Von Marianne Apfelstedt

Am Ende einer Gasse standen zwei Männer. Beide trugen lange Militärjacken. Das Licht des Vollmondes bahnte sich seinen Weg durch die Häuser bis zum Pflaster. Im Mondschein war die Narbe, die das Gesicht des Größeren vom Auge bis zu den Lippen zierte, gut zu sehen. Während der Kleinere auf seine ausgestreckte Hand etwas aus Messing legte, trat sein Gegenüber näher.
„Wo habt ihr ihn gefunden?“, fragte Narbengesicht und versuchte, danach zu greifen. Der Kleinere verbarg den Gegenstand in seinen Händen.
„Erst die Dublonen!“ Der Narbige trat einen Schritt zurück und zog einen Beutel aus den Tiefen seiner Jacke.
„Hier!“ Der Kleine schnappte sich den Beutel und warf seinem Gegenüber den schimmernden Gegenstand zu. Narbengesicht fing ihn auf und betrachtete kurz den Schatz. Ein regelmäßiges dumpfes Klopfen durchbrach die Stille der Nacht, als der Kleine mit seinem Holzbein davon humpelte. Narbengesicht zog einen Dolch und schleuderte ihn dem Davoneilenden in das gesunde Bein. Gemächlich überholte er den am Boden Kriechenden und versperrte ihm mit seinen Stiefeln den Weg. Grob packte er seinen Schopf, zerrte ihn nach oben und zog ihm mit seinem Entermesser ein rotes Band quer über den Hals. Als der Gemeuchelte still lag, zog er seinen Dolch heraus, wischte ihn an der Jacke des Toten ab und nahm sich dessen Geldkatze und den Beutel. Jetzt holte er den runden Gegenstand aus der Tasche. Im Licht des Mondes war der Kompass mit der Windrose und den drei Nadelspitzen gut zu sehen. Gelassen ging er seinen Weg und seine Stiefel verhallten auf der Straße.

Die blauen Augen, die ihn aus dem dunklen Türeingang beobachteten, sah er nicht. „Merde! Gegen diesen Mistkerl habe ich keine Chance. Da geht er dahin mit meinem Rettungsanker. Ich brauche Hilfe. So langsam bereue ich meine Reise.“

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Auf der Saragossa, einige Wochen später.
„Bootsmann, übernimm das Ruder.“
„Aye, Kapitän!“ Jack Willington suchte mit dem Teleskop die Umgebung ab. Außer der blauen Weite des Meeres und vereinzelten Wolken am Horizont war nichts zu sehen.
„Ihr findet mich unter Deck. Hey, Seemann, schick mir den neuen Schiffsjungen mit Essen in meine Kajüte.“
„Aye, Kapitän!“
Garret trug ein Tablett mit einer Karaffe Bier, Zwieback und einem Teller Bohnen zur Kabine und stellte sie auf dem Tisch ab.
„Schließ die Tür! Deine Geschichte ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt. Jetzt erzähl!“
„Kennt ihr einen Piraten, auf dessen Gesicht sich eine Narbe vom Auge bis zum Mund zieht?“ Der Junge fuhr sich vom Auge mit dem Zeigefinger bis zu dem Grübchen unter seiner Unterlippe. Er sah unverwandt, mit seinen blauen Augen direkt, in die vom Oberlid halb beschatteten Augen des Kapitäns.
„Hatte er rotes Haar?“
„Ja, genau.“
„Dann hast du den roten John gesehen. Was willst du von diesem Dolchmörder?“
„Mein Vater war Bootsmann und der einzige Überlebende, als Kapitän John Silver starb. Er wurde schwer verwundet an Land gespült und hat mir einen Kompass und eine Schatzkarte hinterlassen.“
„Du hast die Karte, die zum Schatz von John Silver führt? Beim Klabauter!“
„Wir müssen den roten John finden und ihm den Kompass abnehmen, nur mit diesem kann der Schatz gefunden werden.“ Bei einem Becher schalem Bier, den Jack schon bald gegen einen Becher Rum tauschte, erzählte der Junge vom Kompass, der nie fehlte und seinen Besitzer zu verborgenen Goldschätzen führte.
„Warum sollte ich dir helfen?“
„Ich kann dir durchaus von Nutzen sein. Du würdest diesen Kompass nicht erkennen und nur ich weiß, wie er angewendet wird.“ Garret zog sich das Tuch herunter, schüttelte langes schwarzes Haar aus und stemmte ihre Hände auf die Hüften. Jack stellte sich dicht vor sie und wickelte sich eine Haarsträhne um die Finger. Sie zwang sich, stehenzubleiben und sah dem Freibeuter ins Gesicht.
„Bei Davy Jones. Du bist ein Weib! Wie heißt du?“
„Grace.“ Er verzog seine Lippen, sein Lächeln glich dem eines Hais. Jack ließ sich auf seine Koje fallen, nachdem er einen weiteren Becher Rum hinuntergestürzt hatte.
„Du wärmst mir mein Bett und ich beschütze dich vor der Mannschaft. Zeig dich vor den Männern am besten weiter als Garret. Kannst du navigieren?“
„Aye! Ich bin oft mit meinem Vater als Junge verkleidet gesegelt, als meine Mutter gestorben ist.“
„Dann ernenne ich dich zum 2. Bootsmann.“
Grace füllte seinen Becher erneut und gab unbemerkt zehn Tropfen aus einem braunen Fläschchen dazu. Auch diesen leerte Jack in einem Zug. Er zog sie an sich und drückte ihr seine Lippen auf den Mund. Bevor er sich eingehender mit ihr beschäftigen konnte, erschlaffte er und kurz darauf schnarchte er lautstark. Grace schlich davon und versetzte all seine Rumvorräte mit Tropfen aus der braunen Flasche.

