Von Barbara Hennermann
Wer kennt sie nicht, die Geschichte von der Prinzessin, die ihren goldenen Ball beim Spiel am Brunnen verlor? Und der ein wohl gesonnener, aber beileibe nicht uneigennütziger Frosch aus dem Teich zu Hilfe kam?
Die kleine Agnes konnte diese Geschichte nicht oft genug hören. Und wenn ihr Papa sie lächelnd „Froschprinzessin“ nannte, hüllten sie Geborgenheit und Wärme ein.
…
Agnes hatte die Fünfzig nun schon ein Weilchen überschritten.
In den Nächten, in denen ihr die immer noch auftretenden Hitzewallungen den Schlaf raubten und das Leben vermiesten, kreisten ihre Gedanken um das „Was wäre, wenn“. Und häufig genug schlich sich die Frage ein, ob nicht, wenn schon kein Prinz, so doch wenigstens ein Frosch neben ihr im Bett ein angenehmer Platzhalter wäre …
Wenn dann mit dem Morgengrauen die grauen Gedanken verflogen, musste sie über sich selbst lachen. „Was bist du doch für eine Urschel“, schalt sie sich selbst. „Schau dich um, wie sich die wach geküssten Prinzen im wirklichen Leben verhalten … Ba!“ Denn als freie Beobachterin verfolgte sie die gebundenen Lebenswege im Freundes-, Bekannten – und Kollegenkreis aufmerksam mit und kam bei klarem Verstand immer zum gleichen Ergebnis – sie lebte ihr Singledasein wesentlich eigenständiger und selbstbestimmter als die allermeisten Paarverbundenen!
Zudem war schwer vorstellbar, dass an den Tagen nach durchschwitzten Nächten ein liebevoller Eheprinz mit sanfter Stimme einen „guten Morgen“ wünschte und ein aufmunterndes Heißgetränk ans Bett brachte …
Heute hätte sie das gut gebrauchen können.
Die Nacht war ein einziges Chaos gewesen und sie war im Morgengrauen noch einmal in einen kurzen Schlaf gefallen. Nun war sie zu spät dran, der Kaffee musste ausfallen und sie eilte völlig verpeilt ins Büro.
„Ausgerechnet“, schimpfte sie vor sich hin, „wo doch heute der neue Chef vorgestellt werden soll.“
Sie wirbelte durch die Drehtüre des Verlagsgebäudes, in dem sie arbeitete, und rannte einem Herrn in den Rücken, der offenbar ähnlich eilig wie sie ins Gebäude gelangen wollte.
Sie klopfte ihm kurz auf den Rücken und entschuldigte sich.
„Es gibt Schlimmeres“, lachte er sie an und drückte den Rücken durch.
„Na dann“, lachte Agnes zurück und spurtete zum Lift.
Der Herr quetschte sich im letzten Augenblick zu ihr in die Kabine.
Verfolgte er sie etwa?
„Sieht so aus, als hätten wir das gleiche Ziel“, meinte er locker.
Dann sah er ihr direkt ins Gesicht und runzelte die Stirn.
„Agnes? Agnes Frei?“ Die Frage kam zögernd.
Agnes erwiderte seinen Blick.
Erinnerung bahnte sich einen Weg aus dem Unbewussten.
„Hans-Jürgen?“ Auch ihre Stimme klang unsicher.
Spontan nahm er sie in den Arm.
„Na, das ist ja mal eine Überraschung! Jetzt müssen wir wohl erst das Berufliche abwickeln. Aber danach müssen wir uns unbedingt treffen!“
Im Konferenzraum setzte sich Agnes weit weg vom Podium.
Das Berufliche interessierte sie im Augenblick absolut nicht. Das würde sie schon noch alles zur rechten Zeit mitbekommen. Jetzt brauchte sie Zeit für ihre Erinnerungen.
Hans-Jürgen. Wie lange war das her?
***
Sechzehn war sie damals und er achtzehn.
Zum ersten Mal begegneten sie sich im Freibad.
Er war mit einer Gruppe Jungs unterwegs. Einer aus der Gruppe stieß sie ins Wasser, wohl nicht mal absichtlich. Aber Hans-Jürgen hechtete hinter ihr her und fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Agnes war überrascht, denn bei ihren Altersgenossen war so ein Verhalten eher unüblich.
Sie saßen dann zusammen am Beckenrand und ließen sich von der Sonne trocknen. Die Verabredung für den nächsten Nachmittag ergab sich ganz selbstverständlich.
