Von Gerd Henze 

Ronald knipste das Licht an. „Scheiße, was ist das?“ Er stolperte zurück und stieß gegen seinen Bruder Kevin. Blassgraue Pupillen hinter einer weißen Totenmaske mit schwarz umrandeten Augenlöchern starrten ihn von der Wand des Flures aus an.
„Wie krank ist das denn?“
„Los! Mach schon!“ Kevin schubste ihn vorwärts.
Im Wohnzimmer zogen sie die Rollläden hoch.
„What the fuck!“
Wenn der Teufel mal eine Ferienwohnung suchen sollte, fand er sie hier. Gerade noch rechtzeitig zuckte Ronald den Fuß zur Seite und setzte ihn behutsam außerhalb des Pentagramms ab, das mit blutroter Farbe auf den Boden gezeichnet war. Auf dem Regal drängelten sich Weckgläser, darin eingelegt Schlangen, Salamander, Kröten und Organe, von denen er hoffte, dass sie tierischen Ursprungs waren. Dazwischen grob zusammengenähte Stoffpuppen mit Knöpfen als Augen. An den Wänden hingen ausgefleischte Schädel von Hunden und Katzen.
„Krass! Glaubst du, sie hat Onkel Helmut verhext?“
„Mir war diese Herta von Anfang an nicht geheuer.“
„Hier, die karierte Puppe! Ist das nicht der Stoff von seinem Anzug?“
„Wo ist sie zuletzt gewesen? Auf Haiti?“
„Und vorher in Benin. Mach hin! Ich will so schnell wie möglich hier raus.“
Ronald wühlte sich durch die Schubladen der Anrichte. Lebensversicherung, vorzeitig gekündigt, Sparbücher, leergeräumt, Girokonto gerade mal mit dreitausend Euro bestückt, von denen noch Hertas Überführung bezahlt werden musste.
„Nichts! Jede Menge Bücher über Okkultismus und Voodoo, das war’s!“ Kevin steckte bis zur Hüfte im untersten Fach des Wohnzimmerschranks. „Wenn uns der Bestatter keinen guten Preis macht, legen wir noch drauf. Warum ist die blöde Kuh nicht einfach über Bord gegangen? Dann hätten die Haie sie entsorgt.“
Ronald wollte die Schublade schon zuschieben, da fand er das Zertifikat eines Juweliers und pfiff leise durch die Zähne. Eine halbe Million Euro! Er linste zu seinem Bruder rüber, der aus dem Schrank kroch und den Rücken streckte.
„Was gefunden?“
„Hier ist auch nichts“, log Ronald. „Tausend Mäuse für die Möbel und den anderen Kram, mehr ist nicht zu holen.“
„Diese Erbschleicherin! Zockt den Onkel ab, macht sich aus dem Staub und haut alles auf den Kopf. Muss man mit siebzig noch auf Weltreise gehen?“
„Alles vom Feinsten. Business-Class im Flugzeug, Komfort-Suite auf dem Schiff, 5-Sterne Ressort im Tauchparadies. Das Luder hat nichts ausgelassen.“
„Trotzdem kann sie nicht alles ausgegeben haben“, schüttelte Kevin den Kopf. „Helmut hat sein ganzes Leben lang gearbeitet und sich nichts gegönnt.“
„Ja, und dann kam Herta. Sag mal, die Ohrringe, die sie immer getragen hat …“
„Dieser lächerliche Kristallschmuck im Maya-Design?“
„Genau. Weiß du, wo die sind?“
„Keine Ahnung.“ Kevin zog die Augenbraue hoch. „Die haben sie ihr wohl als Grabbeigabe mit auf den Weg gegeben. Vielleicht sind die ja auch verhext.“
„Hast du dir Herta vor der Beerdigung noch mal angesehen?“
„Wozu das?“ Kevin senkte das Kinn und schaute ihn schief an. „Die Alte war lebendig schon hässlich genug.“

