Von Michael Voß
„Und das war es für dieses Mal, ihr Lieben“, sage ich, winke mit dem Föhn und mache einen Kussmund. Dann schalte ich Kamera und Ringlicht aus, schneide das Video zurecht und lade es schließlich auf meinen Social-Media-Kanälen hoch.
„Ganz schön viel Arbeit für einen Spot“, sagt Diana, die mir seit Stunden dabei zusieht.
„Ja, aber andere müssen auch den ganzen Tag arbeiten, ob Verkäuferin, Bauarbeiter oder Journalistin wie du“, sage ich und frage: „Möchtest du noch einen Kaffee, bevor wir beginnen?“
Diana strahlt. „Sehr gern!“ Sie schaltet ihren Audiorecorder ein. „Online-Magazin StyleVamp, Interview, 07. März. Ich bin heute bei Raphaela, einer erfolgreichen Influencerin, deren Followerzahlen gerade durch die Decke gehen. Raphaela, du bist bekannt unter dem Namen Rapunzel und hast einen Eintrag im Guinness Buch der Rekorde für das längste Haar der Welt. Mit deinem Fokus auf Haarpflege triffst du den Nerv von Millionen von Frauen. Auf deine Empfehlungen, so heißt es, kann man sich verlassen. Doch immer wieder fragen sie, ob deine unglaublich langen Haare echt sind.“
„Das beglaubigte Klinikgutachten findet sich auf meiner Website. Wer sich lieber selbst überzeugen möchte, der kann im Juni zum ersten Rapunzel-Contest kommen. Da stehe ich im Fenster des alten Stadtturms und einige Männer werden versuchen, an meinen Haaren zu mir hochzuklettern. Ich werde mit dem Veranstalter sprechen, ob wir nicht einigen Zweiflern die Gelegenheit geben können, sich von der Echtheit meines Schopfs zu überzeugen.“
„Kritiker sagen, der Wettbewerb diene nur dem Stadtmarketing und deiner Selbstinszenierung.“
„Stadtmarketing stimmt, aber was ist daran auszusetzen? Den Vorwurf der Selbstinszenierung zu widerlegen ist praktisch unmöglich, denn Neider und Unzufriedene sehen nur das, was sie sehen wollen. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass sämtliche Einnahmen der Aktion an die Tafel unserer Stadt fließen.“
„Ein guter Punkt. Apropos: Du spendest Monat für Monat die Hälfte deines Einkommens an ein Herz für Kinder. Manche Stimmen sagen, dass sei gelogen und du würdest es nur posten, um mehr Follower zu gewinnen.“
„Ich zeige jedem gern meine Steuererklärung und alle Spendenquittungen.“
„Du könnest in Luxus leben. Deine Zweizimmer-Wohnung ist megastylish, aber sehr bescheiden, was die Größe angeht. Warum gönnst du dir nicht mehr und warum spendest du so viel?“
„Ich bin mit viel weniger aufgewachsen und glücklich mit dem, was ich habe. Vor allem möchte ich Kindern helfen, die in schwierigen Verhältnissen leben so wie ich es musste.“
„Was war denn schwierig für dich als Kind?“
„Nun, bis zu meinem, hm, Rauswurf war ich gefangen in einem einzigen Zimmer. Genau gesagt, waren es ein Zimmer, ein Bad und ein Balkon. Später auch noch die Küche. Trotzdem war es praktisch Einzelhaft.“
„Warum haben deine Eltern das gemacht?“
„Meine Mutter wollte mich vor der schrecklichen Welt da draußen bewahren. Deswegen bekam ich auch keinen Besuch.“
„Und dein Vater?“
„Den habe ich nie kennengelernt.“
„Du warst also komplett isoliert, hast nie mit anderen Kindern gespielt, nie Gras unter deinen Füßen gespürt, nie einen Zoo besucht?“
Ich nicke stumm.
„Was war mit Schule?“
„Keine Schule, kein Internet, kein TV. Handy sowieso nicht. Bis vor kurzem konnte ich weder lesen noch schreiben.“
„Wer hat dich behandelt, wenn du mal krank warst?“
„Meine Mutter. Sie war – sie ist eine merkwürdige Frau mit seltsamen Talenten. Ich möchte das Folgende nicht veröffentlicht wissen, weil es niemand glauben wird.“
Diana schaltet den Recorder aus und legt ihrem Notizblock zur Seite.
