Von Matthias Herrmann

 

Wenn es im Elterninitiativkinderladen Kiezflöhe in Berlin-Moabit um das freie Rollenspiel ging, dann war Maya grundsätzlich die Bestimmerin. Sie legte fest, welches Kind welche Rolle zu bekleiden hatte, und, noch entscheidender, bestimmte, welches Spiel überhaupt gespielt wurde: Vater, Mutter, Kindchen oder Cowboy und indigene Ureinwohner oder Lego oder Playmobil oder Verkleiden. Und so war es auch an diesem legendären Montagvormittag, dass Maya entschied: „Wir spielen Rapunzel! Das Märchen, das Arnim uns heute im Morgenkreis vorgelesen hat.“

Arnim war der Erzieher, der gemeinsam mit seiner Kollegin Waldtraut das Pädagogenteam der Kiezflöhe bildete.

„Sorrel, du bist die böse Zauberin. Linus, du bist der Prinz. Milan und Charlotte, ihr seid die Eltern von Rapunzel“, verkündete Maya.

„Und wer spielt Rapunzel?“, fragte Sorrel.

„Ich!“, erklärte Maya.

„Typisch. Du suchst dir immer die beste Rolle aus“, maulte Sorrel.

„Ich passe einfach am besten! Ich habe auch die längsten Haare“, erwiderte Maya.

„Pfff!“, machte Sorrel nur, denn es stimmte ja. Leider. Maya hatte das längste Haar; fast wie das ihrer Erzieherin Waldtraut, die das ihre in zig dünne Rastazöpfe geflochten trug. Ein Mitbringsel aus ihrem Jamaika-Urlaub vor vier Wochen.

Doch auch Mayas Haar reichte den ganzen Rücken hinab und konnte von ihrer Großmutter zu einem gigantischen, seilfesten Zopf geflochten werden. So wie heute.

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Später konnten sich weder Waldtraut noch Arnim erklären, wie die große Bastelschere, die eigentlich immer im Erziehermaterialschrank unter Verschluss war, auf die obere Spielebene gelangen konnte. Die Schere hatte dort nichts zu suchen, galt als zu gefährlich, durfte nur unter Aufsicht von den Kindern geliehen und benutzt werden. Anders als in den Anfangsjahren der Kiezflöhe im vorherigen Jahrhundert, als die Kids sogar noch mit Feuerzeugen, Kerzen und Streichhölzern nach Lust und Laune hantieren durften, bis einmal die Mansarde fast abgebrannt war.

Arnim und Waldtraut planten gerade den Ablauf der Woche: Yoga am Dienstag, Malen am Mittwoch, Trommeln am Donnerstag, als gegen 11 Uhr dreißig ein spitzer Schrei durch den Raum gellte, der in maßloses Weinen und verzweifeltes Schluchzen überging.

„Einer heult immer!“, sagte Arnim, stemmte sich vom Gruppentisch hoch, um nachzusehen, welches Drama sich auf der Spielhochebene zugetragen hatte.

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Pia, Mayas Mutter, war ganz aufgeregt, als sie die Voicemail von Arnim auf ihrem Handy entdeckte, sie solle sich doch bitte mal schnellstmöglich bei ihm melden. Es gäbe im Kinderladen ein Problem. Sollte sich jetzt endlich ihr geheimster Wunsch erfüllen, der sie letztlich veranlasst hatte, in den Elternvorstand der Kiezflöhe einzutreten? Denn sie wollte Arnim näher sein. Näher als all die anderen Mütter und Väter. Ja, es war schon ein morgendliches Hauen und Stechen der Eltern um Arnims Aufmerksamkeit, seine Gunst, wenn die Kinder abgegeben wurden.

„Ruben hat heute Morgen etwas geniest. Kannst du das im Auge behalten, Arnim?“

„Du, Arnim, ich lege ein zweites Sabbertuch in Charlottes Fach.“

„Hier in der Box sind Linus Spaghetti Bolognese. Achtet bitte darauf, dass nur er sie bekommt. Er mag den Sauerkrautauflauf ja nicht so.“

Arnim nickte dann verständnisvoll nach allen Seiten, brummte „Freilich! Freilich!“ mit seinem gutturalen schwäbischen Zungenschlag, strich den Kindern über den Kopf und lächelte den besorgten Müttern und Vätern freundlich zu. Denn natürlich zwickte die Eltern das schlechte Gewissen, ihre Kinder in fremde Hände zu geben, und sie kompensierten dies mit übertriebener Fürsorglichkeit. Doch kaum hatten sie die Tür der Kiezflöhe hinter sich zufallen lassen, waren sie frei und radelten munter zu ihren Jobs in den Ministerien und Agenturen, wo sie das Vier- bis Fünffache von Arnim und Waldtraut verdienten.

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Pia fand Arnim schon beim Aufnahmegespräch für ihre Tochter Maya einfach rattenscharf mit seiner wallenden Mähne, seinem Gitarre-Spiel und seinen wässrig blauen Augen hinter der altertümlichen Herrmann-Hesse-Brille. Jeden Morgen freute sie sich auf seinen Anblick. Es gab das Gerücht, dass Arnim gerne Mütter zu Einzelgesprächen in seine kleine Datsche in die Lehrter Straße einlud. Das sich gewisse Konflikte und Meinungsverschiedenheiten nach solchen Besuchen in Luft auflösten. Würde er sie irgendwann einmal zu einem Einzelgespräch einladen?

