Von Aniella Benu

 

Der Überschuss an Adrenalin in meinem Blut sorgte dafür, dass ich immer schneller und schneller rannte.
Kurz nur hatte ich überlegt, die U-Bahn zu nehmen, oder den Bus, aber die Vorstellung, an der Haltestelle zu warten, schlossen diese Möglichkeiten sofort aus. Zwei Stationen. Die konnte ich auch zu Fuß … Ich musste Grace da rausholen!
Meine Schritte hallten in meinen Ohren. Sneakers wären leiser, aber Vater sah sie nicht gern im Büro.
Was für ein Blödsinn geht mir nur durch den Kopf?
Es musste die Panik sein. Die Angst vor der bevorstehenden Konfrontation mit ihrer Ehefrau, der Hexe, das Ergebnis einer unglücklichen Liebschaft ihrer Mutter.
Während ich anfing zu keuchen, stieg ihr Gesicht vor meinen Augen auf. Ihre blonden langen Haare, zu Zöpfen geflochten lagen sie um ihren Kopf festgesteckt. Ihr trauriger, ängstlicher Blick.
Wut stieg in mir hoch und nahm mir fast den Atem.
Dieses Miststück hatte ihr die Haare abgeschnitten!
Mühsam unterdrückte ich meine Wut und ballte nur die Hände zu Fäusten, die jetzt ungeduldig die Haustür wegschoben. Dann endlich stand ich vor der Tür ihrer gemeinsamen Wohnung, bis sie öffnete.

Die Hexe.
»Ich werde Grace mitnehmen, geh mir aus dem Weg!«
Sie wich grinsend vor mir zurück, als ich auf sie zustürmte. Das hätte mich schon stutzig machen müssen, aber ich rannte nur blindlings hinein, durchsuchte die Zimmer und kam endlich schwer atmend wieder im Flur bei ihr an.
»Wo ist sie?«, fauchte ich sie an.
»Du kommst zu spät, du Idiot! Ich werde sie dir nie überlassen«, spie sie mir entgegen.
Wutschnaubend, ihre Augen blitzten mich an.
Wo war Grace? Mir wurde übel und ich schluckte verzweifelt die aufkommende Magensäure hinunter.
Sie schnaubte.
»Ich habe sie weggebracht. Du wirst sie nie wiedersehen«, spuckte sie die nächsten hämischen Worte aus. Ihr Blick flackerte dabei.
Ich ahnte, dass das nicht alles war.
Schlagartig brach mir der Schweiß aus und mein Herzschlag schien sich zu verdoppeln. Es hämmerte nur so in meinem Brustkorb. Ich brüllte wie von Sinnen los.
»Ich werde sie finden! Dann ist es vorbei mit deinen Machenschaften. Sie gehört zu mir und du wirst nur noch eine schlechte Erinnerung sein, He Hoka!«
Bei Nennung ihres verhassten Namens kam sie zischend auf mich zu. Ich duckte mich weg, musterte sie geringschätzig.
»Kein Wunder, dass deine Mutter dich so genannt hat. Auf Hawaii nennen sie die Tatsachen direkt nach der Geburt …« Ich grinste, obwohl mir eigentlich nicht danach war, suchte dann aber rasch das Weite.
Weg aus der Wohnung, weg von hier, weg von ihr!
Ihre folgende Schimpftirade nahm ich nur noch am Rande wahr, bis ich schon schwer atmend auf der Straße stand.
Was nun?
Wie konnte ich Grace finden?