Ich atme tief durch. „Sie hat Medizin selbst gemacht. Nicht die einfachen Kräutertees, an die du jetzt vielleicht denkst. Sie hat allerlei Zeug zusammengerührt, auch verbrannte Dinge, gemahlene Knochen und mir völlig unbekannte Substanzen. Das wurde destilliert oder im Vollmondlicht umgerührt und sonst was. Obendrein hat sie das Zeug besprochen, so wie sie auch Warzen besprochen hat.“
„Das hat funktioniert?“, fragt Diana misstrauisch.
„Und wie. Viele Leute sind zu ihr gekommen. Durch mein Schlüsselloch habe ich gesehen, wie sich eine halbtote Frau aus dem Rollstuhl erhoben hat.“
„Unglaublich!“
„Sag ich ja.“
„Ich gebe zu, ich habe Zweifel. Aber wenn sie eine so fantastische Heilerin ist, warum spricht sich das nicht rum?“
„Unter den unheilbar Kranken und anderen Verzweifelten spricht es sich durchaus rum. Aber die hängen es nicht an die große Glocke, aus Angst, ausgelacht oder für verrückt erklärt zu werden.“
„Und deine Mutter? Warum macht sie es nicht publik? Sie könnte reich und berühmt sein!“
Ich zucke mit den Schultern. „Vermutlich hat sie Angst, dass ein Mob sie auf den Scheiterhaufen stellt. Vielleicht fürchtet sie sich auch vor einem Attentäter, denn wahrscheinlich hat sie ´ne Menge Leute umgebracht.“
„Wie bitte?“
„Zum Beispiel sind Frauen zu ihr gekommen, die ihre Männer loswerden wollten. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber ich habe Worte gehört wie Bannkreis, nicht nachweisbares Gift und Todesfluch. Ich bin sicher, sie ist eine Hexe. Eine mit einer hellen und einer finsteren Seite.“
Diana sitzt eine Weile still da. Schließlich sagt sie: „Nehmen wir an, es stimmt. Selbst wenn du nichts dagegen hättest, kann StyleVamp das unmöglich bringen. Wir würden unsere Glaubwürdigkeit verlieren. Trotzdem möchte ich selbst noch etwas zu deiner Mutter wissen. Hat sie deine Haare verzaubert? Du sagst, sie wachsen eine Elle pro Woche?“
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht war es auch ein Trank, keine Ahnung.“
„Vermutlich willst du ihren Namen und Adresse nicht preisgeben?“
„Beides wüsste ich selbst gern.“
„Echt? Du weißt nicht, wo du aufgewachsen bist? Wie kommt das?“
„Ich war sechzehn und lehnte wie so oft am Balkongeländer, als jemand „Hallo, du da oben“ rief. Es war ein Junge. Er stand auf dem Balkon unter unserem und hieß Mehmet. Es dauerte Wochen, bis ich mich traute, mit ihm zu sprechen. Irgendwann ließ ich mein Haar runter und er knotete ein kleines Geschenk an eine Strähne. Später eine Strickleiter, die ich hochzog und am Geländer einhakte. Es war echt mutig, in dieser Höhe daran hochzuklettern, aber er hat´s getan. Immer wieder. Als wir uns das erste Mal küssten, glaubte ich, ich sei im Himmel. Bis meine Mutter uns erwischte. Ich dachte, sie schmeißt ihn raus und zwingt mich, Alptraumsaft zu trinken, wie immer, wenn ich ihr nicht gehorcht habe …“ Ich schlucke und greife nach einem Taschentuch. „Doch sie hat gelächelt und Mehmet ein Getränk angeboten. Es war gespenstisch. Kaum hatte er es getrunken, wurden seine Augen glasig. Sie hat ihm was ins Ohr gewispert, worauf er auf die Balkonbrüstung geklettert und ohne ein Wort ins Leere gesprungen ist. Ich war völlig fertig. Meine Mutter hat mich gepackt, aus der Wohnung gezerrt und in