Ronald wartete bis Mitternacht, dann kletterte er über die Mauer. Auf einem Friedhof ruhten nicht nur ehrbare Leute, sondern auch hundsgemeine Mörder, Steuerhinterzieher und sadistische Väter, die ihre Frauen und Kinder bis aufs Blut geprügelt hatten. Was, wenn die sich nachts aus ihren Gräbern buddelten? Das Grauen dieses unheiligen Ortes kroch ihm unter die Haut. Die Dunkelheit verwandelte die Äste einer knorrigen Eiche in Fangarme und eine weiße Calla, liebevoll bei Tag eingepflanzt, entpuppte sich vielleicht als bleiche Hand … „Verflucht!“ So wie die da vorn, die sich aus Hertas Grab zurück ins Reich der Lebenden reckte. Ronald sprang neben eine Linde und hielt den Atem an. Kratzen, Schaben, Erde flog auf und landete auf einem Haufen. Er schlich sich heran und duckte sich hinter einen Grabstein. Unten im Grab Ächzen und Stöhnen. Quiek, quiek, die Sargschrauben quietschten, als sie herausgedreht wurden. Holz wurde gerückt.
„Mann, ist das schwer! Au, Scheiße!“ Ein Lichtschein aus dem Loch verschwamm mit der Schwärze der Nacht. Unflätige Flüche, dann krallten sich zwei Hände in der Erde fest, ein Ellbogen wurde aufgestützt, jetzt ein Bein und zum Schluss stemmte sich der Rest des Körpers aus dem Grab.
„Verdammt! Hast du mich erschreckt!“, fluchte Kevin.
„Und? Wo sind die Ohrringe?“
„War doch klar, dass die Dinger wertvoll sind, als du danach gefragt hast. Wolltest mich wohl ausbooten?“ Kevin nickte zur Schaufel, die Ronald mitgebracht hatte. „Sie sind nicht da. Die Schinderei war umsonst.“ Er klopfte sich den Lehm von der Kleidung. „Was machen wir jetzt?“
„Das Loch wieder zuschütten.“
Kevin leuchtete in den Sarg. „Sieh dir das Luder doch mal an! Richtig unheimlich. Als würde sie uns auslachen. Sie riecht nicht einmal.“ Er bückte sich nach der Schaufel.
„Vielleicht hat der Bestatter sie mumifiziert.“
„Drecksstück!“ Kevin spuckte ins Grab und schippte die Erde hinterher.

Selbst die Sonne entlarvte nicht einen einzigen Putzstreifen auf dem Sicherheitsglas des Schaufensters. Ronald sah sich die Brillantringe und teuren Uhren dahinter an.
„Wundervolle Stücke.“
Er blickte auf und zuckte zusammen. Neben ihm spiegelte sich Hertas Gesicht in der Scheibe. Ronald sprang zur Seite.
„Entschuldigen Sie bitte! Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Er schaute in das Gesicht einer jungen Brünetten mit Nasenpiercing, die ihn verlegen anlächelte, und entspannte sich. Die Frau nickte und spazierte weiter. Dann ging die Tür des Ladens auf und Kevin kam heraus.
„Na? Willst du dir eine Brosche kaufen?“
„Ich, äh …“, stotterte Kevin.
„Verdammter Lügner! Sie waren also doch im Sarg? Was zahlt der Juwelier?“
Kevin nestelte Hertas Ohrringe aus der Jackentasche. „Zweihundert. Hier, du kannst sie gern haben.“
Ronald hielt die Schmuckstücke gegen das Licht.
„Sind bloß Imitate. Die Alte hat uns reingelegt.“
Ronald dachte nach. „Oder aber der Bestatter.“

