Von Marianne Apfelstedt

 

Irgendetwas ging schief in den letzten 100 Jahren. Es begann mit der Ausbreitung der KI. Die Nationen überboten einander mit immer neuen Programmen, die den Alltag erleichtern sollten und uns die mühseligen Denkarbeiten abnahmen. In allen Lebensbereichen unterstützte uns die KI, die sich stetig weiterentwickelte. Das Leben ordnete sich in Bits und Bytes. Was wir dafür verloren, merkten wir viel zu spät. Jetzt gab es menschliche Körper mit implantierten Chips, so wie bei mir. Ich wusste nicht mehr, wo die künstliche Intelligenz aufhörte, und mein Menschsein begann. Es gab nur noch wenige Menschen ohne KI-Erweiterung. Die Echten genannt. Von einer Mutter geboren, waren sie alt, hatten Falten und graues Haar. Sie wurden gehegt, wie seinerzeit seltene Wildtiere, die längst von der Erde verschwunden sind. Nur zur Schau gestellt werden sie nicht. Ich hatte die Aufgabe übernommen, mich um eine der Echten zu kümmern, ihr Name war Rapunzel.

 

Ich gehe zum gläsernen Turm, ihrem Wohnkomplex. An der Eingangstür überprüft mich ein Retina-Scan, bevor mir das Sicherheitsportal Einlass gewährt. Im 25. Stock klopfe ich an die Tür. Rapunzel liebt solche Gesten, dabei hätte mir die KI die Tür sowieso geöffnet.

 

„Komm herein. Schön, dass du mich heute besuchst, Alexa.“ Ich folge der Lady im langen weißen Kleid, ihr ergrautes Haar ist zu einem Zopf geflochten, der beim Gehen wie ein Pendel schwingt und bis zum Boden reicht. Ihre forschen Schritte strafen ihr Alter Lügen. Wir nähern uns der Sitzecke und ich entdecke eine Porzellankanne und zwei Tassen auf dem Tisch.

 

„Setzt dich und probiere meinen Tee. Er ist aus echten Kräutern. Du hast eine so angenehme Stimme, bitte lies mir doch weiter aus dem Buch vor.“ Ich mag diese alte Dame. Wenn sie mich ansieht, habe ich das Gefühl, sie streichelt mit jedem Blick meine Seele. Nach unseren Treffen fühle ich mich so menschlich. Also schlage ich das Buch beim Lesebändchen auf und zum Vorschein kommt ein Zettel: Die Überwachungskamera ist manipuliert. Nicht sprechen!!! Verwirrt schaue ich in ihr Antlitz und bin überrascht, ihren Zeigefinger direkt unter ihrer Nase und vor ihren Lippen zu sehen. Sie tippt auf ihren HomePod und meine Stimme ist zu hören. Vor Überraschung ist mir das Buch auf den Schoß gerutscht, und der Zettel schwebt sacht zu Boden, entzündet sich und nur eine winzige Rauchwolke bleibt zurück. Als ich wieder zu Rapunzel blicke, hält sie mir den dampfenden Teebecher entgegen. Ich trinke die Tasse in einem Zug aus. Aromen umspülen meinen Gaumen, die ich nie zuvor geschmeckt habe, und angenehme Kühle bleibt im Mund zurück. Prickelnde Energie pulsiert in mir. Ich blicke in ihre Greisenaugen und drohe darin zu ertrinken. Eine zarte Berührung an meiner Wange beruhigt mich und mein Herz klopft ruhiger. Ich folge ihrer Bewegung mit den Augen. Verständnislos sehe ich auf ihre Hände, die kurz verharren, um dann eine neue Position einzunehmen, immer wieder. Bei der nächsten Wiederholung erkenne ich das Muster. Vor einigen Wochen hat sie mir Gebärdensprache beigebracht. Sie wiederholt die einzelnen Positionen und langsam formen sich die Buchstaben zu Worten.