Sie liefen viele Häfen zwischen New Orleans und Tortuga an, ohne auf das Schiff des Roten John zu treffen. Immer wieder brachten sie Handelsschiffe auf und der Frachtraum unter Deck füllte sich stetig mit Beute.

„Segel Steuerbord voraus! Eine Kogge, sie liegt tief im Wasser“, rief der Matrose im Krähennest. Jack besah sie durch das Fernrohr.
„Steuermann, bring uns vor den Wind. Direkten Kurs auf das Schiff. Zieht die Jolly Rogers auf. Wir lehren sie das Fürchten. Grace, du hältst das Steuerrad, wenn wir längsseits gehen“, brüllte der Kapitän seine Befehle. Mit getrimmten Segeln holte die Saragossa Meile um Meile zum Frachtschiff auf.
„Alle Männer auf Gefechtsstation. Schießt auf ihren Mast!“ Als das fremde Schiff längsseits lag und bereits zwei Treffer einstecken musste, waren alle Männer bis zu den Zähnen bewaffnet.
„Entert sie!“, feuerte Jack seine Mannschaft an. Grace hielt das Steuerrad umklammert, das Herz in ihrer Brust polterte wie ein Schmiedehammer und Adrenalin rauschte durch sie hindurch. Gebannt sah sie zu, wie die Seeräuber die Matrosen mit Pistolen erschossen und mit ihren Dolchen niedermetzelten. Tote und Verwundete wurden über die Reling ins Meer geworfen, die Piraten brachten die Handelswaren an Bord der Saragossa und stießen die wenigen Überlebenden in den Niedergang der angeschlagenen Kogge. Die Saragossa hatte keinen Treffer abbekommen und entfernte sich schwer beladen.

