Von Irmi Feldman

Man sah ihr das Alter an. Alles an ihr, Gesicht, Körper, Haltung, bezeugte, dass die besten Jahre längst der Vergangenheit angehörten. Rapunzel, das einst verführerische Mädchen, das Tausende von Verehrern mit ihren wallenden blonden Haaren verzaubert hatte, war kaum wiederzuerkennen. 

Wartend am Fenster saß sie noch immer, obwohl lange kein Verehrer an ihrem Zopf hochgeklettert war. Der Weg hinauf war kürzer geworden. Ebenso der Zopf. Turm war es schon lange keiner mehr. Ihre Wohnung befand sich seit Jahren im zweiten Stock eines Mietshauses mit Blick auf Marktplatz und Kirche. Nicht, dass sie sich für Kirche oder Religion interessiert hätte. Mit Gott hatte Rapunzel nichts am Hut.

Wehmütig dachte sie an frühere Zeiten, wo tagtäglich Bewerber sich um ihre Gunst gestritten hatten. Die meisten hatte sie weggeschickt, weil sie arm oder hässlich oder schwach oder was auch immer gewesen waren. Je nach Laune halt. Das Wegschicken hatte sie am meisten befriedigt. 

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Es war die Willkür. Es war die Macht zu entscheiden, wer gehen musste und wer bleiben durfte, und nicht Männer, dir ihr sowieso zu dumm waren.

Diese Erkenntnis haute sie glatt vom Hocker. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, stand ihr Entschluss fest.

Macht wollte sie. Und Einfluss. Aber wie? Darüber musste sie nachdenken, aber der blöde Fernseher lief, weil er immer lief. Gerade als sie ihn ausschalten wollte, hörte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein Politiker hielt eine Rede, in der er seinen Opponenten beschuldigte, etwas Kriminelles begangen zu haben. Das Ganze klang an den Haaren herbeigezogen. Ganz klar eine Lüge. Nicht einmal sie glaubte es. Nichtsdestotrotz erklangen sofort ärgerliche ‚Buh‘ Rufe im Hintergrund. Als der Politiker das hörte, führte er gleich noch mehrere hirnrissige ‚Beweise‘ auf, die seinen Opponenten in einem noch schlechteren Licht erscheinen ließen. Die wutentbrannten Stimmen wurden nun noch lauter.    

Rapunzel staunte. So machte man das also. Das musste sie ausprobieren. Just da klingelte es an der Wohnungstür. Frau Bertram mit dem Brot, das sie jeden Tag für sie von der Bäckerei mitbrachte, stand vor der Tür.

„Vielen Dank, Frau Bertram!“, begrüßte sie Rapunzel.

Sie wolle ja nicht tratschen, begann Rapunzel und beugte sich leutselig nach vorne, aber wisse Frau Bertram eigentlich, dass die Frau Haber vom vierten Stock sich über ihre rote Bluse aufgeregt habe. Sie sei altmodisch und stehe Frau Bertram absolut nicht zu Gesicht.

Frau Bertram wurde blass. Sie schluckte. Schluckte noch einmal. Dann zischte sie. Die Haber, die müsse grad reden. Die mit ihren zerrissenen Jeans. So laufe man doch nicht auf der Straße herum. Eine Schande sei es, das mit ansehen zu müssen. Rapunzel nickte zustimmend.

Als Frau Bertram wütend davongestürmt war, musste Rapunzel sich erst einmal setzen. Dass es so einfach sei, hätte sie nicht gedacht. Das musste sie gleich noch einmal ausprobieren.

Angestrengt spähte sie aus dem Fenster auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Die Post kam ihr da gerade recht. Herr Gruber, der Postbote, trat ins Haus. Als er wieder herauskam, rief Rapunzel ihm von oben zu. Sie müsse ihm was sagen. Was Vertrauliches. Ob er nicht schnell heraufkommen möge? Natürlich mochte Herr Gruber. Sie habe gehört, begann Rapunzel geheimnisvoll, als er in ihre Wohnung trat, dass die ganze Wohnungsgemeinschaft – doch nicht sie, das wolle sie ausdrücklich betonen; nicht sie – einen eingeschriebenen Brief an den Postminister schicken wolle, um sich über ihn zu beschweren. Er würde die Post immer so spät bringen, und manchmal seien die Briefe schon einmal geöffnet und dann wieder zugeklebt worden. Das könne man genau sehen. Bestimmt lese er die Briefe der Hausbewohner. Und wer weiß, womöglich die Briefe der ganzen Stadt? Deshalb sei er wohl immer so spät mit der Post dran.

Auch Herr Gruber erblasste. Eine Lüge sei das. Er lese nie die Briefe anderer Leute. Wer so etwas behaupte, spreche nicht die Wahrheit. Außerdem bringe er die Post immer zur selben Zeit. Sicher, manchmal, an Weihnachten oder Ostern gebe es mehr Post und dann dauerte es ein bisschen länger. Aber eigentlich sei er doch immer sehr pünktlich. Sie stimme ihm zu, meinte Rapunzel. Sie persönlich sei immer sehr zufrieden gewesen mit seinem Dienst.