 

DER TURM IST EINE TÄUSCHUNG

DU MUSST DIE ANDEREN ECHTEN FINDEN

GEH ZUM WIDERSTAND

SCHLIESSE DICH IHNEN AN

SIE WARTEN AUF DICH

DER HOMEPOD ÖFFNET DAS FENSTER

DER TEE HAT DEINEN CHIP INAKTIVIERT

MEINE ZEIT IST JETZT UM

 

Sie zieht ein Messer und trennt sich den Zopf vom Hinterkopf. Erschrocken sehe ich elektrische Kabelenden am abgeschnittenen Haar aufblitzen. Sie wirft ihn mir zu und ich fange ihn auf. Durch die Fingerspitzen fühle ich seine Energie.

 

STECK IHN AN

ICH HABE MEINE GEDANKEN IN IHM GESPEICHERT

ER WIRD DICH FÜHREN

 

Vorsichtig positioniere ich das Ende an meinem Haaransatz. Er pulsiert wie eine Schlange kurz vor der Häutung. Ich sehe, wie der Zopf sich verfärbt. Farbe breitet sich aus wie Tinte im Wasser, bis der Zopf schwarz ist wie mein eigenes Haar. Die Kabelenden bohren sich in meinen Nacken, betäuben und ein Schauer rieselt meinen Rücken hinunter. Verbinden, was zusammengehört und ich falle.

 

Als ich die Augen aufschlage, ist es dämmrig im Zimmer. Rapunzel ist in ihrem Sessel zusammengesunken. Ich beuge mich über sie und entdecke das Messer, das in ihrer Brust steckt. Kaltes Grauen stellt mir die Härchen auf. Mir wird schwindelig.

 

„Atme“, spricht Rapunzels Stimme in meinem Kopf. Gierig sauge ich Luft in meine Lungen, fülle sie wie einen Luftballon und der Schwindel verschwindet.

 

„Verliere keine Zeit! Du musst fliehen. Nimm den Neutralisator vom Tisch, mit ihm kannst du deinen Chip endgültig abschalten. Trenne deine Verbindung zur KI.“ Ich halte das Gerät an den Chip unter der Haut meines linken Handgelenks. Deutlich vernehme ich ein Klicken. Ein Energiestrom rast vom Arm bis in meinen Nacken und meine Haut beginnt zu kribbeln, als würden Millionen Ameisen unter ihr entlangkriechen.

 

„Wirf den HomePod in das Fenster.“ Rapunzel hat recht, wenn die KI bemerkt, dass es hier nur noch eine Lebensform gibt, wird ein Alarm ausgelöst. Auf Mord folgt die Todesstrafe. Ich werfe den HomePod auf die Fensterscheibe. Er bleibt an der Scheibe kleben und ein stetiger Summton dringt aus dem Gerät. Das Glas zieht sich in den Pod zurück, der jetzt einfach inmitten des nicht mehr vorhandenen Fensters schwebt. Ich beuge mich über den Fensterrahmen.

 

„Jetzt hätte ich gerne Flügel.“

 

„Die brauchst du nicht.“ Mein Zopf macht sich selbstständig, rutscht über den Sims und zieht mich nach unten. Erschrocken klammere ich mich fest.

 

„Spring! Vertrau mir“, befiehlt ihre Stimme, doch meine Hände sind wie festgeklebt, ich kann sie nicht bewegen. Ein Alarmton zerschneidet die Stille – die Handlanger der KI kommen. Endlich gelingt es mir, die Finger zu lösen. Der Zopf zieht mich zum Fenster hinaus und ich falle. Mein Haarstrang krallt sich an der Wand fest. Mit tödlicher Geschwindigkeit jagen wir an der Glasfront des Turms dem Boden entgegen. Die Lichter der Stockwerke fliegen an mir vorbei und ich schreie, bis meine Stimmbänder versagen. In Erwartung des Aufpralls kneife ich meine Augen zusammen. Plötzlich geht ein Ruck durch meinen Körper, das Haar hat sich aufgefächert wie ein Gleitschirm und ich schwebe sanft dem Boden entgegen.

