Von Matthias Herrmann
Svenja war sich immer noch nicht sicher, ob es okay war, was sie hier tat. Sie hatte die letzten Tage auch länger darüber nachgedacht, Henrike, die Leiterin des Hospizdienstes, einzuweihen und zu fragen, ob sie Bettinas Wunsch erfüllen durfte, doch eine unbestimmte Scheu ließ sie zögern. Und dann war Wochenende und Henrike nicht im Büro, und dies ließ Svenja die Sache endlich selbst in die Hand nehmen. Sie wollte nicht bis Montag warten, sie war ja auch selbst zu neugierig, was sich hinter Bettinas Anliegen verbarg.
Wie üblich hatten Bettina, die Hospizpatientin, und Svenja, ihre Sterbebegleiterin, den ganzen Nachmittag durchgequatscht, um zum Abschluss noch gemeinsam die Abendschau zu gucken. Und dann war dieser Bericht gekommen, zur diesjährigen Berlinale und dem neuen Film über das Leben von Bob Dylan. Timothée Chalamet sollte den Musiker darstellen.
„Ist der nicht schön!“, hatte Svenja geschwärmt, als er auf dem Bildschirm auftauchte, während Bettina nur sagte: „Der echte sah interessanter aus.“ Dann hatten sie beide gelacht, und Svenja hatte Bettinas Hand gedrückt – vorsichtig, wegen der Kanüle. Und als sich Svenja dann verabschiedete, bekam sie von Bettina den Auftrag.
„Du, Svenja, kennst du eigentlich noch Schallplatten?“, hatte sie Bettina gefragt.
„Bitte, Bettina!“, hatte Svenja erwidert und die Augen verdreht.
„Entschuldigung. Und weißt du auch, was eine Single ist?“
Svenja hatte mit den Schultern gezuckt, den Kopf geschüttelt. Bettina hatte gelächelt. Ein bisschen triumphierend.
„Singles waren Schallplatten mit nur einem Lied auf jeder Seite“, hatte Bettina erklärt, während ihr Blick in die Ferne geschweift war und sie begonnen hatte, an den Resten ihrer Augenbrauen herumzuzupfen. Automatisch hatte Svenja Bettinas Hand heruntergenommen und sie mit sanftem Druck zurück auf die Bettdecke gelegt.
„Bist du nervös?“, hatte Svenja gefragt.
„Ich möchte dich um etwas bitten.“
„Okay!“, hatte Svenja geantwortet und sie angelächelt.
„Ich habe zu Hause eine Single. Eine Einzelpressung. Die gibt´s nur einmal. Mit einem Lied. In meinem Stereoschrank. Die möchte ich noch einmal hören!“
„Aber wie…?“, hatte Svenja gefragt und auf das Infusionsgerät neben Bettinas Bett gezeigt.
„Wie soll das funktionieren?“
„Das müsstest du für mich machen. Fürchte ich“, hatte Bettina gesagt und unter ihrem Kopfkissen ihr Schlüsselbund hervorgezogen. Dann hatte sie Svenja noch die Nummer der Straßenbahnlinie, den Namen der Haltestelle („Straße der Pariser Kommune“) und die Hausnummer („17“) notiert; bis die Nachtschwester gekommen war und sich die beiden voneinander verabschieden mussten.
Überschritt Bettinas Wunsch Svenjas Tätigkeitsbereich? Zunächst war sie sich sicher gewesen, dass sie Bettinas Anliegen unter irgendeinem Vorwand nicht erfüllen könnte. Doch als Bettina ihr den Schlüsselbund in die Hand gedrückt hatte, wusste sie, dass sie es ernst meinte, und ihr waren erste Zweifel gekommen.
Sie hatten einen ähnlichen Fall in der letzten Supervision besprochen. Ein ehrenamtlicher Hospizhelfer hatte einen Sterbenden ein halbes Jahr begleitet. Die beiden hatten sich so gut verstanden, dass der Patient das Testament geändert hatte. Zugunsten des Sterbebegleiters. Henrike, ihre Chefin, hatte betont, dass es den Helfern verboten war, so etwas anzunehmen, dass der Rahmen ihrer Tätigkeit eng gesteckt war. Alle hatten sie verständig genickt, aber Svenja hatte kurz überlegt, was sie machen würde, wenn ihr plötzlich eine Million angeboten werden würde. Würde sie der Leitung Bescheid sagen oder sich nach Bali absetzen?
Gut, zum Glück ging es Bettina nicht um Millionen, beruhigte sie sich selbst. Es ging auch nicht um ein teures Geschenk. Es ging nur um einen exotischen Gefallen.
„Du hast dann einen gut bei mir“, hatte Bettina zum Abschied erklärt, und ihre Augen hatten dabei geleuchtet. Und das war ihr Plan: Svenja sollte in der Wohnung die Single auflegen, dann Bettina anrufen und ihr das Lied per Handy vorspielen.
Auf Svenjas Einwurf: „Warum so kompliziert? Das gibt´s doch heute im Internet. Das können wir jetzt gleich hören!“ hatte Bettina geantwortet: „Nein, das Lied gibt es nicht im Internet. Das gibt´s nur einmal. Hatte ich doch schon gesagt!“
Bettinas Wohnung lag in einem Haus am Ende einer stillen Straße an der nördlichen Stadtgrenze. Das Kopfsteinpflaster ging hier in eine Sandpiste über, die in ein Labyrinth voller Kleingärten, Autoschrauberbuden und verlassener Ateliers führte. Svenja überkam ein Gefühl der Einsamkeit, als sie sich dem Haus mit der Nummer 17 näherte. Dem Haus, in dem Bettina seit 1973 wohnte. Oder sollte sie besser sagen, gewohnt hatte?