den nächsten ICE gesetzt. Kurz vor der Abfahrt ist sie raus aus dem Wagen. Da saß ich, in meinem rosa Prinzessinnenkleid, völlig überfordert von dem Geschehenen und der total unbekannten Umgebung. Denke, ich war in einem Schockzustand. Irgendwann kam ein Fahrkartenkontrolleur. Er hat mich der Polizei übergeben – logisch, kein Fahrschein, kein Ausweis, kein Nichts. Am Ende bin ich in einem Heim gelandet, was ein großes Glück für mich war. Meine Betreuer haben sich voll für mich reingehängt. Ich bekam einen Ausweis – ein Riesentheater so ohne Geburtsurkunde – lernte lesen und schreiben. Sie haben versucht, meine Mutter ausfindig zu machen, wenn auch ohne Erfolg. Den Rest kennst du. Dank Internet stehe ich mittlerweile auf eigenen Füßen, indem ich Haarpflegeprodukte teste und das empfehle, was ich gut finde – vom Shampoo über Farben bis zum Kamm.“
„Das ist sehr beeindruckend. Was fühlst du, wenn du an deine Mutter denkst?“
„Dazu möchte ich nichts sagen.“
Diana nickt verständnisvoll. „Und was, wenn du an …?“
„Schon gut“, sage ich: „Ich vermisse Mehmet, dem ich unendlich dankbar bin. Sein Tod hat mir ein lebenswertes Dasein ermöglicht.“ Dann breche ich in Tränen aus.
—
Zwei Tage nach dem Rapunzel-Contest – einer echt gelungenen Veranstaltung – habe ich meine Haare wieder auf eine alltagstaugliche Länge gekürzt und will mir ein Bad einlassen, da klingelt es an der Wohnungstür.
Draußen steht Mehmet. „Hallo Raphaela!“
Mir sackt der Kreislauf weg.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Sofa.
„Ich dachte, sowas gibt´s nur im Film“, ächze ich.
„Dass Frauen ohnmächtig werden?“, grinst Mehmet.
„Nein, dass Tote auferstehen. Wie hast du den Sturz überlebt? Fünfter Stock, das sind …“
„Knapp fünfzehn Meter. Beim Fall normalerweise tödlich. Aber es war Straßenfest und wie immer stand die große Hüpfburg an unserem Haus. Ich hab´ nicht mal ´ne Schramme abgekriegt.“
„Wie hast du mich gefunden?“
„Meine Schwester folgt dir auf YouTube. Das wusste ich nicht, bis sie mir gestern das Video vom Contest zeigte. Hab´ dich sofort erkannt.“
Ich kann nicht anders, ich muss Mehmet anfassen, um es zu glauben, dass er es wirklich ist. Dann muss ich heulen. Dann muss ich ihn küssen, um zu fühlen und zu schmecken, ob er es wirklich ist. Dann muss ich raus, um mich zu bewegen. Eine Stunde lang latschen wir durch die Straßen, bis ich wieder bei mir bin. Dann gehen wir wieder zu mir. Nein. Ich gehe nicht. Ich schwebe.
—
Ein Jahr später.
Mehmet und ich haben jetzt Eheringe. Und Zwillinge, ganz klein noch und total süß.
Von Mehmet weiß ich, dass meine Mutter sich gleich an jenem schrecklichen Tag aus dem Staub gemacht hat. Sie ist bis heute unauffindbar.
Vermutlich ist sie auch nicht meine echte Mutter.
Mehmet glaubt, dass sie mich nach meiner Geburt aus dem Krankenhaus geklaut hat. Er hat die Kliniken meiner Heimatstadt abgeklappert und gefragt, ob vor zweiundzwanzig Jahren ein Baby namens Raphaela verschwunden sei. Leider hat keiner was gesagt, wegen des Datenschutzes. Aber Mehmets Kusine arbeitet im Stadtkrankenhaus und sein Schwager kennt da wen beim Standesamt. Vielleicht finden wir es doch noch heraus.
Es wäre cool, richtige Eltern zu haben.
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