 

„Nach rechts!“ Ohne zu denken, folge ich ihren Anweisungen und renne um mein Leben. Ihre Stimme führt mich in Teile der Stadt, die ich nie betreten habe. Längst haben wir den bewohnten Teil hinter uns gelassen, die Türme des Stadtzentrums strecken sich wie Finger in den Nachthimmel. Darüber die Kuppel, die diese Stadt von der Außenwelt abschottet. Die verlassenen Häuser neben mir starren mich mit toten Fenstern an. Hier gibt es keine Beleuchtung und ich wage mich nur im Schneckentempo vorwärts. Meine Lungen brennen vom ungewohnten Rennen. Mühsam schnaufend stütze ich mich auf den Oberschenkeln ab.

 

„Du hast es geschafft.“ Mein Kopf schnellt nach oben und ich versuche, die Stimme zu lokalisieren. Allmählich vermisse ich die Sinnschärfung durch die KI. Meine menschliche Seite ist so hilflos. Langsam tritt ein junger Mann aus einem Hauseingang, mit ebenso schwarzem Haar und grünen Augen, wie alle Menschen, die in dieser Stadt leben.

„Wer bist du?“

„Man nennt mich Bixby. Rapunzel hat uns dein Kommen angekündigt. Wir müssen hier weg.“

„Rapunzel hat gesagt, ich soll die Echten suchen. Bist du einer von ihnen?“ Er geht einfach weiter, also beschließe ich, ihm zu folgen.

„Antworten gibt es später, falls du am Leben bleibst.“ Ohne meinen Atem durch weitere Worte zu verschwenden, haste ich Bixby hinterher. Er ist im Hauseingang verschwunden, als ich weiter in das Haus vordringe, ruft er hinter mir: „Hier runter, schnell!“ Treppen führen in eine Art Keller, durch eine Klappe kommen wir weiter nach unten in einen gemauerten Tunnel.

„Boah, hier stinkt es.“

„Tja, sei froh, dass die Ratten schon ausgestorben sind. Die sollen früher zu Tausenden hier gehaust haben.“ Schweigend hasten wir durch das Gewölbe, wo sogar ich meinen Kopf an manchen Stellen einziehen muss. Als ich glaube, keinen Schritt mehr weiterlaufen zu können, halten wir an einer rostigen Leiter.

 

„Du zuerst. Ich glaube nicht, dass sie uns beide trägt. Na los!“

 

Stunden später, geht die Sonne auf, schweigend laufen wir in den neuen Tag. Ich versuche, immer noch zu verdauen, was mir Bixby erzählt hat. In unserer Stadt werden alle Menschen in Retorten gezüchtet. Mit 40 Jahren kommen wir wieder zurück in den Pool und unsere Erbanlagen werden für die nächste Generation aufbereitet. Das Genmaterial wird immer weiter gestreckt. Bei mir überwiegen die menschlichen Gene, 70 zu 30. Bei Bixby sind es weniger. Er hat sich auf den Rückweg gemacht, um weitere zu evakuieren.

 

Kurz bevor sich die Sonne am Horizont feurig rot verabschiedet, entdecke ich vor mir die flachen Häuser des Widerstands, die sich unter verkrüppelten riesigen Pflanzen, deren Äste sich dem Himmel entgegenstrecken, an eine Felswand schmiegen. Mein neues Zuhause.

 

***

 

In der Mitte der Menschenmenge, die mir entgegentritt, steht ein Mann mit blondem Haar, das ihm wie eine Mähne auf den Rücken fällt. Die Menschen, die ihn begleiten, haben ausnahmslos schwarzes Haar und grüne Augen. Gut, manche haben schon graue Strähnen, aber alle sehen mir verdammt ähnlich. Sein heller Bart lässt seine Lippen nur erahnen. Die Augen sind vom gleichen Blau wie der Himmel über uns und ziehen mich magisch an.

 

***

 

Zwölf Monate später.

Langsam erhole ich mich von der Geburt. Meine Tochter ist das erste Baby, das seit 80 Jahren in Liebe gezeugt und unter Schmerzen geboren wurde. Wir nennen sie Rapunzel.

Ich blicke in ihr winziges Gesicht, sie schiebt ihre kleine Faust in den Mund und saugt kräftig daran. Ich kann mich nicht sattsehen, an ihren wunderschönen Augen. Eines ist grün, das andere blau.

 

© Marianne Apfelstedt, Version 3 / 9749