Mein Gesichtsausdruck musste Bände sprechen, denn ein vorbeigehender Passant wich erschrocken vor mir zurück, als er mir zufällig ins Gesicht blickte.
Ich beachtete ihn nicht weiter.
Auf dem Weg nach Hause versuchte ich mich zu beruhigen. Meine Nervenbahnen fühlten sich an wie ein Zitteraal im Todeskampf, wüteten in mir gnadenlos.
Ich zwang mich, den Morgen nochmal in Gedanken durchzugehen.
Was wusste ich über He Hoka?
Grace hatte mir nur Bruchstücke erzählt, mehr wusste sie selbst nicht.
Es kam mir wie gestern vor, als Grace vor drei Jahren, frisch verheiratet mit ihrer hawaiianischen Frau, als neue Mitarbeiterin in unserer Anwaltskanzlei auftauchte. Sie lachte viel, war stets auch für einen Scherz zu haben. Was ich sofort an ihr liebte, waren ihre langen blonden Haare. Ich wollte sie unbedingt einmal offen sehen, ihr Gesicht umspielend, und meine Hände darin vergraben. Es faszinierte mich.
Schnell baute sie sich einen guten Ruf auf, was ihre Arbeit anging.
»Sie lösen Probleme schon, ehe sie auftreten, Frau Lailani. Sie sind eine wahre Bereicherung für unser Team«, pflegte der Chef bei jeder passenden Gelegenheit zu sagen.
Doch bald schon konnte ihr selbst das Lob vom Chef kein Lächeln mehr entlocken. Wenn ich sie mit einer Blume vergleichen würde, müsste ich sagen, sie verdorrte allmählich.
Nachdem ich sie behutsam aus ihrem Schneckenhaus gelockt hatte, wollte sie sich mir verzweifelt anvertrauen und tat es schließlich auch.
»Ich dachte, ich hätte einen Sechser im Lotto mit ihr. Sie erschien mir wie ein wahr gewordener Traum. Bis wir geheiratet haben. Nach und nach entwickelte sie sich zu einer wahren Hexe. Sie bewacht mich und versteckt mich in unserer Wohnung. Ich darf gar nichts mehr«, klagte sie mir eines Tages in der Kantine.
»Du darfst ihr das nicht durchgehen lassen«, versuchte ich sie zu überzeugen, damit sie sich wehrte. »Aber was soll ich denn tun?«, wandte sie damals ein.
Als sie mir von ihrem Ex Carsten, vor He Hoka, erzählte, dämmerte es mir, dass meine Chancen nicht so schlecht standen, ihr Herz doch zu erobern und unser Verhältnis änderte sich ab diesem Zeitpunkt.
Natürlich geheim. Wir hatten gemeinsamen Außendienst, kein Problem. Ein Jahr ging alles gut.
Bis heute Morgen.

Nach ihrer überraschenden fristlosen Kündigung beim Chef war sie mit verstrubbelten Haarschopf  panisch davongelaufen. Ihre Haare waren weg! Mir wurde eiskalt bei diesem Anblick. Ihre wunderschönen Haare … Das musste das teuflische Werk der Hexe gewesen sein!
Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass ich handeln musste!
Der Weg zu meinem Vater ähnelte dem Gang zum Schafott, das Gespräch einer kurzgefassten Lebensbeichte. »Grace erwartet ein Kind von mir«, fiel ich mit der Tür ins Haus. »Ich muss mich um sie kümmern. Bitte, Du musst mir jetzt freigeben.«
Mein Vater starrte mich an, hinter seiner Stirn arbeitete es lebhaft.
Nachdenklich lehnte er sich zurück. »Hat sie dir dieses Desaster zu verdanken?«
Ich zuckte zusammen. Konnte es sein …? Shit.
»Vielleicht? Ich weiß es nicht. Ihr Auftritt hier eben hat mich selbst überrascht. Auch das mit dem Baby war nicht geplant, aber noch ist nichts zu sehen. Wir hatten gerade erst begonnen, einen Plan zu schmieden. Die Hexe hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber sie wird es nicht schaffen, uns auseinanderzubringen, das schwöre ich dir.«
Ich presste die Lippen fest zusammen und stand auf. »Ich werde zu ihnen gehen und mit beiden Frauen reden. Ich will Grace mitnehmen. Ihre sogenannte Ehefrau hat sie nur gequält und das schon sehr lange, sonst wäre das nie passiert. Damit muss jetzt Schluss sein!« Entschlossen ging ich zur Tür und griff nach der Klinke.
»Stell dir das nicht so einfach vor, Markus. Vergiss nicht, sie hat ältere Rechte und sie scheint wild entschlossen. Zögere nicht, unter Umständen die Polizei einzuschalten. Und halt mich auf dem Laufenden.«
Ich nickte, ohne mich umzudrehen und verließ die Kanzlei.
Nach dem Zwischenspiel bei He Hoka stand ich endlich vor meiner eigenen Tür.

