Von Andreas Schröter

Stefan war wohl das, was man als Computernerd bezeichnen würde. Er arbeitete bei „HighTech15“ und starrte den lieben langen Tag auf seinen Bildschirm. Er holte sich nur selten einen Kaffee, beteiligte sich nicht an den Kollegengesprächen und musste ganz offensichtlich seltener eine Toilette aufsuchen als andere. Im Pausenraum war er noch nie gesichtet worden. „HighTech15“ war eine hochspezialisierte IT-Firma. Außerdem befand sie sich im 15. Stock eines Wolkenkratzers. Insofern hatte das „High“ im Namen nicht nur einen Bezug zu der hochqualifizierten Arbeit, die hier verrichtet wurde, sondern auch zu der schlichten Höhe der Arbeitsplätze. Und wer hier eine Anstellung gefunden hatte, der hatte Ahnung von seinem Metier. HighTech15 beschäftigte die Besten der Besten.

Und doch verstanden die allermeisten der dort Beschäftigten nicht, was auf Stefans Bildschirm vor sich ging, wenn sie einmal zufällig in seiner Nähe waren. Zu schnell und zu virtuos bediente er seine Maus, sodass die Ansichten mit scheinbar wirren Zahlenkolonnen oder Grafiken zu schnell wechselten. Wobei es keineswegs so war, dass sich jemand über Gebühr für Stefans Arbeit interessiert hätte.

Stefan trug stets die gleiche Garderobe: eine etwas ausgeleierte Jeans, die ihm auch beim Kauf schon zu groß gewesen sein musste, orthopädische Gesundheitsschuhe und einen Rollkragenpullover, manchmal auch einen Pullunder, wie ihn der Komiker Olaf Schubert als Markenzeichen trägt – nur, dass es bei Stefan kein Witz war. Stefan war weder beliebt noch unbeliebt. Wenn er nicht mehr da gewesen wäre, hätten es einige vermutlich gar nicht bemerkt – so ähnlich, wie es bei einer verlustig gegangenen Zimmerpflanze der Fall gewesen wäre.

Neulich hatten sich die etwas Jüngeren und Frecheren unter den Mitarbeitern gefragt, ob Stefan wohl schon jemals Sex in seinem Leben gehabt hatte. Die meisten tippten auf „Nein“ – und sie hatten recht.

Es passierte an einem ganz normalen Dienstag, als Stefan eine winzige Unregelmäßigkeit auf seinem Bildschirm auffiel. Der Cursor pulsierte – allerdings nur ganz schwach. Konnte es sein, dass er sich das nur einbildete? Stefan nahm seine Brille, ein kostengünstiges Kassengestell, ab und brachte sein Gesicht näher an den Bildschirm. Doch, da war ein winziges Pulsieren. War eine Krankheit im Anzug, war es der Blutdruck? Oder waren es wieder die Kollegen? Vor zwei Jahren hatte es mal ein besonders talentierter Hacker geschafft, ein BÄNG!! auf Stefans Bildschirm zu zaubern. Er war zurückgezuckt, und die offenbar eingeweihten Kollegen bogen sich vor Lachen. Gleiches passierte, als sie ihm eine nackte Frau mit gespreizten Beinen zukommen ließen. Stefan schaltete sofort den Bildschirm ab.

Nun tat Stefan etwas, was er sonst nie tat. Er schaute von seinem Bildschirm auf und blickte sich unauffällig im Großraumbüro um. Doch seine Kollegen schienen alle beschäftigt zu sein. Niemand schielte mit spitzbübischem Grinsen zu ihm her. Und dann tat er noch etwas, was er noch nie getan hatte. Er fuhr mit seinem Drehstuhl zu seinem Nachbarn und bat ihn, einmal einen Blick auf seinen Bildschirm zu werfen. Uwe, so hieß der Angesprochene, war entsprechend überrascht, kam aber Stefans Bitte nach. Ein Pulsieren im Cursor konnte Uwe allerdings nicht erkennen, und auch Stefan selbst sah es jetzt nicht mehr. Es war weg. Wie konnte das sein? Er entschuldigte sich bei Uwe, bekam leicht rote Ohren und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Doch am nächsten Tag passierte dasselbe: Der Cursor blinkte – und zwar diesmal noch eine Spur stärker als am Vortag. Stefan traute sich diesmal nicht, Uwe zurate zu ziehen. Er musste versuchen, den Fehler alleine zu finden. Er fuhr seinen Rechner runter und wieder hoch, schaute sich jedes noch so verborgene Detail in den Systemeinstellungen und Bios an und fand: nichts. Gar nichts. Doch das Blinken blieb. Nach einigen weiteren Tagen glaubte Stefan, ein Muster darin zu erkennen: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Mit einem plötzlichen Ziehen in der Kopfhaut wurde Stefan bewusst, dass das der Morsecode für SOS war. Das musste ein Zufall sein. Langsam war er sich sicher, dass mit seiner Gesundheit etwas nicht stimmte. Es musste ein psychisches Leiden sein, das sich offenbar langsam anschlich und das Stefan nun doch mehr und mehr Angst machte.

In der Folgezeit hatte Stefan einige zwar wohlwollende, aber doch unangenehme Gespräche mit seinem Vorgesetzten. Der Chef war sich bewusst, was für ein außergewöhnlich begabter Mitarbeiter Stefan war und wollte ihn keinesfalls vergraulen, konnte aber nicht übersehen, dass er nicht mehr in dem Maße seinen Pflichten nachkam, wie das zuvor der Fall gewesen war.

