Von Ingo Pietsch

 

Das konnte doch nicht wahr sein!
Ich konnte diese blöde Kiste nicht finden.
Eine lose Sammlung von Erinnerungen: Fotos, Briefe, gemalte Bilder aus meiner Kindheit.
Einer meiner erwachsenen Söhne brauchte unbedingt  ein Foto von meiner Familie, als ich noch klein war. Keine Ahnung, was er damit vorhatte, aber er wollte mich und meinen Mann am Wochenende besuchen kommen. Vielleicht überraschte er uns  ja mit meiner zukünftigen Schwiegertochter in Spe, über die er kaum redete. Möglicherweise war es ja nichts Ernstes. Heutzutage war ja die Person, mit der man zusammenlebte, der „Lebensabschnittspartner“. Damit war halt alles geklärt.
Ich war mit meinem Mann jetzt fast vierzig Jahre verheiratet, auch wenn es nicht immer einfach gewesen war.
Ich schweifte in Gedanken ab und wünschte mir, mein Mann wäre in greifbarer Nähe gewesen, denn er war noch auf der Arbeit.
Er hatte sein eigenes Ordnungssystem, bei dem er zwar nicht immer wusste, wo etwas zu suchen war, doch konnte er genau eingrenzen, wo man nicht suchen sollte.
Nachdem die Jungs einer nach dem anderen ausgezogen waren, war es ruhig in der Wohnung geworden. Altbau, aber sehr gemütlich.
Den Haushalt schmiss ich nebenher, während ich halbtags im Supermarkt an der Kasse arbeitete. Ohne meine Söhne war es doch recht ruhig geworden und so hatte es seine Zeit gebraucht, sich daran zu gewöhnen.
Inzwischen saß ich auf dem Sofa im Wohnzimmer, blickte zum Fenster hinaus und schwelgte in Erinnerungen.
Das Sideboard hatte ich schon durchsucht und hielt jetzt das Babybuch von meinem Ältesten in der Hand und blätterte darin herum. Kleine Füßchen, Fingerabdrücke, die erste abgeschnittene Haarsträhne. Und ich konnte gar nicht glauben, dass es schon so lange her war.
Dann überkam mich ein kurzes Schaudern.
Ein Bild mit Mama und meiner Schwester Vera.
Mein Vater war kurz nach meiner Geburt gestorben, Mama schon fünftzehn Jahre tot.
Seitdem hatten wir kaum noch Kontakt zueinander gehabt, weil ich ihn abgebrochen hatte, so tief saß der Schmerz.
Die Erbschaftsangelegenheiten waren alle geregelt gewesen, aber die Perlenkette von Oma war plötzlich verschwunden. Klar war sie eine Menge Wert gewesen, aber darum war es mir überhaupt nicht gegangen. Es war mehr der ideelle Wert, der mich hatte so traurig werden lassen.
Immer wenn Oma mich auf dem Schoß sitzen lassen hatte, hatte ich mit dieser Kette gespielt. Ich erinnerte mich nach ihrem Tod kaum noch an ihr Gesicht, aber wenn ich die Kette hielt, war da dieses vertraute Gefühl von Geborgenheit.
Das Verschwinden der Kette hatte einen Keil zwischen uns getrieben, der sich nicht mehr hatte lösen können.
Vera hatte immer wieder beteuert, die Kette nicht an sich genommen zu haben oder sogar noch schlimmer, sie veräußert zu haben. Doch ich konnte mich damit einfach nicht abfinden.
Ich stand auf, ließ das Buch liegen, wo es war und ging zum Vorratsschrank im Flur. Dieser Schrank war meine Nemesis, mein Kryptonit. Alles, was sich nicht irgendwo anders unterbringen oder zuordnen ließ, landete früher oder später hinter diesen Türen. Und obwohl dieser Schrank die Schwachstelle in meiner Ordnungsliebe war, konnte ich ohne dieses Möbelstück einfach nicht leben.
Mit einem Seufzer öffnete ich vorsichtig beide Türen und war sichtlich erstaunt, wie aufgeräumt es da drinnen war. Meistens nahm ich nur eine Rolle Müllbeutel heraus ohne dem Rest weitere Beachtung zu schenken, aber die gesuchte Kiste war auch hier nicht zu finden.
Blieben nur noch das Schlafzimmer und der Keller.
Im Keller waren nur die Weihnachtssachen, Werkzeuge und unsere Fahrräder. Da konnte ich ruhigen Gewissens die Ausschlussmethode meines Mannes anwenden.
Tatsächlich fand ich die Kiste versteckt zwischen Bettlaken auf dem obersten Boden im Schlafzimmerschrank.
Die hölzerne Kiste stand jetzt auf meinem Schoß und wartete darauf, von mir geöffnet zu werden.