Kaum zu Hause, warf ich meine Jacke achtlos auf das Sofa, streifte die Schuhe ab und stürzte an meinen Laptop. Mit fahrigen Bewegungen fuhr ich das Gerät hoch und öffnete meinen Ordner über He Hoka. Viel war es nicht, was ich dort vorfand:
Einzelkind, aufgewachsen im Waisenhaus, weil ihre Mutter obdachlos wurde, diese verschwand später, bevor Grace sie kennenlernen konnte.
Ich hatte weder Namen oder Orte von Hawaii, noch später von hier. Spätestens in der Obdachlosenszene versickerten meine Spuren. Ich hatte nur noch He Hoka.
Unschlüssig überlegte ich, ob ich sie beschatten sollte. Etwas anderes blieb mir wohl nicht übrig.

Drei Tage waren schon vergangen, aber die Hexe war lediglich zur Arbeit gegangen und dann zurückgekehrt. Allein kam ich damit auch nicht weit.
Es half nichts, ich musste mich an die Polizei wenden, wie mein Vater mir geraten hatte.
Natürlich wollten die von einer Vermisstenanzeige nichts wissen.
Grace war erwachsen und ich nicht mit ihr verheiratet.
»Es tut mir leid, aber da können wir nichts machen, frühestens in ein paar Tagen und dann müsste ihre Ehefrau diese Anzeige aufgeben, so verstehen Sie doch«, versuchte der zuständige Beamte mir zu vermitteln, dass ihm die Hände gebunden waren.
Enttäuscht und verzweifelt sackte ich mehr und mehr auf dem Stuhl zusammen. Dann erklang eine Stimme hinter mir.
»Bei Gefahr im Verzug und einer Gefährdung einer Schwangeren sollte es aber schon Möglichkeiten geben, oder? Mein ungeborenes Enkelkind könnte schon in größter Gefahr schweben.«
Mein Vater trat in mein Sichtfeld und legte seine Hand auf meine Schulter. Dankbar nickte ich ihm zu. Bevor der Beamte etwas sagen konnte, klingelte der Telefonapparat auf dem Schreibtisch. Er hob ab, meldete sich kurz.

»Grace Lailanu? Ach, Lailani, ja. Was?«
Nachdem er eine Weile zugehört hatte, legte er mit blassem Gesicht auf.
»Die junge Frau liegt im Krankenhaus. Ich gebe Ihnen die Adresse. Es geht ihr und dem Kind gut, sie hat nach Ihnen gefragt …«
Ich riss ihm den Zettel aus der Hand und stürmte mit meinem Vater hinaus.
Kaum zwanzig Minuten später schloss ich Grace erleichtert in die Arme.

»Geht es euch gut?«, flüsterte ich in ihr Ohr und sie nickte nur.
»He Hoka … Markus, sie hat ihre Mutter umgebracht! Sie hat sie in einer alten, verlassenen Industriehalle verhungern lassen. Mich hat sie auch dort hingebracht, in denselben Raum mit der versteckten Tür. Ich sollte ebenso …« Schluchzend fiel sie mir um den Hals und ich strich ihr beruhigend über den Rücken. »Wenn das Rohr nicht so verrostet gewesen wäre, würde ich immer noch dort angebunden sein. Niemand hätte mich gefunden. Dabei war es nicht Mal so weit weg von zu Hause. Dieses Skelett, es war so furchtbar.«
Ich wuschelte mit den Fingern durch ihren kurzen Haarschopf.
»Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das alles war. Dafür sind wir sie jetzt los. Im Knast kann sie dir nichts mehr tun. Dein Chef wird deine Scheidung durchbringen und deine Haare – die kannst du wieder wachsen lassen. Wenn du willst. Mir gefällst du so oder so.«
Das besiegelten wir mit einem Kuss und mein Vater verließ auf leisen Sohlen das Zimmer – um die Scheidungspapiere vorzubereiten.

 

 

 

 

© Aniella Benu 2025

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