Von Ursula Kollasch
„Ich verstehe. Und wie waren die letzten Tage?“, fragte Dr. Jacob und als Frau Koll zu reden begann, ließ er seinen Blick über den Schreibtisch wandern, auf der Suche nach der Patientenakte. Unauffällig schob er einige Papiere mit Notizen sowie einen Teller zur Seite, konnte die Mappe darunter aber auch nicht entdecken.
Warum hatte die Schwester ihm die nicht hingelegt?
Er unterdrückte einen Laut des Unmuts, schaffte es auch, seinen geduldigen Gesichtsausdruck beizubehalten. Nun, jemand würde sie wohl gleich bringen, obwohl die Sitzung bereits begonnen hatte. Bis dahin musste er sich aus seiner Erinnerung behelfen.
Weil ihn die Sache mit der fehlenden Akte aufregte, hatte er der Patientin nicht wirklich zugehört, was ihn noch mehr verärgerte. Um sich zu fokussieren, musterte er die vor ihm im Sessel sitzende Frau, deren Gesicht blass und von Erschöpfung gezeichnet war. Der Körper in dem Sommerkleid sah auf ungesunde Weise abgemagert aus. Unpassend, ja, etwas befremdlich war der grelle Lidschatten, den sie trug. Dadurch erinnerten ihre Augen den Doktor an die gestrichenen Fensterläden eines Spukhauses.
Ihre Stimme flatterte, ihre Hände glichen nervösen Vögeln, nestelten am Kleid, am Haar, ehe sie die Finger vor dem Bauch verschränkte und knetete.
Dabei sprach sie sehr leise, ohne Zusammenhang, verlor dann den Faden und verstummte.
Dr. Jacob war zufrieden, obwohl Frau Koll nichts Bedeutsames mitgeteilt hatte. Denn sie zeigte gerade einen ungewöhnlich ausgeprägten Redefluss, was einen Fortschritt darstellte.
In den vergangenen Sitzungen hatte sie nur einsilbig geantwortet oder stumm, fast teilnahmslos vor ihm gesessen, Leere und Verlorenheit ausgestrahlt.
Eva Koll war vor knapp vier Wochen aus einem fast fünfmonatigen Koma erwacht und befand sich nun auf dem beschwerlichen Weg der Genesung, wobei die körperliche Gesundung besser voranschritt als die psychische. Der Doktor wollte gerade zum Telefon greifen, um eine Schwester auf die benötigte Akte anzusprechen, da ging eine Veränderung mit seiner Patientin vor. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, die ganze Haltung straffte sich, die Hände ruhten nun entspannt im Schoß.
„Ich muss heute um zwölf Uhr zu Hause sein“, sagte Frau Koll wesentlich lebendiger. „Sina kommt eher aus der Schule und wir wollen dann Nick aus der KiTa abholen. Und nach dem Essen backen wir gemeinsam einen Kuchen für Stefan.“ Raunend, als wollte sie ihn in ein Geheimnis einweihen, fügte sie hinzu: „Einen Zupfkuchen, den liebt er.“
„Ihr Mann“, entgegnete der Doktor, mehr feststellend als fragend.
Eva nickte. „Er hat heute Geburtstag.“
„Und wie sehen Ihre weiteren Pläne für den Tag aus?“, erkundigte sich der Arzt im Plauderton.
„Wir holen Stefan am frühen Nachmittag gemeinsam von der Arbeit ab und essen den Kuchen. Danach gehen wir ins Freibad, das haben sich die Kinder gewünscht und das Wetter spielt mit.“ Eva war die freudige Erwartung anzusehen.
„Das ist schön. Die Kinder dürfen sich zum Geburtstag des Vaters etwas wünschen?“, warf Dr. Jacob ein, um die Unterhaltung am Laufen zu halten.
„Das ist bei uns so Tradition“, bestätigte sie und fügte mit besorgtem Unterton hinzu: „Naja, das Freibad hätte ich nicht gewählt. Ich wäre lieber ins Kino gegangen. Ich habe in letzter Zeit einige Kilos zugenommen und weiß gar nicht, ob mir mein Badeanzug noch passt.“
Sie schaute an ihrem Oberkörper herunter, das Kleid war ihr eindeutig zwei Nummern zu groß, im Ausschnitt stachen die Schlüsselbeine und die obersten Rippen deutlich hervor. Offensichtlich hatte dieses Kleid vor einiger Zeit einem viel weiblicher gerundeten Leib gepasst. Sie zupfte am Kragen und zog plötzlich die Stirn kraus, als wäre sie auf ein unvorhergesehenes Rätsel gestoßen. Dr. Jacob wollte verhindern, dass Eva sich durch diese aufkommende Verwirrung wieder in sich selbst verlor. Er hatte das Gefühl, dass er heute mit seiner Patientin Fortschritte machen, vielleicht sogar einen Durchbruch erzielen könnte.
Aber dafür, Himmel Herrgott, brauchte er seine Notizen, die Befunde und fachlichen Aufzeichnungen über die Behandlung und Medikation im Krankenhaus! So konnte er nicht arbeiten.
Er suchte Evas Blick. „So, ein Freibadbesuch ist also geplant?“
„Ja, als Juli-Geborener hat mein Mann meist Glück mit dem Wetter, deshalb wollen wir abends auch noch mit den Nachbarn und Freunden grillen.“ Eva wirkte wieder gelöster.
Doch sie fröstelte und rieb sich über die unbedeckten Arme.
