Von Max Wort

Irgendwo zwischen den Texten von Alice Schwarzer (EMMA-Abo meiner Mutter) und den Texten von Snoop Dogg (Bitches ain’t shit) stotterte meine Pubertät dahin wie der Verkehr vor dem Elbtunnel. Aber ich flog unaufhaltsam durch die warme Luft des ersten T-Shirt-Abends. Das sollte mein Sommer werden! Ich war so was von ready: 

Oberlippe festgeklebt an meinen Frontzähnen. THC festgeklebt an meinen Synapsen. Grinsen breit. Kangol Schiebermütze. Schirm nach hinten, Logo nach vorn. Aerodynamisch! Baggy tief unterm Arsch (wir waren die Ersten, die das so getragen haben – in Deutschland). Gürtel mit einer dicken Schnalle aus gerahmten Chrom-Buchstaben: LOW! Mein Writer-Name war inspiriert von LOrenz Wolf (mein Stiefvater hatte mich zum Wolf gemacht). Über die Bedeutung von LOW hatte ich mir damals zu wenig Gedanken gemacht. Meine Füße standen in vollgeschwitzten AIR MAX auf dem Gepäckträger von B-Boy Bogdan (er konnte eine elektrische Welle durch seinen Körper wandern lassen).
Eine Hand auf seiner Schulter, eine an der Capri Sonne surfte ich durch unsere Stadt. Gerade schlürfte ich den letzten Spuckschluck aus dem Plastikstrohhalm, da passierte es: 

Mein Grinsen und meine Synapsen waren immer noch gut verklebt, aber meine Baggy rutschte!

„Bogdan! Meine Hose … Halt mal, Digga, halt mal!“

Seine Antwort: eine hysterische Stimmbruch-Lache und ein paar kraftvolle Tritte in die Pedale. 

Abspringen! Nee. Dumme Idee. Hose und Gürtel fesselten meine Knöchel und machten mich zu einem Kegel. Zu einem aerodynamischen Kegel mit Kangol Mütze. Geboren zum Fallen.
Plan B: Lass es wie Absicht aussehen. Die Straßen wurden Zeuge eines Calvin Klein Spots: minderjähriges Model, fragwürdiger Stunt, mittlerer Imageschaden.

Alle (auch die mit den großen Creolen und dem Lipgloss) warteten schon vor dem Freibad, als wir anrollten. All Eyez on Me.

„Kann nicht abwarten, endlich ins Wasser zu jumpen!“
Ich hatte der Peinlichkeit die Zähne genommen. Dachte ich. Der Lipgloss-Mund kommentierte meinen Auftritt bissig wie ein Piranha:
„Guckt mal wie: „LOW“! Bogdan hat seinen Waldi dabei.“
Natürlich war ich dabei. Freibad mitten in der Nacht. Kann sein, dass der Security mit dem Nazi-Tattoo manchmal seine Runde macht. Maglite-Taschenlampe? Schäferhund? Juckt nicht. Natürlich würde ich über den Zaun klettern. An der Stelle wo der Stacheldraht heruntergedrückt war. Dann Köpper vom Fünfer in die Dunkelheit. Lipgloss-Piranha auf einen Sangria aus dem Tetra Pak einladen – und zum Fummeln unter Wasser. Killer, Digga! 

Wütendes Bellen, grelles Licht. Bevor ich den entscheidenden Teil meines Plans in die Tat umsetzen konnte, mussten wir rennen. Barfuß. Nass. Sachen unterm Arm. Und ich war der Erste, der wieder über den Stacheldraht kletterte und sich das Schienbein aufriss. Die anderen spazieren lässig durch die Drehtür aus Stahl und warfen mir mitleidige Blicke zu. Raus aus dem Freibad war keine Stunt nötig. Und wieder war ich der Joke.
„Aber gute Kletter-Skills, Lorenz. Respekt! Kommt, weil die an der Waldorfschule immer auf Bäume klettern.“
Der Lipgloss-Mund nahm einen großen Schluck Sangria und lachte – wunderschön, aber verletzender als der Stacheldraht.

 

Fahrtwind. Die Nacht war noch jung und roch nach Chlor und verbrannter Haut.
„Ey, Leute! Hab’ was klar gemacht. Alle dabei?“
Diesmal stand Bogdan auf dem Gepäckträger und flexte freihändig seine Electric-Boogie-Moves. Er hatte einen Plan. Ich strampelte mir einen ab.