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Tillmann, der 1. Vorsitzende und sie, Pia, hatten dann die Sitzung kurzfristig anberaumt. Pia hatte sich eigentlich wegen Befangenheit enthalten wollen, doch Tillmann hatte darauf bestanden, dass sie in ihrer Rolle als 2. Vorsitzende teilnahm. Und so saß sie jetzt mit Arnim, Waldtraut und Tillmann auf der einen Seite des Gruppentisches den übrigen Eltern wie zum Beispiel Tanja und Edgar gegenüber. Auch einige Kinder waren dabei, die durften in der Mansarde spielen und sollten dann bei Bedarf zur Befragung hereingeholt werden.

„Können wir mal anfangen?“, sagte Edgar.

„Ich find´s grundsätzlich gut, dass ihr eine Sitzung einberufen habt. Darüber reden ist immer gut. Ist halt sehr kurzfristig“, warf seine Partnerin Tanja ein.

„Ja, wir fanden es auch wichtig“, erklärte Tillmann.

„Wie geht´s denn jetzt der Maya? Das tut mir so leid für sie“, fragte Edgar.

Pia spürte alle Blicke auf sich. Sie musste jetzt die betroffene Mutter geben: „Ich danke euch für eure Anteilnahme“, sagte sie, ohne aufzublicken. „Sie wird darüber hinwegkommen. Hoffe ich.“ In das Schweigen warf jetzt Arnim ein: „Es wächst ja nach.“

„Du, das finde ich der Situation jetzt echt nicht angemessen, Arnim. Das ist doch ein traumatisches Erlebnis für Kind und Mutter. Oder Pia?“, sagte Tanja. Pia hatte sich bei Arnims Einwurf ein Lächeln verkneifen müssen. Sie biss sich auf die Zunge und nickte mit ernster Miene. Tanja ergriff über den Tisch Pias Hand und tätschelte sie, ja, hielt sie fest, als sie sie zurückziehen wollte.

„Was ist denn jetzt genau passiert?“

Doch gerade als Waldtraut ansetzen wollte, um den Vorfall zu schildern, warf Tanja ein, dabei den Griff um Pias Hand lösend (Puh!): „Wäre es nicht am besten, wenn das die Kinder selbst schildern? Aus ihrer Sicht, Pia? Magst du nicht mal Maya hereinbitten?“

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„Wir haben einfach das Märchen nachgespielt. Sorrel war halt die böse Stiefmutter und musste mir die Haare abschneiden“, erklärte Maya mit ruhiger Stimme und streckte der Elternversammlung ihren langen und dicken Zopf entgegen. Beim Anblick des abgetrennten Haares hörte man aus den Reihen der Eltern ein Raunen.

„War das nicht schlimm für dich?“

„Na, ja. Es gehört halt zum Spiel. Wir hatten das so ausgemacht.“

„Und ihr hattet ausgemacht, dass Sorrel schneidet?“

Maya zuckte mit Schultern und nickte kaum merklich.

„Und bist du der Sorrel noch böse?“ 

Es entstand eine Pause. Schließlich schüttelte Maya den Kopf. Die Eltern blickten sich an.

„Das ist sehr, sehr großherzig von dir. Weißt du das, Maya?“

„Da könnte sich so mancher Erwachsene eine Scheibe abschneiden“, witzelte Edgar bemüht.

Pia merkte, wie ihr die Augen feucht wurden. Meine Maya! Meine Tochter! Team Pia!

„Du bist ein großartiges Mädchen“, sagte Tillmann.

„Habt ihr noch Fragen? Dann kannst du wieder zu den anderen Kindern, Maya. Okay! Tschüss!“

Nachdem Maya das Elternplenum verlassen hatte, war die Luft raus.

Tanja wagte zwar noch einen Anlauf: „Märchen finde ich echt zu brutal. Wir sollten das mal grundsätzlich besprechen. Unabhängig von dem, was heute vorgefallen ist. Was meint ihr?“

„Kinder brauchen Märchen!“, erklärte Pia und zog den gleichnamigen Titel von Bruno Bettelheim aus ihrem Rucksack hervor. Arnim wandte sich um und zwinkerte ihr zu.

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Beim Rausgehen wandte sich Tanja direkt an Pia: „Wir hatten schon Angst, dass unsere Sorrel die Kiezflöhe verlassen muss. Wo du doch im Vorstand bist. Und es dein Kind ist, Pia.“

„Ach. Macht euch mal keine Sorgen“, erwiderte Pia und strich Tanja und ihrem Mann Edgar über den Rücken.

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Auf dem Heimweg, als sie schon fast zu Hause waren, wurde Pia angepingt. Es war Arnim: „Du Pia. Wir sollten das Thema Märchen noch mal durchsprechen. Magst du am Samstag auf einen Kaffee vorbeikommen? In meine Datsche. Würde mich freuen!“

YES! Pia jubelte, gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Kurzhaarfrisur – die ihr eh viel besser gefiel als der spießige Langhaarlook – und klatschte ihre Tochter ab.

„Mein tolles Mädchen!“, jubelte sie in die Nacht.

„Aber wir bestellen gleich mein Smartphone, Mama. Du hast es mir versprochen, wenn ich kein Theater mache!“

„Freilich, mein Schatz! Freilich!“, rief Pia. Und Maya ließ den Zopf wie ein Lasso über ihrem Kopf durch die Nacht sausen.

„Jippie! Mein erstes Smartphone!“

 

V2 – 8611