Es wurde ein heißer Sommer und der tägliche Treff im Schwimmbad zur Normalität. Agnes hatte bis dato keine Jungs in ihrem Freundeskreis gehabt und die Freundinnen fanden, dass das nun wirklich höchste Zeit gewesen sei. Es ging auch nicht um Freunde im Allgemeinen, sondern um DEN einen … Tatsächlich spürte Agnes auch eine immer größere Nähe zu Hans-Jürgen, denn sie bald liebevoll „Hanni“ nannte.
Sein erster Kuss, der ihr erster überhaupt war, löste einen Überschwang von Gefühlen in ihr aus, die sie erst einmal einordnen musste.
Anders als Agnes, die sich noch durch die Schule quälte, befand sich Hanni bereits in der Ausbildung zum Buchhändler und nannte sogar einen putzigen Kleinstwagen sein eigen.
Bald beschränkten sich ihre Treffen nicht mehr aufs Schwimmbad, sondern Agnes konnte ihrer besorgten und, wie sie fand, sehr altmodischen Mutter auch abendliche Ausgänge abschwatzen. In der abgedunkelten Disco verschmolzen sie auf der Tanzfläche zu einer bisher nicht erlebten Gemeinsamkeit. Es war ein Abtauchen ähnlich dem im Wasserbecken des Schwimmbades, schwerelos und abgrundtief.
Hanni ließ ihr Zeit. Er bedrängte sie nicht.
Als er ihr den kleinen goldenen Ball an einem goldenen Kettchen schenkte und ihr „für dich, meine kleine Froschkönigin“ ins Ohr hauchte, war sie es, die das Schmuckstück auf ihre nackte Haut legte und ihn aufforderte, das goldene Spielzeug über ihren Körper zu rollen, bevor er es ihr um den Hals legte.
Es war eine Zeit voller Zauber und Intensität, voll Nähe und Versprechungen. Es hätte immer so weitergehen sollen.
Aber der Sommer ging zu Ende und der Alltag kehrte zurück.
Er fraß sich unerbittlich in ihr Leben.
Die Treffen wurden kürzer und seltener, die Romantik bröselte …
Eigentlich gab es gar kein Ende, zumindest keines, das zu datieren gewesen wäre. Irgendwann hatten sie sich einfach aus den Augen verloren.
***
Agnes tauchte aus dem Teich ihrer Erinnerungen hoch, atmetet tief durch, musste sich erst einmal bewusst machen, wo sie war …
Der Mann vorne am Podium schien mit seiner Rede zum Ende kommen zu wollen.
Hans – Jürgen. Ihr neuer Chef.
Ihre erste Liebe.
Sie würde ihn nun unausweichlich öfter treffen.
Welche Erinnerungen würde er wohl mit sich tragen?
Welches Leben mochte er wohl heute führen?
Wie würden sie sich jetzt begegnen, nach mehr als vierzig Jahren?
Agnes schüttelte sich, fast wie ein Hund, der nach dem Baden das Wasser abschüttelt. Die Flut der Erinnerungen musste erst bewältigt werden.
Aber nicht jetzt. Nicht hier.
Sie packte ihre Tasche und verließ den Konferenzraum, bevor ihr neuer Chef seinen Vortrag beendet hatte. Im Büro sagte sie noch kurz Bescheid. „Migräne, ganz plötzlich, tut mir leid.“
…
Als erstes wollte sie zu Hause nach dem Goldschmuck suchen, nach ihrer goldenen Kugel. Haptische, plastische Erinnerung.
Momentan hatte sie keine Ahnung, wo die Kette hingekommen war. Aber sie war sich sicher, dass sie das Schmuckstück wiederfinden würde. Bestimmt war es in der Schmuckschatulle aufbewahrt.
Wenn sie Hans-Jürgen das nächste Mal begegnete, würde sie es tragen. Einen kleinen goldener Ball, vom Strudel der Zeit verschluckt. Sicher kein enormer finanzieller Wert, aber Symbol eines goldenen, unvergleichlichen Sommers.
Wie er wohl darauf reagieren würde?
Auf der Heimfahrt in der S-Bahn kicherte Agnes in sich hinein. Es schien ihr, als fielen vierzig Lebensjahre von ihr ab.
Ihre Gedanken fuhren Achterbahn, aber ihre Gefühle waren frei. Sie war offen für alles, was kommen würde.
Sie musste nichts tun als abzuwarten.
V 2