Als Svenja den Schlüssel zu Bettinas Wohnung umdrehte, sprang die Tür bereits nach einer halben Umdrehung auf. Offenbar hatte sie bei ihrem Auszug ins Hospiz nicht abgeschlossen. Hatte sie gehofft, wieder zurückzukehren?
Doch Svenja wusste bereits beim Aufschließen, dass etwas nicht stimmte. Denn das Aufschließgeräusch kam scharf und hart daher, so als beträte man gleich eine unmöblierte Wohnung. Und so war es dann auch: Sämtliche Räume waren komplett leergeräumt. Selbst in der Küche hatte man die Spüle und den Herd abmontiert, im Bad Wanne, Waschbecken und die Kloschüssel. Nur die verblichenen Tapeten klebten noch an den Wänden.
„Kann sie das vergessen haben? Dass sie ihre Wohnung schon hat entrümpeln lassen?“, fragte sie am Abend ihren Freund Benno. Sie hatten sich zum Kino verabredet, um den neuen Dylan-Film zu sehen.
„Keine Ahnung. Ich kenne die Frau nicht.“, antwortete Benno und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche.
„Ist das denn dein Problem?“
„Im Kopf ist sie eigentlich noch total frisch“, überlegte Svenja.
Benno zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht hat sie dich verarscht.“
Svenja überredete Benno am nächsten Morgen, noch einmal mit ihr zu Bettinas Haus zu fahren. Doch alles war wie bei ihrem ersten Besuch. Nur dass ihr Freund auf dem Fensterbrett in der Küche einen Stapel Flyer entdeckte: „Bei Anruf entrümpeln!“ stand dort und eine Telefonnummer.
„Das haben die hier vergessen. Wollten sie vielleicht in die Briefkästen schmeißen und haben es dann verpennt.“
Einen Anruf später wusste Svenja Bescheid. Ja, man hatte die Wohnung entrümpelt. Beauftragt vom Sohn der Dame. Ob sie davon wusste, keine Ahnung. Na klar. Die Sachen waren noch hier. Sollten demnächst sortiert werden.
Bettinas Habseligkeiten belegten ein Fach in einem riesigen Regal in einer riesigen Lagerhalle. „Das bleibt von einem übrig“, erklärte Benno und schüttelte den Kopf.
„Jetzt lass uns nicht sentimental werden“, unterbrach ihn Svenja. „Wir müssen die Single finden, Bettina anrufen und sie ihr endlich vorspielen. Das habe ich ihr versprochen. Das mit der Wohnung muss sie mit ihrem Sohn klären.“
Zum Glück hatten die Entrümpler die Sachen sauber vorsortiert. Hier die vielen Bücher, da die Musiknoten, drei Gitarren, eine verwarzte Trommel und dort die Stereoanlage mit einem Haufen Musikkassetten, CDs und zwei Obstkisten voller Schallplatten.
„Da muss sie irgendwo stecken!“, rief Svenja und blätterte die Platten durch wie übergroße Vokabelkärtchen in einem Karteikasten. Und endlich zwischen einer Simon & Garfunkel-Langspielplatte und dem weißen Ton-Steine-Scherben-Doppelalbum „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ zog Svenja einen großen Briefumschlag hervor. Darin: Eine Single!
„Du hast sie!“, rief Benno und klopfte seiner Freundin begeistert auf den Rücken.
Sie bauten dann Bettinas Anlage im Pausenraum der Entrümpler auf. Die hatten nichts dagegen, standen neugierig dabei. Während Svenja Bettinas Nummer im Hospiz wählte, legte Benno mit großer Geste die Single auf den Plattenteller und betätigte den Startschalter. Sogar die richtige Geschwindigkeit hatte er eingestellt. Man hörte ein Surren, ein Klicken, dann senkte sich der Tonarm auf das schwarze Plastik, fand die passende Rille. Es knisterte aus der Box, eine Gitarre erklang.
„Hallo. Wer spricht dort bitte?“, tönte es da gleichzeitig aus Svenjas Handy.
Aus der Box der Stereoanlage kam nun eine Art Sprechgesang. Rau. Gebrochen. Verkratzt.
„Ja, sag mal, ist das nicht…?“
„Ich drehe durch! Wie aus dem Film gestern! Nicht zu fassen!“
Und in gebrochenem Deutsch und mit Gitarrengeschrammel ging es weiter: „Erst mal sage ich dir danke, meine liebe Betty. Für die Tage zusammen. Hör mal. Das habe ich für dich aufgenommen. Dein Song.“
„Bist du es, Svenja?“, vernahm man nun eine Stimme aus dem Handy, als der Mann auf der Single zu singen begann. Und es war sofort klar, wer da sang. Svenja und Benno starrten sich mit aufgerissenen Augen an.
Da tönte es aus dem Handy: „Svenja, tut mir echt leid. Ich weiß, dass ihr euch sehr nah wart.“
„In the streets of Berlin, where the wind cuts through the walls,
I searched for your voice, but found only the echo of time that falls“, sang es aus der Box.
Und aus dem Handy: „Ja, letzte Nacht. Ging ganz schnell. War eine Erlösung. Für Bettina!“
8913 – v3