Der untersetzte Mann im schwarzen Anzug wischte mit einem weißen Tuch über einen edlen Mahagoni-Sarg und musterte sie würdevoll, was ihm trotz der roten Pausbacken erstaunlich gut gelang.
„Wo sind die echten?“ Ronald hielt die Ohrringe hoch.
Der Bestatter riss die Augen auf. „Was habt ihr getan?“ Bleich wie die Totenhemden im Regal wandte er den Blick ab.
„Verkauf mich nicht für blöd! Du und Onkel Helmut, ihr wart die besten Freunde.“
Ronald tat einen weiteren Schritt auf den Mann zu. Der wich zurück.
„Herta hat sie anfertigen lassen“, stammelte er. „Das Salz der Tränen, die sie um ihren Helmut geweint hat, ist in die Glaskristalle eingeschlossen.“
„Wie romantisch!“
„Sie wird nicht eher ruhen, bis sie die Ohrringe wieder hat.“
„Ich mache mir gleich in die Hose. Wo sind die echten mit den Diamanten? Raus mit der Sprache!“ Ronald rieb ihm das Zertifikat des Juweliers unter die Nase.
„Die müssen in seinem Bankschließfach liegen. Herta hat sie nie getragen.“
Ronald drehte den Kopf, doch Kevin zuckte nur mit der Schulter.
„Ich weiß nichts von einem Schließfach. Bei welcher Bank?“
„Bei der Hide and Seek.“
„Und der Schlüssel?“
„Den hat euer Onkel immer bei sich gehabt. Aber da er nun verschollen und für tot erklärt ist …“ Der Bestatter hob die Achseln und ließ sie gleich wieder sacken. „Wenn der Schlüssel nicht mit in der Erbmasse war, ist der da, wo immer Helmut jetzt auch sein mag.“
Nein, der blöde Schlüssel war nicht Teil der Erbmasse gewesen. Lächerliche fünftausend Euro hatten Ronald und Kevin damals bekommen. Ronald dazu noch die Parzelle im Schrebergarten und Kevin den alten Mercedes Diesel. Der Rest ging an Herta und die hatte sich gleich nach der Vollstreckung mit der Kohle aus dem Staub gemacht. Wenn überhaupt noch was von Helmut zu holen war, dann in dem beschissenen Schließfach.

Kevin zog die dornigen Zweige beiseite und öffnete das verrostete Eisengitter am Eingang des Bergstollens. Sie schalteten die Taschenlampen ein und folgten den Schienen ins Innere. An einem Abzweig wartete eine Kipplore schon seit Jahrzehnten darauf, dass die Zwerge von Erebor sie mit Abraum beluden.
„Rechts.“
Einst wurde hier Silber aus dem Berg gegraben.
„Da vorn ist es.“ Kevin leuchtete in eine Felsnische, doch da war nur nackter Stein. Ronald hörte leises Rascheln über sich. Er legte den Kopf in den Nacken. Die Decke waberte. Ein Schwarm Fledermäuse löste sich und flatterte an ihren Nasen vorbei in einen anderen Schacht.
Ronald wirbelte herum. „Hast du das auch gesehen?“
„Was?“ Kevin leuchtete dem Finger seines Bruders hinterher.
„Die Frau im langen, weißen Hemd. Ich glaube, das war Herta.“
„Du spinnst doch!“ Kevin zog ihn am Ärmel hinter sich her. „Hier, versuchen wir es links!“
Plötzlich blieb Kevin stehen. Ronald hielt den Atem an. Am Ende des Lichtstrahls saß Herta auf einem Fels und umarmte ihren Helmut. Sie küsste seine verwesenden Lippen. Die Steine auf ihren Ohrringen glitzerten im Lichtschein. Ronald riss seinen Bruder an der Schulter herum und sie rannten los. Am Höhleneingang schaute er noch einmal zurück. Nein, zum Glück folgte Herta ihnen nicht. Sie stützten sich am Eisengitter ab und schnauften tief durch. Plötzlich schnappten von der Seite her kräftige Hände nach ihren Armen und bogen sie auf den Rücken. Handschellen klickten. Weitere Polizisten traten hinter den Bäumen hervor, in ihrer Mitte der Juwelier und der Bestatter. Ein Mann in Lederjacke drückte ihnen die Hand.
„Ihr Plan ist aufgegangen. Ohne dieses Theater hätten wir die Brüder nie überführt.“

V2