Locke aus seiner Stirn. Schlaf noch. Der Entzug wird ihn schütteln. Todsicher. Sie wusste das. Er wird sich unter Krämpfen zusammenrollen und Kälte wird ihm durch den Körper kriechen. Dann ist es früh genug, um wach zu werden. Zusammen werden wir das durchstehen.
Sie würde ihn unterstützen, ihn wärmen und halten.
Einiges von dem Geld, das die Männer ihr für Sonderwünsche zusteckten, die gab es immer, diese besonderen Wünsche, hatte sie auf die Seite gebracht. Nicht das, was die Freier draußen ablieferten, bevor Ilex die Tür öffnete und sie auf Valeriana losließ. Sondern das, was sie extra verdiente, nachdem er ihr seine spezielle Spritzenbehandlung verpasst hatte und sie keine Zicken mehr veranstaltete.
„Siehst Du, Sinn nicht kreuz und quer, so ist viel besser.“
Sicher hatte er das bemerkt. Die Nebeneinkünfte waren wohl als Ansporn und Motivation gedacht. Leistungszulage. Denn so vorsichtig sie sich verhielt, in allen Zimmern waren Kameras.
„Ist Schutz für unsere Vali.“
Jeden einzelnen Schein hatte sie gebunkert. In ihrer pinkfarbenen Börse, die mit den Strasssteinen, die eines Morgens nach einer guten Mathearbeit neben ihrem Frühstücksteller gelegen hatte.
Wie hatte sie Mama Helia gelöchert, bis sie ihr diesen Wunsch erfüllte.
„Ich bin eine prima Partie, Chris, schau mal!“
Ihr Daumen blätterte raschelnd über die Ränder der Scheine.
„Wir nehmen den Zug und wenn am nächsten Morgen die Sonne aufgeht, kannst du schon das Meer zwischen den Hügeln glänzen sehen wie einen Silberteller.“
Mama Helia würde traurig sein, aber beide würden es verstehen. Vater sowieso. Schlimmer war es womöglich, dass Chris nicht aus der alten Heimat stammte. Valerie stand auf und schlurfte hinüber ins Bad. Nachdem sie geduscht hatte, fuhr sie energisch mit der Bürste durch ihre kurzen blonden Locken. Die neue Frisur war unglaublich. Die langen Haare hatten ihr nichts als Unglück gebracht. Sie pfiff vor sich hin. Die entzündeten Einstichstellen verblassten langsam, an einigen älteren löste sich bereits der Schorf.
Sie summte ein Lied.
Als Valerie aus dem Bad kam, saß Chris in Unterhose vor dem niedrigen Couchtisch, das Besteck lag bereit und er hielt einen Löffel über die Kerze.
Für einen Moment rückten die Wände zusammen. Verloren ihren rechten Winkel. Sie starrte auf Chris, den Tisch und das aufgeschlagene Bett wie durch ein umgedrehtes Fernglas.
„Chris…“
„Ganz geiles Zeug, komm, probier mal. Ist genug da. Das reicht mindestens für einen Monat. Vali, ein Monat Magie. Ohne Stress. Nur abhängen. Keine Sorgen.“
Sagte er zum Tisch.
„Chris…“
„CHRIS…“
Er drehte den Kopf in ihre Richtung und sah wässrig durch sie hindurch, als hätte er an der Wand hinter ihr ein neues Detail entdeckt.
„Mann, nur ein bisschen, ich hab das im Griff, wirst sehen.“
„Chris”, sie schrie ihn an: „Woher hast du das? Du warst blank. Du wolltest nichts mehr kaufen!“
Die Erkenntnis schlängelte schwarz und glänzend durchs Niedergras ihrer Gedanken.
„Du warst also noch mal weg! Wieso bin ich nicht aufgewacht? Was hast du mir gegeben?“
Er schniefte gereizt.
„Chris, Chris“, äffte er sie nach, „scheisse, du nervst. Lass mich einmal in Ruhe. Ich will meine Ruhe. Geht das nicht in deinen verdammten Schädel?“
Zitternd streifte sie sich rasch Jeans und Sweatshirt über und fing fahrig an, ihre verstreuten Sachen einzusammeln und in den Rucksack zu stopfen.