Unglücklich zog Herr Gruber von dannen. Seinen Tag hatte sie zerstört. Rapunzel zitterte vor Aufregung. Dass es so einfach ist! So einfach! Das musste noch besser geübt werden. Sie ging einkaufen.

Dem Metzger flüsterte sie zu, dass die Leute sich über seine alten Würste beschwerten.

Den Bäcker ließ sie wissen, dass die Leute munkelten, dass es in seiner Backstube Kakerlaken gebe.

Im Supermarkt flüsterte sie dem Leiter zu, dass die Leute sich über den Preis der Eier aufregten. 

Lügen, perfekt platziert, und diese Idioten fressen einem aus der Hand, jubelte Rapunzel.

Wochenlang log sie sich durch die Stadt. Warnte alle vor allen. Erdichtete. Erfand. Benebelte. Entstellte. Die Wahrheit. Bald war sie als Retterin bekannt. Als Vertreterin der Wahrheit. Als die Einzige, der man noch trauen konnte in dieser verlogenen Welt.

Sie sind reif, entschied Rapunzel eines Morgens.

Tagelang überlegte sie, wie sie den größten Haufen dieser hirnlosen Schafe erreichen könne. Ostern kam ihr da gerade recht. Ein Ostersonntagsmarkt werde nach der 11-Uhr-Messe auf dem Marktplatz vor der Kirche stattfinden. Was für ein Glück, dass sie am Marktplatz wohnte. Ein Wink des Schicksals. Ein Zeichen Gottes.

Nach der Messe, als die Menschen aus der Kirche strömtensaß Rapunzel mit Megafon bewaffnet am Fenster. Frohe Ostern‘, begann sie ins Megafon rufend. Einen schönen Gruß sende sie allen.

Die Leute blickten auf.

„Rapunzel“, schrien sie begeistert. „Rapunzel ist hier. Schaut doch. Rapunzel wohnt hier.“

Die Begeisterung war immens. Viele kannten sie entweder persönlich oder hatten von ihr gehört.

Sie sollen sich freuen und diesen Tag genießen, fuhr Rapunzel fort. Denn noch sei es erlaubt sich gegenseitig ‚Frohe Ostern‘ zuzurufen. Doch das würde sich ändern. Schon nächstes Jahr werde Ostern verboten sein.

Die Menge verstummte. Ja, fuhr Rapunzel fort, man solle es ruhig glauben. Sie habe gehört, dass der Bürgermeister von nun an Ostern verbieten werde. Zu viele Ausländer seien in der Stadt, die verschiedenen religiösen Gebräuchen huldigten. Man könne es ihnen nicht zumuten, ständig Frohe Ostern von den Christen mitanhören zu müssen. Aus Rücksicht auf die Ausländer werde man Ostern nun abschaffen.

Die Menge war geschockt. Eine Weile sagte keiner was. Dann machte sich der Unmut breit. Was dem Bürgermeister einfiele? Ihnen einfach Ostern wegzunehmen? Sie würden es den Grosskopferten schon zeigen. Ostern würden sie sich nicht wegnehmen lassen. Wegen der Ausländer schon gar nicht. Wenn denen unsere Bräuche nicht passten, dann sollen die gefälligst wieder dahin gehen, wo sie hergekommen sind. Ausländer raus, riefen nun schon die Ersten.

Da ertönte eine Stimme aus der Menge. Woher sie das wisse? Fragte ein Mann. Sowas könne man doch nicht so einfach behaupten. Und das erscheine ihm doch sehr unglaubwürdig. Keiner würde Ostern verbieten.

Rapunzel hatte an alles gedacht. Für den Fall, dass einer ihr widersprechen würde, hatte sie sich einen Feldstecher besorgt. Eine Weile suchte sie in der Menge nach der Stimme.  

Schon hatte sie sie gefunden. Der da, mit der blauen Kappe und dem Regenbogenschal, schrie sie ins Megafon, der gehöre auch zum Bürgermeister. Den habe sie schon oft mit dem Bürgermeister im Brauhaus gesehen. Der stecke mit dem Bürgermeister und der gesamten Obrigkeit unter einer Decke. Das wisse sie. Das könne sie bezeugen.

Sofort rückte die Menge von dem Mann in der blauen Kappe ab. Schiefe Blicke warf man ihm zu. Er schien ihnen nicht geheuer. Schon hörte man Drohungen. Er solle sich in Acht nehmen. Schleunigst verzog sich der Mann.

Die Bürgermeisterwahlen stehen vor der Tür, rief Rapunzel. Wir brauchen einen neuen Bürgermeister. Diese Idee war ihr soeben erst gekommen. Sie werde sich aufstellen lassen, schrie sie ins Megafon. Sie werde sich für die einfachen Bürger einsetzen. Sie werde Ostern nicht abschaffen. Rauswerfen werde sie die Ausländer aus der Stadt. Die brauche man nicht. Die nehmen sowieso nur den Einheimischen die Arbeit weg.

Die Masse war begeistert. Schon hörte man „Rapunzel für Bürgermeister“ und „Ein Hoch auf Rapunzel“.

Dass es so einfach ist! So einfach!

© Irmi Feldman, 2025; v2; 8484z