„Der Juli ist bekanntlich der Monat mit den meisten Sonnenstunden im Jahr“, konstatierte der Doktor, stand auf und ging Richtung Fenster. Dort legte er eine Hand auf die Heizung und drehte mit der anderen das Thermostat ein wenig höher. Dabei schaute er nachdenklich auf die weiße, gefrorene Szenerie draußen. Es begann gerade wieder zu schneien. Auch Eva wandte sich nun dem Fenster zu und ein Schatten huschte über ihr Gesicht, ihre Miene zeigte deutlich Irritation. Rasch wandte sie sich ab, schüttelte den Kopf zwei Mal, fast unmerklich. Eine ihrer Hände wedelte dabei durch die Luft, als wollte sie ein lästiges Insekt vertreiben.
Dr. Jacob kehrte zu seinem Sessel zurück und nahm Platz. Er musste seine Patientin ablenken.
„Erzählen Sie mir etwas von Ihren Kindern“, forderte er Eva auf, um sie wieder in sichere emotionale Gefilde zu bringen. Sie folgte seiner Anweisung, und er starrte zur Tür und fragte sich, warum die Akte immer noch nicht gebracht worden war. Hatten die Schwestern sie verlegt? Das wäre die Höhe!
Erneut musste er sich auf den Bericht seiner Patientin konzentrieren, sie redete gerade von den guten Schulleistungen ihrer Tochter. In seiner jahrzehntelangen Karriere als Psychiater hatte er etliche Patienten behandelt, die sich aufgrund traumatischer Erlebnisse in eine Scheinwelt geflüchtet hatten. Doch Eva Koll schien ein schwieriger Fall zu sein.
Unbeirrt beging sie seit ihrem Erwachen aus dem Koma jeden Tag in der Klinik als den Geburtstag ihres Mannes Ende Juli, der für ihre Familie in diesem Jahr zum grausamen Schicksalsdatum geworden war. Auf dem Weg vom Schwimmbad nach Hause war ein entgegenkommendes Auto aus unerfindlichen Gründen auf ihre Fahrbahnseite abgekommen und hatte sie scharf gerammt. Der Versuch eines Ausweichmanövers endete darin, dass Stefan Koll den Wagen gegen die Leitplanke lenkte, dieser sie durchbrach und mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum krachte. Vater und Tochter waren sofort tot, der Sohn starb kurz darauf während einer Not-OP im Krankenhaus.
Das Leben der schwerverletzten Mutter hing lange am seidenen Faden, der Unfallverursacher hingegen kam mit leichten Verletzungen davon.
Dr. Jacobs Gedankengänge wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Direkt darauf öffnete sich diese und Schwester Pia trat ein. Na endlich, die Akte.
„Herr Doktor, würden Sie…“
Als er sah, dass die junge Frau nichts in Händen hielt, fiel er ihr rot vor Wut ins Wort: „Was ist los mit Ihnen? Bringen Sie endlich die Akte von Frau Koll! Sie wissen doch, dass ich ansonsten während einer Sitzung nicht gestört werden will!“
Die Schwester zog sich nach diesem Tadel rasch zurück und der Doktor schalt sich.
Herrje, was war in ihn gefahren! Hoffentlich hatte sein Ausbruch Frau Koll nicht erschreckt.
Zu einer Entschuldigung ansetzend wandte er sich seiner Patientin zu.
Doch die Worte gefroren in seinem Hirn. Er starrte auf den leeren Sitz, schaute sich um.
Oh, sie war bestimmt aus dem Raum geflüchtet. Jacob eilte zur Tür, steckte den Kopf auf den Flur, konnte seine Patientin aber nicht entdecken.
„Sehen Sie nach, wo Eva Koll ist, und führen Sie sie wieder her“, wies er eine entgegenkommende Schwester an, trat zurück und lehnte sich an die Wand, griff sich an die Schläfen. Versuchte, das dumpfe Pochen weg zu massieren, das Kopfweh ankündigte. Vergebens. Monströse Schmerzen streckten nun ihre Fühler nach ihm aus und krochen ihm über den Nacken bis hinauf zur Stirn, wo sie so stark werden würden, dass selbst seine Augen weh taten. Das wusste er aus Erfahrung.
Er blinzelte. Atmete scharf ein, als eine Abfolge verstörender Bilder in seinem Geist aufblitzte.
Wie er die Kontrolle über seinen Mercedes verlor … das vollbesetzte Auto rammte … so viel Blut … die Kinder! … gebrochene Augen …
Die Angst rann ihm wie elektrischer Strom das Rückgrat entlang, sein Herz sprang in seiner Brust auf und ab, als wolle es davonlaufen.
Nein, nein!, flüsterte er. Reiß dich zusammen! Frau Koll ist aus dem Koma erwacht, sie braucht deine Hilfe!
Ein Stöhnen entwich seiner trockenen Kehle. Er schluckte. Jeden Augenblick konnte seine Patientin zurückkehren. Keinesfalls durfte er sich der Panikattacke hingeben, er musste funktionieren, sich erden, darum rief er in Richtung Tür: „Bringen Sie endlich die Akte!“, wobei er die Verzweiflung in seiner Stimme nicht unterdrücken konnte.
Dann eilte er zum Fenster und riss es auf. Die eisige Winterluft fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht, er rang nach Atem.
Seine Beine zitterten, waren mit einem Mal so schwach, als hätten sie keine Knochen mehr.
In dem Moment verschwand der Boden unter seinen Füßen. Er verlor den Anker, war ein
kleines Boot im tosenden Ozean. Taumelnd krallte er seine Finger in den Vorhang, klammerte sich wie ein Ertrinkender daran fest. Die Gardinenstange brach aus der Wand und polterte zu Boden, ehe ihn die orientierungslose Dunkelheit verschlang.
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