„Was soll das? Sie haben gesagt, sie wollen nur mit dir reden.“
Valeriana stopfte weiter Sachen in den Rucksack und klemmte ihr pinkes Portemonnaie, dessen Strasssteine vom Tisch herüber funkelten, in die Tasche ihrer Jeans. Das Geld war noch da.
„Was machst du? Bleib hier! Sie haben gesagt, du musst hier warten.“
Er hatte das Besteck zur Seite gelegt und kam durch das Zimmer zu ihr herüber.
„Warte verdammt“, er griff nach ihrem Oberarm.
Da wo sie aufgewachsen war, betrachtete man das als Kriegserklärung. Sie kam aus der Siedlung. Man wehrte sich, auch wenn es aussichtslos erschien. Wenn Valerie unterging, dann immer mit wehenden Fahnen, so dass sie es sich künftig zweimal überlegten. Sie schlug Chris mit der flachen Hand voll ins Gesicht, so dass sein Kopf zur Seite flog.
„Fass mich nicht an, du mieses Stück. Was ist mit dem Kind? Unserem Kind?“
Er hielt sich die Wange. Dann schoss er ansatzlos vor und packte in ihre Haare. Seine Augen glitzerten tückisch.
„Lass mich los.“
„Sei ruhig verdammt. Du bleibst jetzt hier und hältst die Klappe. Ilex wird bald da sein.“
Er drängte sie an die Wand und hielt ihr den Mund zu.
Sie zerkratzte sein Gesicht, zappelte herum, biss ihn in die Hand und drängelte sich frei.
„Hilfe!“
„Sei still verdammt!“
Er schlug ihr ins Gesicht, presste seine Hand auf ihren Mund und drückte sie mit aller Kraft nach hinten, so dass ihr Hinterkopf heftig gegen die Wand prallte.
Valerie riss ihr Knie hoch. Er klappte zusammen, wie vom Blitz gefällt. Sie griff ihren Rucksack. Chris krümmte sich, jammerte und hielt seinen Schritt.
„Vali, ich hab’s nicht so gemeint. Du musst verstehen…bleib doch da!“
Er stöhnte.
Valerie rannte an ihm vorbei. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und schlurfte betont langsam zurück.
Chris schöpfte Hoffnung. Er streckte ihr einen Arm entgegen, legte den Kopf schief und lächelte gequält.
„Es tut mir leid, komm, Frieden. Bitte bleib. Vali…“
„Scheisse, ICH.GEB.DIR.VALI…“
Bei jedem Wort traf ihn ein Tritt.
„Die brauch ich.“
Sie schnappte seine Basecap vom Garderobenhaken, stülpte sie über ihre blonden Haare, riss die Tür auf und stürzte die Treppe hinunter.
Chris hustete hinter ihr her.
Unten sprach jemand aus der Heimat. Tritte pochten in den Aufzug. Klappernd und quietschend schloss sich die Tür. Die Kabine rüttelte kurz und setzte sich summend in Bewegung.
Valeries Herz schlug hoch.
Sie umklammerte den Rucksack, wagte kaum zu atmen und schlich auf Zehenspitzen hinunter.
Hoffentlich ist niemand auf der Treppe, bittebittebitte.
Stimmen hallten durchs Treppenhaus. Jemand lachte. Eine Tür schlug zu und schnitt die Sätze ab.
Der Eingang schien frei zu sein. Sie durchquerte rasch die Halle. Vor dem Haus parkte ein dunkles SUV. Der Fahrer blätterte in einer Zeitung.
Valerie senkte den Kopf, so dass ihr der Schatten der Basecap ins Gesicht fiel und schlüpfte hinaus auf den Bürgersteig.
Bittebittebitte!
Sie wandte sich nach links, strebte schnellen Schrittes die Straße hinunter, mitten hinein ins Gewimmel, löste sich auf im Strom der Menschen und tauchte hinab zur U-Bahn.
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