Schon am Hafen von Tortuga entdeckte Jack die Schaluppe des roten John. Nachdem der Kapitän dem Zahlmeister Anweisung für den Verkauf der Beute hinterlassen hatte, machten sich Jack und Grace, dieses Mal in Frauenkleidern, auf, den roten John zu suchen. Grace sollte den Dolchmörder in einen Hinterhalt locken, da er im Ruf stand, keinem Rock widerstehen zu können. In einer Spelunke mit Namen „Rostiger Nagel“ hatten sie Erfolg. Grace knöpfte sich die Bluse bis zum Brustansatz auf und trat zum Ausschank. Sie nahm sich kurzentschlossen ein Tablett mit Rum und ging an den Tisch des Roten. Als sie die Trinkbecher auf den Tisch stellte, bemerkte sie seinen Blick auf ihr Mieder. Beim Einsammeln der leeren Becher stieß sie seinen um.
„Verzeiht. Ich bringe gleich noch Rum.“
„Das würde ich dir auch raten“, polterte John. Grace stellte das Tablett in eine Ecke, orderte einen Becher Rum, in den sie eine ordentliche Menge Tropfen schüttete, und lief zurück zu John. Sie stellte den Becher direkt vor ihn. Er zog sie auf seinen Schoß und quetschte sie an sich. Eine Hand bahnte sich einen Weg unter ihren Rock. Schnell hielt sie diese fest.
„Nicht hier. Meine Kammer ist gleich um die Ecke. Für einige Pennys kannst du mehr bekommen.“ Sie entzog sich seinem Klammergriff und küsste ihn auf den Mund. Er stand auf, trank den Rum aus und zog sie zur Tür. Grace lief direkt auf die vereinbarte Gasse zu. Als sie bei Jack ankamen, war der rote John schon reichlich wackelig auf den Beinen und leichte Beute für Jack, der ihn kurzerhand erdolchte. Sie durchsuchten ihn und fanden mehrere Beutel, in einem davon war der Kompass. Die Geldkatze des roten John wechselte ebenfalls den Besitzer.

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Wieder zurück an Bord der Saragossa.
„So, nun kommen wir zu deinem Teil unserer Abmachung. Du hast deinen Kompass bekommen, zeig mir endlich diese Schatzkarte.“ Jack legte die Jacke und seinen Degen ab und schenkte sich einen Becher von seinem Rum ein. Grace prostete ihm zu.
„Auf unseren Schatz.“ Sie leerte ihren Becher und schenkte Jack nach, der auch den Zweiten in den Schlund kippte. Grace zog ein Stück Papier aus ihrem Mieder, das sie zögerlich auseinanderfaltete und auf dem Tisch glattstrich. Es war eine bedruckte Karte der karibischen Inseln. Einzelne Kreuze am Land und auf dem Meer waren mit vierstelligen Zahlen beschriftet. Jack trat neben Grace und beugte sich über das Papier. Das Holzscheit bemerkte er erst, als es auf seinen Schädel krachte. Grace hievte ihn auf seine Koje. Nahm ein braunes Fläschchen aus der Tasche ihrer Hose, öffnete mit den Fingern seine Lippen und flößte ihm 10 Tropfen in seinen Mund.
„Schlaf gut, mein Beschützer, der nie zum Zuge kam. Jetzt werde ich segeln zum Horizont und darüber hinaus, zurück in meine Zukunft.“
Sie steckte Kompass und Karte ein und versteckte ihren Zopf wie üblich unter dem Tuch, das sie um den Kopf wickelte. Leise verließ sie die Kabine und stellte sich neben den Steuermann.
„Aye, du kannst dir eine Pause gönnen, ich übernehme bis Mitternacht, dann kannst du mich wieder ablösen.“
„Aye!“

Die nächsten Stunden genoss sie es, das Schiff zu spüren, das die Wellen Richtung Süden durchschnitt. Mit dem Sextanten überprüfte sie immer wieder den Abstand der Gestirne zum Horizont. An der gewünschten Stelle klemmte sie das Steuerrad fest, zog den Kompass aus der Tasche und stellte mit dem Zahnrädchen auf der Rückseite die Zahlen zwei – null – null – drei ein. Die dritte Nadel auf der Windrose drehte sie einmal rundherum und stellte sie dann exakt auf Nordost. Ein leises Summen ertönte und zwei Griffe schoben sich aus dem Kompass. Sie umschloss sie mit beiden Händen und streckte die Arme nach oben. Gleißendes Licht strömte vom Kompass auf sie herab. Über ihr erschien ein Strudel aus blauem Licht, der sie verschlang und mit einem Knall erlosch. Zurück blieb nur das Mondlicht, das das Deck überflutete.

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