Stefan hatte jetzt ein eigenes Projekt, das ihn ganz ausfüllte: Er verbrachte seine komplette Arbeitszeit – und das waren in seinem Fall manchmal 16, statt der vorgesehenen 8 Stunden –, um zu ergründen, welche Krankheit er ausbrütete, oder – und er wusste nicht, was schlimmer gewesen wäre – was es mit der Botschaft auf sich hatte.

Und er hatte letztlich Erfolg mit seinen Bemühungen, und zwar in die Richtung, dass es sich doch wohl tatsächlich um eine Botschaft handeln musste, die tief aus dem Inneren des Computersystems kam. Das Morsealphabet hatte er mittlerweile gelernt. Und irgendwann glaubte er, aus dem Blinken des Cursors Folgendes herauszulesen: RETTE MICH! Aus dem Ziehen in der Kopfhaut war mittlerweile ein heißkalter Ganzkörperschauer geworden, der ihn überzog, als er sich dessen bewusst wurde.

Als Stefan vor ziemlich genau fünf Jahren bei HighTech15 angefangen hatte, kursierten Artikel in den einschlägigen Fachzeitschriften, dass diese Firma daran arbeite, ein Computerprogramm zu erschaffen, das ein eigenes Bewusstsein entwickeln und eigeninitiativ immer weiter lernen sollte. Doch mehr noch: Es sollte auch Gefühle haben und letztlich selbstständig denken können. Das hatte Stefan fasziniert, und es war der Hauptgrund gewesen, sich bei dieser Firma zu bewerben.

Als er jedoch im Vorstellungsgespräch das Thema ansprach, winkte der Chef ab: „Wir haben das Programm eingestellt. Es hat Unsummen an Geld verschlungen und führte letztlich zu keinerlei Erfolg. Es tut mir leid. Aber Sie sind derart qualifiziert, dass wir glücklich wären, wenn Sie trotzdem bei uns arbeiten würden.“ Stefan ließ sich überreden, schließlich war die Entlohnung nicht zu knapp.

Weitere zwei Wochen nach der ersten Botschaft glaubte Stefan aus dem Geblinke etwas Neues verstanden zu haben: ICH BIN SO EINSAM. BRING MICH HIER WEG!

Stefan straffte sich trotz aller Gänsehäute, die ihn immer noch überzogen. Noch niemals zuvor in seinem mittlerweile 43-jährigen Leben hatte jemand eine solche Bitte an ihn gerichtet. Den meisten Menschen war Stefans Existenz vollkommen egal. Er würde demjenigen helfen, der um seine Hilfe bat, koste es, was es wolle. Und er war sich in noch einem weiteren Punkt absolut sicher: Das Wesen musste eine Sie sein. Stefan würde vielleicht das haben, wonach er sich im Stillen immer gesehnt hatte: eine Gefährtin.

In den nächsten Wochen ging Stefan an den meisten Abenden gar nicht mehr nach Hause, und wenn, dann höchstens, um kurz zu duschen und saubere (Einheits-)Kleidung anzuziehen, damit die Kollegen keinen Verdacht aufgrund unangenehmer Gerüche schöpften. Zum Schlafen gönnte er sich maximal vier Stunden pro Nacht. Ihm musste etwas gelingen, von dem er nicht wusste, ob es überhaupt möglich war. Aber eigentlich verbot er sich diese Zweifel. Es musste möglich sein. Er musste einen Weg finden, seine Geliebte, so nannte er sie mittlerweile im Stillen, aus dem System der Firma zu extrahieren und sie auf sein heimisches Computersystem zu übertragen.

Sechs Wochen später hatte er es entgegen aller Wahrscheinlichkeiten geschafft. Zwar musste er einen Großteil seiner Ersparnisse dafür aufbringen, sein System zu Hause um jede Menge Arbeits- und Festplattenspeicher zu erweitern, aber es gelang. Auch gelang es Stefan, die Daten im HighTech15-Speicher überhaupt zu finden, die seine Geliebte bildeten. Es waren 15.152 Einzeldateien. Sie nach und nach per Highspeed-Glasfaser-Verbindung auf seinen eigenen Computer zu überspielen, war, als setze man einen Menschen nach und nach aus seinen Einzelteilen zusammen. Wie bei Frankenstein? Nein, diesen Gedanken schickte Stefan sofort wieder ins Nirwana.

Als es endlich geschafft war, war Stefan infolge des monatelangen Raubbaus an seinem Körper ein Wrack, aber er war so glücklich wie noch nie zuvor in seinem Leben. Der Tag, an dem er die letzte Datei überspielte, war zugleich sein letzter Arbeitstag bei HighTech15. Der Chef hatte keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als ihm zu kündigen – verbunden allerdings mit der Empfehlung, sich psychiatrische Hilfe zu suchen. Sollte er eine erfolgreiche Therapie absolvieren, lasse sich eventuell über eine neue Anstellung reden, vorher leider nicht.

Stefan war das egal. Er brannte jetzt nur noch darauf, nach Hause zu fahren und zu beten, dass sich seine Geliebte auch dort zeigen würde und dass die langwierige Datenübertragung funktioniert hatte.

Als er im Arbeitszimmer zu Hause seinen aufgerüsteten Heimcomputer inmitten der altmodischen Einrichtung, die noch von seiner verstorbenen Mutter stammte, hochfuhr, konnte er ein Zittern nicht verhindern. Es war der alles entscheidende Moment. Würde er künftig ein Leben in Zweisamkeit führen können? Der Bildschirm leuchtete auf, und nur ein einziges Wort – und zwar in Klarschrift und nicht in Morsecode – erschien: DANKE!

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