Die erotische Spannung nahm mit jedem Meter zu. Waren es die Sprüche der Mädchen oder das Lachen der Jungs? Oder war nur ich wieder horny?
„Willkommen! Zur Pyjamaparty – ohne Pyjama“, triumphierte Bogdan. Ich kannte das Haus – das heißt die Villa. Lisa-Marie hatte sturmfrei. An der Tür nahm sie mich zur Seite und zischte: 

„Kein Plan, warum du auch dabei bist. Wenn meine Eltern hiervon erfahren, kannst du dein Praktikum vergessen, klar?!“

Ein paar Whisky-Cola und TK-Chicken-Wings später entlud sich die unbeholfene Geilheit der Pyjamaparty. Alle knutschten und – in der BRAVO nannten sie es Heavy-Petting. Und wenn man späteren Berichten Glauben schenken darf, haben manche sogar richtig geballert.

Nur ich saß allein auf der Designer-Couch von Lisa-Maries Eltern und machte mir einen Kopf. Und dann noch einen Kopf. Das Blubbern der Bong war nicht laut genug, um das Schmatzen, Kichern und Stöhnen um mich herum zu übertönen. Plötzlich war der Schweiß auf meiner Stirn eiskalt. Kein Lipgloss für mich. Selbsthass drückte mich immer tiefer in die Couch.

 

„Yo, LOW! Sag mal Hey, sag mal Ho! Alles im Flow, Bro?“
Bogdan war bis oben voll mit Endorphinen. Ich lag im Wachkoma und hörte seinen Laberflash, ohne ihm wirklich zuzuhören.
„Jetzt beginnt unsere Zeit – die Zeit, in der Träume wahr werden, Digga! Weißt du, was mein größter Wunsch ist: Mama soll auch in so einem Haus leben. So eine Couch und so. Fühl mal, wie derbe weich die ist. Krass einfach! Fühl mal richtig. Dream big, Baby!!“

Morgens lachten mich die Vögel aus. Was für ein Wurm: zusammengekauert in unserem Vorgarten, notdürftig zugedeckt mit einem chlorwassergetränkten Handtuch. Die dynamisch tänzelnden Laufschuhe meines Steifvaters hatten mich geweckt. Er kam zurück vom Laufen. Acht Kilometer jeden Morgen. Was für ein Alpha …

Als sich meine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, sah ich zerkaute Chicken-Wings auf meinem Oberarm. 

„Alles okay?“ fragte mein Stiefvater.
Ich zog das feuchte Handtuch über die Chicken-Wings. Ob der Chlorgeruch auch den Geruch von Whisky-Cola und Magensäure überdecken würde?
„Alles okay! War warm. Wollte die Sterne angucken.“
„Sterne gesehen?“
„Ja“
„Dann ist ja gut.“
Er ging duschen. Kalt wie immer. Ich raffte mich auf. Headspin! Unser ganzer Vorgarten war ein Chicken-Wing-Massaker.

 

Wenn man sabbert, ist es ein guter Mittagsschlaf. Drei Stunden mit halb offenem Mund und immer nasser werdenden Kissen heilten mich wenigstens von den schlimmsten Kater-Symptomen. Trotzdem war ich noch derbe verschallert, als ich frisch geduscht bei der Abi-Party von Malte aufschlug. 

Es war das Gipfeltreffen der Waldorf-Elite. Sogar ich hatte mir ein Hemd angezogen. Auch Eltern waren da. Man stand um den Pool, lachte zum tausendsten Mal über die gleichen Storys von den Klassenreisen und gab brav Antwort auf die Frage: Und was machst du jetzt nach der Schule?

Man trank Pét Nat vom Demeter Winzer (das ist kein Alkohol, das ist Kultur). Man zog sogar an ein paar Joints – der edle Bobel aus Marokko kam über irgendwelche alten Hippie-Connections von Maltes Mutter (möglich, dass sogar dieses Hasch biodynamisch war). Man war sich gewiss: Trotz gemähtem Rasen und vom Gärtner gepflegten Garten (bienenfreundlich!) – man war kein Spießer.