Mit gemischten Gefühlen, vor allem Angst, öffnete ich den Deckel. In meinen Gedanken hörte ich ein Zischen, als sie seit Menschengedenken versiegelt gewesen. Aber das war natürlich nicht der Fall.
Mein Blick fiel auf Fotos, Alben, Dokumente und mehrere USB-Sticks, auf denen digitalisierte Unterlagen gespeichert waren. Mit meiner Lesebrille auf der Nase blätterte ich einige Bilder durch, zog ein Album heraus und stellte die Kiste neben mir aufs Bett.
Mein Sohn wollte ja unbedingt ein Foto aus meiner Kindheit. Meine Gefühle sprangen von Freude zu Trauer, als ich alles durchsah. Vieles war schon vergessen gewesen und kam jetzt wieder in mir hoch.
Bilder mit meiner Schwester oder eben mit meiner Oma, wie ich an der Kette spielte.
In meine Gedanken vertieft, bemerkte ich nicht, wie die Kiste neben mir auf den Boden fiel. Mit einem dumpfen Geräusch landete sie auf dem Teppich und blieb auf der Seite stehen.
Ich griff danach, um sie wieder hochzuziehen und kippte dabei den gesamten Inhalt vor mich auf den Boden.
Ich atmete einmal tief durch, wegen der ganzen Arbeit, den Schlamassel wieder einzuräumen und kniete mich dann hin, um alles mit den Händen zusammenzuschieben. Ich kippte die Kiste mit dem Ellenbogen um, damit ich das Sammelsurium in meinen Händen wieder hineinbefördern konnte. Dabei fiel mir auf, dass der Boden irgendwie schief aussah. Ich ließ alles wieder fallen und entdeckte, dass es ein doppelter Boden war. Die Kiste hatte einmal meiner Oma und dann meiner Mutter gehört. Ich schüttete den ganzen Inhalt neben die anderen Dinge und betrachtete eins nach dem anderen mit großen Augen. Es gab alte Ausweise, ein paar Münzen und die Eheringe meiner Großeltern. Und darunter lag die Perlenkette. Leicht vergilbt, aber sie war es.
Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus.
Wie lange hatte ich meine Schwester zu Unrecht beschuldigt? Zehn Jahre? Fast Fünfzehn!
Jetzt wirbelte sich das Gefühlsbad wieder durcheinander: Freude, Trauer, Wut, Scham.
Ich musste zu Vera und mich entschuldigen! Jetzt sofort.
Ich malte mir aus, wie sie die Tür wieder vor meiner Nase zuschlagen würden. Oder wie wir uns in die Arme fielen und alles vergessen.
Ich stopfte die Kette in meine Schürze und griff nach meiner Jacke, als in dem Moment die Haustür aufging und Jannis mit seiner Freundin hereinkam. „Jannis!“, rief ich voll Freude. „Ich habe die Perlenkette gefunden! Es war alles nur ein tragisches Missverständnis gewesen! Ich muss jetzt gleich zu Vera.“
Ich wollte an den beiden vorbeistürmen, aber sie stellten sich mir in den Weg.
„Mama, das geht nicht“, sagte meine Noch-nicht-Schwiegertochter.
Da fiel es mir wieder ein: „Ja, du hast Recht, Papa kommt gleich von der Arbeit, dann können wir es ihm zuerst erzählen.“
„Mama, komm mal mit in die Küche“, meinte mein Sohn noch eindringlicher.
Ich verstand nicht, was die beiden von mir wollten. Und außerdem, warum nannte mich die junge Frau, die ich gar nicht kannte „Mama“? Hier stimmte doch irgendetwas nicht.
Wir setzten uns zusammen in die Küche.
Die beiden schauten mich traurig an, während ich die Perlenkette durch meine Finger gleiten ließ.
„Warten wir jetzt auf Papa?“, wollte ich wissen. „Willst du mir deine Freundin nicht vorstellen?“
Die Frau nahm meine Hände in ihre und sah mich mit nassen Augen an: „Mama, wir sind seit zehn Jahren verheiratet!“
„Warum habt ihr das verheimlicht? Weiß Papa davon? Egal, ich muss zu Vera.“ Ich sprang auf.
Mein Sohn schüttelte den Kopf. Und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr fünfzig war und dass Papa und Vera nicht mehr da waren.
Der Boden begann unter meinen Füßen einzubrechen, alles drehte sich. Ich wusste nicht, ob ich alleine sein wollte oder was auch immer.
Meine Kinder lasen aus meinen verändernden Gesichtsausdrücken, dass  ich mir selbst in nichts sicher war und nahmen mich nacheinander in den Arm.
„Ich koche uns jetzt erst einmal einen Kaffee und dann erzählen wir dir, was du verpasst hast …“, sagte meine Schwiegertochter mit zitternder Stimme.

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