Nach zwei Gläsern von den brotigen Bubbles war ich etwas weniger verkrampft. Um die Joints machte ich einen Bogen. Ich konnte nicht bekifft mit Erwachsenen sprechen. 

Malte winkte mich mit einer Gutsherren-Geste zu sich heran. Mit seiner anderen Hand fingerte er an der Hüfte von Lisa-Marie.
„Lorenz, mein Bester, du warst doch auch neulich bei Lisa.“ 

Hilflos sah ich in Lisa-Maries angriffslustig funkelnde Augen.
„Du kannst es ruhig zugeben. Malte weiß, dass ein paar von den Gesamtschülern bei mir gechillt haben. Erklär ihm mal, dass er daraus nicht so ein Eifersuchtsdrama machen soll!“
Malte bohrte nach:
„Was habt ihr so spät bei meiner Freundin gemacht, mein Lieber?“
Kichern, Schmatzen, Stöhnen sollten besser nicht Teil meiner Antwort sein:
„Weiß nicht. Gechillt einfach. Bisschen Bong geblubbert. Bogdan hat von seinem Traum erzählt und so. Rumgeflasht.“
„Bogdans Traum?“ fragte Malte.

Lisa-Marie erzählte es wie die Pointe eines Witzes:
„Er wünscht sich, dass seine Mutter in so einem Haus lebt, wie wir.“

Malte lachte sich die Eifersucht von der Brust:
„Die Türen zu so einem Haus stehen ihr jederzeit offen – solange sie es putzt.“

Man lachte mit Malte. Man war dabei etwas verlegen, aber man lachte. Auch ich. Dann war man sich einig, dass Bogdan es vielleicht tatsächlich irgendwie schaffen könnte, seiner Mutter so ein Haus zu kaufen. Aber nicht mit Breakdance.
Mit leerem Blick starrte ich auf das Schlauchboot, das verloren im Pool trieb. Plötzlich legte mir Maltes Vater seine Hand auf die Schulter:
„Da sind ein paar junge Herrschaften an der Tür, die wollen dich sprechen. Tut mir leid, das so klar sagen zu müssen, aber heute nur geladene Gäste.“

Vor der Tür stand Bogdan mit der Gang. Ich fühlte mich wie ein Grenzbeamter. Miriam (so hieß der Lipgloss-Piranha) war auch dabei. Ich gab meine beste Performance: 

„Yooo! Die ganze Gang! Was geht ab?! War wild gestern, ne? Bin immer noch voll verwackelt. Krasse Waldi-Party hier. Mit Eltern und so. Sogar mein Geschichtslehrer ist hier. Fehlt noch, dass die Eurythmie machen. Was macht ihr noch? Vielleicht kann ich mich bald wegschleichen und nachkommen.“

Miriam trat ein Stück nach vorn und strich sich eine Haarsträhne zur Seite, die an ihren Lippen klebte:
„Kannst du uns hier reinbringen?“
Ich wollte sterben.

„Ja, nee. Hier geht auch nichts. Gar nichts! Bin auch nur hier, weil ich muss, gefühlt. Maltes Eltern sind derbe Spießer. Die wollen die Leute vorher kennenlernen und so.“
Dann schob mich Malte zur Seite:

„Bogdan! Was geht?! Lang nicht gesehen. Kommt doch alle rein!“

Ich wollte wiedergeboren werden, um nochmal zu sterben. Stattdessen warf ich Malte einen Aber-Was-Sagt-Dein-Vater-Blick zu.

Malte gönnerhaft: „Alles geregelt! Deine Freunde, meine Freunde. Ein bisschen Entertainment. Wir haben auch ein Schlauchboot im Pool, das ist doch was für euch!“

Er lachte böse.

Mir wurde schlecht. Ich trank noch mehr Pétillant Naturel und erzählte Maltes Vater von meinem Austausch nach Frankreich letztes Jahr. So was ist unersetzlich, bien sûr! Jetzt erstmal Praktikum in der Firma von Lisa-Maries Vater. Wichtig vorm Studium. Ich war nicht doof, hatte das Netzwerk – ich würde Bogdans Traum leben.

Pét Nat schoss aus meiner Kehle ins Klo. Wie sehr ich mir wünschte, es wäre Tetra-Pak-Sangria.

(1. Fassung, Max Wort, 9979 Zeichen)